21 - Matthi
Es war Freitagnachmittag und Raphael stand an der Bushaltestelle. Neben ihm telefonierte Herr Marrlach, es blieb noch eine gute halbe Stunde. Bisher hatte Raphael die Zeit damit verbracht, nicht zu Matthis Haus herüberzusehen.
Außerdem hatte er versucht sich einzureden, dass er sich keinesfalls absolut kindisch benahm. Was zu neunundneunzig Prozent der Fall war. Das Problem bestand darin, dass Raphael Matthi seine Socken nicht zurückgeben wollte.
Nachdem er die Socken in der schlammgefüllten Senke von Thomys Großeltern ertränkt hatte, hatte Raphael eine geschlagene Stunde gebraucht, um alle kleinen Ästchen und Blattstückchen aus der verfilzten Wolle zu sammeln.
Anschließend waren sie an die Wäscheleine gekommen, bis ihm am nächsten Tag aufging, dass sie immer noch bräunlich grünlich aussahen und keinesfalls so blau wie am Mittwochnachmittag. Deswegen hatte Raphael die Socken kurzerhand in die Waschmaschine verfrachtet und anschließend eine böse Überraschung erlebt.
Am Mittwochnachmittag hatten Raphael die Socken noch gepasst, jetzt waren sie eingelaufen. Außerdem rochen sie nicht länger nach Matthi, sondern hatten den beinahe schon beißenden Geruch des Waschmittels angenommen.
In der Schule war er schon kurz davor gewesen Juna nach Matthis Handynummer zu fragen, denn dann hätte er ihm die Nachricht immerhin nicht persönlich überbringen müssen.
Andererseits war Matthi das Einlaufen seiner Socken wahrscheinlich vollkommen egal. Deswegen war es ja auch so unfassbar kindisch, wie Raphael sich hier aufführte. Er kickte mit seiner Schuhspitze einen Stein über die Bordsteinkante und ärgerte sich darüber, dass er einfach nur liegen blieb.
Aber irgendwo bestand eben auch diese kleine Chance, dass Raphael Matthis Lieblingssocken geschrumpft hatte.
Er stöhnte leise auf, gab sich einen Ruck und sah zu dem Haus hinüber. Nichts war zu erkennen bis auf ein leichtes Zucken von Lissas Vorhängen. Raphael wandte sich wieder den Pflastersteinen zu. Was hatte er denn auch erwartet? Dass Matthi am Küchenfenster stand und zu ihm hinüberschaute?
Raphael schüttelte entschieden den Kopf und stellte die Musik lauter. Kurz rang er mit sich selbst, dann sah er zu allen Seiten und überquerte die Straße. Herr Marrlach stockte kurz, sprach dann aber weiter. Raphael ignorierte den fragenden Blick im Rücken. Seine Hand ruhte kurz auf dem Gartentor, dann stieß er es auf. Stur sah er am Briefkasten vorbei, die Socken einfach so abzugeben wäre unhöflich gewesen.
Das durch die Haustür gedämpfte Klingeln ertönte, Raphael wusste selbst nicht genau, warum er plötzlich nervös wurde. Frederik oder Matteo, er konnte nicht genau erkennen wer, lugte durch das Seitenfenster neben der Tür. Kurz darauf wurde sie aufgerissen. „Hallo Löffelmeister!", grinste ihm einer der beiden entgegen.
„Hi Frederik", versuchte Raphael seine fünfzig-fünfzig Chance zu nutzen. Frederiks Augen wurden rund. „Woher wusstest du das?", fragte er verblüfft. „Der Löffelmeister weiß alles", gab Raphael zurück und sah an Frederik vorbei nach oben.
„Ist dein Bruder da? Ich muss ihm noch etwas geben." „Matthi?", fragte Frederik und stellte sich auf Zehenspitzen. „Der Matteo ist nämlich noch mit der Mama beim Seelenarzt."
„Seelenarzt? Okay, nein ich-", sagte Raphael verlegen und fasste sich an den Hinterkopf. „Ich meinte Matthi." „Der ist oben. Aber eben war noch ein Junge da und den hat er weggeschickt."
Frederik senkte seine Stimme. „Er ist richtig böse geworden." „Aha", machte Raphael und etwas in seinem Bauch zog sich schmerzhaft zusammen.
„Es dauert aber auch nicht lange, ich muss ihm nur ganz kurz etwas geben." Frederik nickte eifrig. „Gut, dann hole ich ihn mal", krähte er und zeigte dann auf die Haustür. „Ich darf die aber eigentlich nicht offen lassen wenn Mama und Papa nicht da sind. Passt du auf, dass niemand einbricht?"
Raphael runzelte die Stirn. „Ja, klar. Ich pass auf. An mir kommt niemand vorbei." Nervös wechselte er vom einen Bein aufs andere. Jeder Einbrecher hätte ihn nur anstupsen müssen, um ins Haus zu gelangen.
Frederik atmete erleichtert aus, dann stürmte er auf allen Vieren die Treppe hoch. Raphael schmunzelte, er hatte das früher auch immer gemacht und es erst vor wenigen Monaten erneut ausprobiert nur um festzustellen, dass er inzwischen zu groß dafür geworden war.
Von oben hörte er Frederiks hohe Stimme, dann Matthis knappe Antwort in deutlich tieferer Tonlage. „Er ko-homt!", rief Frederik enthusiastisch und war schon wieder auf dem Weg nach unten. „Mama wir dir dankbar sein. Matthi trägt nämlich schon seit drei Tagen-" „Freddie, wag es nicht!", dröhnte Matthis Stimme von oben und Frederik kicherte. Dann erschien sein großer Bruder oben auf der Empore.
„Hi Raphael." Raphael biss sich auf die Unterlippe. „Hi", brachte er hervor und vergaß vollkommen in seinem Rucksack nach den Socken zu suchen. Erst als ihm die plötzliche Stille bewusst wurde, kamen ihm die Socken wieder in den Sinn. „Ich-", brachte er hervor und stockte. „Ich hab noch die Socken die du mir geliehen hast. Die blauen."
Matthis Blick glitt in die Ferne, er runzelte Stirn. Langsam ging er die letzten Stufen herunter, sein T-Shirt war auf links gedreht, außerdem trug er es falsch herum.
Raphael konnte sich ein Grinsen kaum verkneifen. Dann erhellte sich Matthis Miene. „Stimmt, die Socken! Haben die dir überhaupt gepasst?" Raphael sah zerknirscht zu Boden. Das Problem bestand jetzt vielmehr darin, dass sie ihm nunmal nicht mehr passten.
Frederik stand immer noch zwischen ihnen und sah belustigt zu seinem großen Bruder hinauf. „Matthi?" „Ja mein kleiner Krieger?"
Matthi ging in die Knie und verstrubbelte Frederik die Haare. Dann sprang Frederik seinem Bruder plötzlich entgegen und zog an dem Schildchen, das vorne festgenäht war. „Du hast ein Fax bekommen!", rief er vergnügt und zog noch einmal an dem Aufnäher.
Raphael schmunzelte, Matthi fuhr sich mit der Hand über die Stirn. „Ein Fax zwei Fax drei Fax vier Fax", zählte Frederik und drehte sich breit grinsend zu Raphael um. Bei jeder Zahl schlug er seinem Bruder gegen das Bein. Matthi sah Raphael entschuldigend an.
„Das ist so ein Familiending. Nach zehn Sekunden ist man Faxenkönig und muss dann eine ganze Woche lang gute Laune verbreiten." Er schob Frederik von sich weg und zog in einer fließenden Bewegung das T-Shirt über den Kopf. Raphael biss sich auf die Zungenspitze und zog sich mit einer fahrigen Bewegung den Rucksack von den Schultern.
Als er wieder aufsah war Frederik bei neuneinhalb angelangt und Matthi trug sein T-Shirt wieder richtig herum. Jetzt war das Logo eines augenscheinlich englischen Surfclubs zu sehen. Matthi verpasste seinem Bruder einen zärtlichen Kneifer in die Nasenspitze, dann erhob er sich wieder. Raphael hatte unterdessen die Socken wiedergefunden.
„Hier, frisch gewaschen", murmelte er und streckte sie ihm entgegen. „Danke nochmal fürs Leihen." Matthi nahm sie entgegen. „Kein Problem." Raphael holte tief Luft. „Da gibt es nur noch ein kleines Problem." Er straffte die Schultern, es kam ihm immer noch merkwürdig vor, dass Matthi so groß war. Normalerweise war sein Vater mit der einzige, der ihm geradewegs in die Augen sehen konnte.
„So lange es ein kleines Problem ist", erwiderte Matthi und zog seinen rechten Mundwinkel hoch. „Klein trifft es wirklich ganz gut", begann Raphael. „Wie gesagt habe ich die Socken gewaschen und jetzt sind sie wahrscheinlich etwas zu klein." Er räusperte sich verlegen. „Wie gesagt, das war keine Absicht. Ich hab zu Hause immer Hausschuhe und die normalen So-" Raphael spürte wie er rot wurde. „Ist ja auch egal. Jedenfalls hatte ich keine Ahnung, dass man die nicht so heiß waschen kann."
Es dauerte einen Moment, dann zuckte Matthi mit den Schultern. „Kein Problem, wirklich." Er lachte. „Vielleicht passen sie jetzt ja Freddie und Matteo." Erleichtert atmete Raphael aus, plötzlich schienen ihm die Luft klarer und der Raum größer. „Gut", bemerkte er und warf einen schnellen Blick auf seine Armbanduhr. Die Zeit war schneller vergangen, als er gedacht hatte.
„Kommt dein Bus jetzt?" Raphael sah auf und meinte fast, so etwas wie Enttäuschung in Matthis Gesicht zu erkennen. „Ja, genau", bemerkte er. „In fünf Minuten. Das letzte Mal hab ich ihn fast verpasst, deshalb..." Er ließ den Satz unvollendet, aber Matthi nickte. „Du kannst auch noch bleiben. Wenn meine Mutter mit dem Auto wieder da ist könnte ich dich hochfahren. Du schuldest uns noch ein Abendessen."
Das blau seiner Augen wirkte plötzlich noch eisiger als sonst. Nicht abweisend eisig, sondern schmelzend glänzend glitzernd eisig. Raphael stockte, wollte schon zusage, als ihm Rica einfiel. „Wirklich gerne, aber ich fahre freitags immer mit meiner Freundin zusammen Bus und wenn ich ihr jetzt absage dann", Raphael verhaspelte sich und gab es schließlich auf.
„Aber danke für das Angebot, wirklich." Matthi winkte ab. „War bloß so eine Idee. Aber wenn du lieber mit deiner Freundin Busfahren willst, hab ich vollstes Verständnis."
Matthi sprach mit einer solchen Ernsthaftigkeit, dass Raphael einen Moment brauchte, bis er seine Anspielung verstand.
Er verdrehte die Augen und legte den Kopf in den Nacken. „Meine beste Freundin", sagte er betont, „hat einen Freund." „Ui ui ui", machte Matthi und sah ihn mitleidig an. Trotzdem hatte Raphael das Funkeln seiner Augen bemerkt. „Jaah, ui ui ui", gab er zurück und warf einen weiteren Blick auf die Uhr.
„Bis nächste Woche Freitag vielleicht", sagte Raphael vorsichtig und beobachtete ihn genau. Matthi verzog das Gesicht. „Nächste Woche ist mündliches Abi, du hast Freitag und Montag und Dienstag frei." „Oh." Raphael verzog das Gesicht. „Ich dachte du hättest... Naja die Schule geschmissen", sagte er zögerlich.
Matthi nickte. „Hab ich auch. Ich hab kein mündliches Abi, nur...", er nickte und streikte die Arme durch. ,,Nur meine Freunde." Eine kurze Stille trat ein, Raphael versuchte, sich sein Unverständnis nicht ansehen zu lassen.
„Dann vielleicht übernächste", bemerkte Matthi. „Außerdem gehe ich davon aus, dass Juna uns noch einmal zu einer Lagebesprechung zwingen wird."
Raphael zog die Schultern hoch und nickte. „Da hast du wahrscheinlich Recht." Er deutete in Richtung Tür. „Aber jetzt muss ich wirklich. Das letzte Mal bin ich wie ein Verrückter hinter dem Bus langgelaufen, bis der Fahrer das bemerkt und mich reingelassen hat." Matthi zeigte ihm ein halbherziges Lachen und Raphael kam plötzlich wieder der Tag des Unfalls in den Sinn. Als es Matthi gewesen war, der dem Auto bis zur Kurve hinterherlief.
In seinem Bauch krampfte sich etwas zusammen. Es war erstaunlich, wie oft er noch an den Tag des Unfalls zurückdachte. Wie viele Dinge einen daran erinnern konnten. Er mochte sich gar nicht ausmalen, wie das war, wenn man einen Menschen aus seinem Umfeld verlor.
Vielleicht erinnerte Matthi sein eigenes Gesicht an das seiner Schwester. Oder die Stimme seiner Brüder. Ihre Zimmertür, die seiner direkt gegenüber lag. Raphael schluckte, Matthi sah durch die geöffnete Haustür nach draußen auf die Straße.
Neben Herr Marrlach und dem verrosteten Bushaltestellenschild blitzte das grelle Grün des Fußballs durch die Straßenbegrünung hindurch. Warum warf Matthi den Fußball nicht weg? Warum ließ er ihn dort liegen obwohl ihn sein Anblick an alles erinnern musste?
„Dein Bus kommt", sagte Matthi tonlos. „Oh", machte Raphael wieder und schulterte seinen Rucksack. „Schönes Wochenende", rief er im Vorbeigehen und hastete zum Gartentor.
•••
Als Raphael den Bus betrat blickte er prüfend zu Rica herüber. Sie saß auf ihrem Stammplatz und hielt mit ihrer Tasche Raphael Platz frei. Allerdings war ihr Blick lächelnd auf ihr Handy gerichtet. Erleichtert durchquerte Raphael den Bus und ließ sich neben sie fallen. Sie hatte anscheinend nicht bemerkt, dass er erst im letzten Moment aus Matthis Haus gestürmt war.
„Hi", begrüßte sie ihn lediglich mit einem kurzen Blick über den Displayrand. „Ist das Lukas?", fragte Raphael und beugte sich zu ihr herüber. „Ja", gab sie zu und schaltete das Handy aus noch bevor Raphael einen Blick auf ihn erhaschen konnte.
„Meine letzte Stunde ist ausgefallen, dann bin ich noch schnell bei ihm vorbei." Sie lächelte wieder. „Habt ihr... naja euch jetzt geklärt?", fragte Raphael zögerlich. Rica lächelte noch breiter. „Ja und ich fühle mich so an als würde ich gleich platzen."
Sie atmete lautstark ein und wieder aus und ähnelte dabei einer dieser weiblichen Models, die im Fernsehen für Yogamatten warben. „Ich bin einfach..." Sie seufzte, strahlte aber immer noch über beide Ohren.
„Ich könnte Stunden damit verbringen ihn allein anzusehen und alles ist kribbelig und ich mache mir über Dinge Sorgen, an die ich vorher niemals gedacht hätte! Ich habe heute Morgen sogar andere Socken angezogen weil ich schon wusste, dass ich am Nachmittag zu ihm gehe und du kennst doch diese hässlichen Socken mit den gelben Blumen? Die hatte ich heute als erstes an, aber dann ist mir aufgefallen, dass die eigentlich gar nicht zu meinem T-Shirt passen und dann habe ich meine anderen Socken angezogen und das ist ihm wahrscheinlich vollkommen egal aber wie gesagt-"
„Rica!", durchbrach Raphael ihren Redeschwall. Für den Bruchteil einer Sekunde hörte sie auf zu Lächeln. „Das ist wirklich schön. Freut mich, dass ihr das geklärt habt."
Jetzt war das Dauergrinsen wieder da. „Ja, das finde ich auch." Ganz versonnen blickte sie aus dem Fenster. „Hast du ihn gefragt wegen Samstag?" Rica nickte. „Jep. Und er hat zugesagt." Sie reckte den Daumen nach oben. „Lukas kommt nur ein bisschen später, samstags trifft er sich normalerweise immer mit ein paar Kumpeln zum Fußball. Aber er geht dann früher."
„Mmh", machte Raphael und Ricas Handy vibrierte. Eine neue Nachricht von Simon „Wer ist Simon? Ich dachte er heißt Lukas!" Rica verdrehte die Augen und versenkte ihr Handy wieder in ihrer Tasche. „Simon ist Lukas Bruder. Sie sehen sich zwar ähnlich, aber Simon ist ein Jahr jünger und wirklich nervig. Überhaupt nicht vergleichbar mit naja ihm." Sie seufzte wieder.
„Natürlich", bemerkte Raphael nüchtern. „So toll wie sein älterer Bruder zu sein ist vollkommen unmöglich. Besonders als Simon." Rica knuffte ihn mit dem Ellenbogen in die Seite. „Hör auf, dich über ihn lustig zu machen, Raphael."
„Ich? Mich lustig machen? Über den großartigen Lukas? Nie im Leben." Rica lachte und warf den Kopf in den Nacken.
„Manchmal frag ich mich wirklich wie ich es so lange mit dir aushalten konnte." Sie schüttelte den Kopf, verblüfft über sich selbst. „Andersherum, Rica", berichtigte Raphael sie. „Ich frage mich schon seit Ewigkeiten wie ich es mit dir aushalte."
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