16 - Juna

Da letzte Woche kein Kapitel kam, hier ein besonders langes :)

Raphael sah auf seine Uhr. 17:03. Juna kam zu spät und ließ Raphael vor Matthis Haustüre stehen, als wäre er soeben hinausgeworfen worden. Er hoffte inständig, dass noch niemandem aufgefallen war, dass er jetzt schon seit guten zehn Minuten die Klingel inspizierte.

Eine neue Gruppe von Schülern überquerte die Straße, aus einer Musikbox drang dumpfe Musik. Raphael drückte sich noch enger in den Hauseingang, bis die Tür in seinem Rücken plötzlich aufgemacht wurde. Eine Hand packte ihn an der Schulter, Raphael schaffte es nicht, sich dem Griff zu entwinden.

„Wer bist du?" Der Griff lockerte sich, Raphael drehte sich langsam nach hinten um. Matthis Vater stand breitschultrig in der Tür und verbarg den Flur hinter seinem Rücken. „Raphael", beeilte er sich zu sagen und streckte Matthis Vater die Hand entgegen. Es dauerte einen Moment, bis er begriff, dann erhellte sich seine Miene.

„Ich wollte nicht unhöflich sein, es ist nur so, dass in den Tagen nach dem Unfall viele Journalisten auf-", er stockte und seine Augenbrauen zogen sich zusammen, „auf private Einblicke spekuliert haben."

Matthis Vater sah an Raphael vorbei auf die Straße. Dann drängte er sich an ihm vorbei und ging schnellen Schrittes den Weg bis zum Gartentor hinunter. Dort bückte er sich und als er wieder aufstand, hielt er eine rote Kerze in der Hand. Solche, die man stets auf Friedhöfen sah. „Wir haben nicht vor, unser Grundstück in eine Gedenkstätte zu verwandeln", erklärte er schließlich, als er wieder bei Raphael angelangt war und stopfte die Kerze in einen undurchsichtigen Müllsack, der drinnen neben der Haustür lag.

Raphael glaubte, darin auch noch sämtliche anderen Kerzen, sowie Stofftiere und Plakate zu erkennen. Langsam nickte er und ließ die rechte Schulter kreisen. „Klar, verständlich", erwiderte Raphael und brachte sogar ein halbherziges Lächeln zustande.

„Ist Matthi da?", fragte er nach einer kurzen Pause. Matthis Vater nickte. „Ja, ja er ist da." Er deutete mit einer Hand in Richtung Treppe. „Ich werde ihm kurz Bescheid geben, dass du da bist." „Danke, das wäre nett."

Matthis Vater ging mit schweren Schritten die Treppe hinauf und klopfte leise gegen Matthis Zimmertür. Er öffnete augenblicklich. Matthis Vater sagte irgendetwas Unverständliches und zeigte mit einem Kopfnicken zu ihm herunter. Verstohlen hob Raphael die Hand und winkte Matthi kurz zu. Er wirkte einen Moment lang verwirrt, dann verzogen sich seine Mundwinkel zu einem Lächeln. „Du kannst hochkommen, wenn du magst."

Raphael nickte und trat zögerlich ein. Die Fliesen unter seinen Füßen glänzten, Raphael überprüfte, ob er Dreck auf ihnen hinterließ. Matthi lachte leise, zumindest glaubte Raphael das, denn als er hochsah, war es sein Vater, der schmunzelnd zu ihm herab sah. „Lass die Schuhe da einfach stehen."

„Hat Juna dir davon erzählt?", fragte Raphael, als er vor Matthis Zimmertür angelangt war. „Also dass ich komme. Wir kommen, meine ich." Matthi zog die Nase kraus und hielt ihm mit übertrieben höflicher Geste die Tür auf. „Nein, das muss sie vergessen haben", bemerkte Matthi als er die Tür hinter Raphael schloss. „Aber fühl dich frei und setzt dich irgendwo hin. Juna wird schon kommen, wenn sie das gesagt hat."

Raphael räusperte sich und ließ sich auf Matthis Schreibtischstuhl fallen. Auf dem dazugehörigen Schreibtisch stapelten sich Papierberge und kaputte Ordner, zerbrochene Kugelschreiber und ein eingetrockneter Klebestift. „Ich bin gerade dabei Schulkram auszusortieren", erklärte Matthi halbherzig, Raphael schwieg. Dann atmete er tief durch und hob die Stimme.

„Mir ist wieder etwas eingefallen. Über den Unfall." Vorsichtig hob er den Blick, um Matthis Reaktion einzuschätzen, aber sein Gesicht war starr wie eine Maske. „Merkwürdig, nicht wahr. Ich bilde mir auch manchmal ein, Lissa wiederzusehen." Unangenehm berührt kratzte Raphael sich am Rücken. Matthis Vater hatte wirklich fest zugepackt.

„Nicht unbedingt... Es geht nicht unbedingt um Lissa." Matthi zog die Augenbrauen hoch. „Nicht? Handelt nicht irgendwie alles von ihr?" Unsicher zog Raphael die Schultern hoch. „Ich dachte mehr an den Unfall. Und an das Auto."

Es klingelte. Es war ein altmodisches, echtes und volles Klingeln. „Juna kommt", bemerkte Matthi ohne aufzusehen.

„Hat die Polizei etwas gesagt? Über den Stand der Ermittlungen meine ich. Sie haben doch Lacksplitter gefunden, oder?" Matthi sah auf. Seine Unterlippe war von einem dunklen rot, er musste auf ihr herumgebissen haben.

„Warum möchtest du das wissen? Sie werden schon ihre Arbeit machen, die Polizisten." Raphael versuchte nicht an die Polizeibeamten zurückzudenken, denen er begegnet war. Und hoffte inständig, dass der Fall nicht auf ihrem Schreibtisch ruhte.

Aus dem Treppenhaus war Junas gedämpfte Stimme zu hören, sie unterhielt sich mit Matthis Vater. Raphaels Bauch krampfte sich zusammen, als er glaubte, das Wort Handy herauszuhören. „Hörst du mir überhaupt zu?" Matthi klang verärgert und schnipste vor seinem Gesicht auf und ab.

„'Tschuldige", murmelte Raphael und verzog zerknirscht da Gesicht. Matthi seufzte. „Lass dich da von Juna nicht mitreinziehen. Sie sieht gerne Dinge, die so eigentlich nicht existieren." Er seufzte leise und während sie schwiegen hörten sie Junas Schritte auf der Treppe. „Ich fand es bloß fair dir das zu erzählen. Ich habe eine Zeichnung angefertigt, von dem Auto. Wir könnten das der Polizei geben."

Matthi stemmte die Hände in die Seiten. „Dein Sinn für Gerechtigkeit und Fairness ist bewundernswert, aber das ist nicht meine Art und Weise damit umzugehen und abzuschließen. Verstehst du das?"

Er hatte leise und bestimmt gesprochen, Raphaels Brust zog sich zusammen. Erst sah er zu Boden, dann hob Raphael seinen Blick. Matthi saß zusammengesunken dort, die Lippen fest aufeinander gepresst. Gab sich größte Mühe, Raphaels Blick auszuweichen.

„Und woraus besteht deine Art und Weise damit umzugehen und abzuschließen? Besitzt du überhaupt eine Art und Weise, Matthi?"

Die Luft im Raum kam Raphael vor wie Sirup, der sich über sie ergossen hatte, bis ihnen die Luft zum Atmen fehlte. Und nun hatten seine Worte diesen Sirup durchschnitten und Platz für die Wahrheit geschaffen.

„Hey!"

Juna stieß die Tür auf und betrat, eine Thermoskanne und drei Ikeatassen balancierend, den Raum. „Es ist Sommer", stellten Raphael und Matthi gleichzeitig fest, wobei Matthi seine Aussage noch mit einem genervten Stöhnen untermalte. Juna verdrehte die Augen. „Zeit um das Synchronsprechen zu lernen hattet ihr also schon", gab sie zurück und räumte einen Stapel Zeitschriften von einem Nachttisch, der Raphael zuvor noch gar nicht aufgefallen war.

Matthi grunzte etwas unverständliches, dann erhob er sich von der Bettkante und schob den Zeitschriftenstapel ordentlich zurecht. Damit war er somit das einzige ordentliche Objekt im ganzen Raum.

„Schwarztee mit Ingwer. Ich hoffe ihr mögt ihn", sagte Juna und goss Tee ein. Es hatte mehr wie ein Befehl geklungen, deshalb beschloss Raphael, die Tasse Tee anzunehmen. „Danke", murmelte er und nahm sich eine der Tassen vom Nachttisch.

Matthi dagegen verschränkte die Arme vor der Brust. „Es hat verdammte dreißig Grad, da trink ich doch jetzt keinen Tee!" Juna sah ihn mitleidig an. „Sitz nicht so rum wie ein trotziges Kleinkind, es hat schon längst keine dreißig Grad mehr draußen. Das sind maximal dreiundzwanzig, es hat abgekühlt. Und selbst wenn, das anschließende Schwitzen nach einem Heißgetränk sorgt gerade bei sommerlichen Temperaturen für einen kühlenden Effekt."

„Ich gebe dir gleich auch einen kühlenden Effekt", wiederholte Matthi ihre Worte grimmig, ergab sich dann jedoch und nahm sich ebenfalls eine Tasse Tee. „Geht doch", stellte Juna zufrieden fest und stellte ihre Tasche auf Matthis überfülltem Schreibtisch ab. Ein Papierflieger, der ursprünglich mal als Informationsseite über den Faraday'schen Käfig gedient war, vollführte einen Sturzflug gen Boden.

„Raphael hat dir sicher schon davon erzählt, dass ihm noch etwas eingefallen ist." Sie nahm die Zeichnung aus ihrer Tasche. „Nämlich genau das hier." Juna streckte Matthi das Blatt Papier entgegen. Als Raphael einen kurzen Blick auf es erhaschte, fielen ihm sogleich unzählige Fehler auf. Die Perspektive, die Schattierungen, das Eselsohr an der rechten unteren Ecke. Am liebsten hätte er es zerrissen und komplett erneuert, noch bevor Matthi es in die Hände bekam.

Widerstrebend nahm Matthi die Zeichnung entgegen. Sein Gesicht verschwand hinter dem Blatt, es folgte Stille. Lediglich Juna nahm bereits einen Schluck Tee. Als Raphael es ihr nachtun wollte, verbrannte er sich.

„Das schwarze Auto war ein Seat. Das wissen wir bereits." Matthi ließ die Zeichnung sinken. „Das ist nichts Neues." Raphael verzog das Gesicht. Juna riss ihm das Blatt wieder aus den Händen. „Du weiß ganz genau, dass das hier nicht nichts ist, Matthi!", fauchte sie und verstaute die Zeichnung wieder sicher in ihrer Tasche.

Raphael räusperte sich. „Natürlich wissen wir schon, dass es ein schwarzer Seat war. Aber ich hab dich ja eben schon nach den Lacksplittern gefragt. Ich glaube, dass mit denen etwas nicht stimmt. Nicht mit den Splittern natürlich, sondern mit dem Lack. Ich weiß nicht, vielleicht ist es dir auch aufgefallen, aber etwas war da anders-" Raphael verstummte, Matthis Blicke jagten ihm Angst ein.

„Zum wiederholten Male, ich habe nichts gesehen. Nichts nada niente! Wann versteht ihr das endlich? Wenn ich an den Tag des Unfalls zurückdenke, dann ist da ein riesen großes Loch. Und es wird schwärzer und schwärzer, je länger ich versuche, etwas zu erkennen." Juna biss sich auf die Unterlippe. Sie trat einen Schritt auf Matthi zu, aber er drehte sich weg.

Erst jetzt fiel Raphael wieder ein, dass er die beiden das letzte Mal in diesem Zimmer küssend gesehen hatte. Juna ließ sich neben Matthi auf sein Bett sinken. Er rückte von ihr weg.

„Wann zur Hölle begreifst du endlich, dass das hier kein verdammter Fall der Fünf Freunde ist? Du machst es uns allen bloß schwerer mit diesem Mist!" Juna kniff die Augen zusammen. „Wir könnten uns stattdessen die drei Freunde nennen", schlug sie Schultern zuckend vor. Raphael sah sie entgeistert an. Juna verzog das Gesicht. „Ach ja, ich vergaß", sagte sie und fasste sich theatralisch seufzend an die Stirn, „Freunde sind wir ja auch nicht."

„Sehr witzig. Applaus Applaus", bemerkte Matthi sarkastisch. Juna schenkte sich erneut Tee ein. Raphael schaffte es, einen Schluck zu trinken, ohne dabei seine Zunge zu dünsten.

„Immerhin haben die jeden ihrer Fälle gelöst und die Fieslinge hinterher eingebuchtet. Also hab ich eigentlich nichts gegen die Fünf Freunde. Und da Raphael das Auto gezeichnet hat, könnten wir herausfinden, welches Modell das war. Zusammen mit den Lacksplittern ergäbe sich vielleicht tatsächlich eine brauchbare Erkenntnis", sagte Juna und zückte ihr Handy.

„Du hast nichts gegen die Fünf Freunde?", fragte Matthi erstaunt. „Und ich dachte, du vertrittst ein selbstbewusstes Frauenbild." „George und Timmy hätten dich im Handumdrehen erledigt", sagte Juna, ohne ihren Blick vom Bildschirm zu lösen. „Aber auch nur, weil George im Geiste ein Junge ist", erwiderte Matthi feixend. „Die liebe Ann dagegen steht weiterhin hübsch dekorativ in der Ecke herum und kocht."

Raphael kam sich langsam aber sicher vor wie eine stumme Requisite bei einer halbleeren Theatervorstellung. Oder wie ein halbherzig bemalter Baum aus Pappmaché.

„Ich werde dich nicht meine Illusion der Fünf Freunde zerstören lassen, Matthi. Außerdem hast du sie selbst im Regal stehen. Also klappe." Raphaels Blick wanderte in Richtung des Bücherregales und entdeckte nach einer kurzen Suche drei dicke Sammelbände.

„Ach ja, ich dachte deswegen hättest du diese schöne Versammlung einberufen. Was Sinnvolleres fällt mir nämlich gerade nicht ein", sagte Matthi, aber Juna beachtete ihn nicht. Stattdessen erhob sich und kniete sich neben Raphaels Schreibtischstuhl.

„Was hältst du von diesen beiden Modellen? Denkst du eines davon könnte der Wagen des Täters sein?" Juna hielt ihm ihr Handy entgegen. „Denkst du, es könnte ein LEON gewesen sein?" Raphael runzelte die Stirn und zog das Bild des Autos größer. „Keine Ahnung, schwer zu sagen. Zeig mal die anderen Modelle."

Juna tippte auf dem Display herum, dann wurden alle weiteren Modelle aufgelistet. „Dein Ernst? Es gibt mindestens drei weitere LEONs, die dem anderen LEON zum Verwechseln ähnlich sind." Resigniert schloss Juna den Tab. Matthi lachte leise. Junas Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen und einen Moment lang glaubte Raphael, sie würde ihn erneut zusammenstauchen. Dann gab Juna es auf und setzte sich im Schneidersitz auf den Boden.

Raphael leerte seine Teetasse und stellte sie auf den Nachttisch. „Ich habe einen Vorschlag für dich, Matthi." Er sah auf. „Ja, Juna? Wirklich? Du weißt doch hoffentlich, wie sehr ich deine Vorschläge schätze." Juna fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen, dann lächelte sie.

„Mach. Dich. Nützlich."

Matthi rümpfte die Nase, ansonsten machte er nichts. „Na? Schon irgendeine wunderbare Idee? Oder bist du jetzt, so ganz ohne Schulalltag, schon gar nicht mehr ans Kopfanschalten gewöhnt." Matthi richtete sich auf. „Ach daher weht der Wind. Noch jemand, der mir Vorwürfe machen möchte", sagte er und schürzte spöttisch die Lippen. „Aber danke, nein danke. Ich bekomme mein Leben sehr gut alleine auf die Reihe."

Raphael sah sich in Matthis Zimmer um. Nichts, aber auch rein gar nichts ließ darauf schließen, dass er auch nur seine Wäsche auf die Reihe bekam. Juna schien ähnliches durch den Kopf zu gehen, aber sie verzichtete auf einen verbalen Gegenangriff.

Stattdessen holte sie wieder ihr Handy heraus. „So, dann rufe ich jetzt eben da an. Das ist wirklich furchtbar mit euch." Hinter Junas Rücken tauschten Matthi und Raphael einen verzweifelten Blick. Wobei Matthis eher in Richtung vollkommen genervt ging.

Juna tippte eine Nummer ein, dann drückte sie auf anrufen. Es dauerte eine Weile, bis sich jemand meldete. „Hallo, mein Name ist Juna Mair. Ich habe eine Frage zu ihren Seat Modellen." Selbst hinter dem Telefon hatte Juna ein strahlendes Lächeln aufgesetzt. Sie stand auf und ging zum Fenster.

„Warteschleife", sagte sie in ihre Richtung, dann meldete sich offenbar jemand. „Hallo, mein Name ist Juna Mair, ich habe eine Frage zu ihren Seat Modellen." Matthi verbarg den Kopf in den Händen. „Ja, genau. Ich interessiere mich für Modelle im", sie kicherte aufdringlich, „im kostengünstigen Bereich. Für die junge Altersklasse." Wieder ein albernes Lachen. Raphael fragte sich, was Juna damit bezwecken wollte.

„Wissen Sie", säuselte sie weiter, „ich habe letztens so einen schönen Seat auf der Straße gesehen. Er war schwarz, aber nicht richtig schwarz. Nicht pechschwarz wenn Sie verstehen, was ich meine. Sondern vielmehr... Blasser und weicher. Und daher wollte ich fragen, ob sie spezielle Lackierungen führen und ob es denn möglich ist-" Aus Junas Zopf hatte sich eine dunkle Strähne gelöst, sie zwirbelte sie um ihren Finger.

„Nur einen Schwarzton, sagen Sie? Bloß einen einzigen? Für alle Modelle?" Juna seufzte und dieses Mal wirkte es echt. „Hm, vielleicht könnten Sie mir trotzdem noch weiterhelfen?" Wieder war ihre Stimmlage um mindestens eine Oktave höher als normal. Einen kurzen Augenblick lang blieb es still, der Mann am anderen Ende der Leitung sagte offenbar etwas. „Sie alter Charmeur!", stieß Juna plötzlich aus und lachte. Matthi verzog das Gesicht.

„Wissen Sie, ich kenne mich ü-b-e-r-h-a-u-p-t nicht mit Autos aus", sprach Juna weiter und zog die Worte dabei unnötig in die Länge. „Aber da war dieses Auto, es hatte am Küh- also ich meine vorne so Linien und die Scheinwerfer sahen irgendwie freundlich aus, verstehen Sie?" Juna ging zu ihrer Tasche zurück und sah sich Raphaels Zeichnung erneut an.

„Obwohl, vielleicht doch nicht so freundlich. Eher eckig, wenn ich mich recht entsinne. Und eher so mittelgroß. Bis klein. Haben Sie da Modelle?" Jetzt redete wieder der Mann am anderen Ende der Leitung. „Der Seat Ateca sagen Sie? Hm, ich weiß nicht Recht..." Juna tat ein paar Schritte auf Raphael zu und sah ihn dabei drängend an. „Ateca", flüsterte sie in seine Richtung, „wie sah der nochmal aus?"

Raphael lobte sich dafür, mit seinem Datenvolumen noch nicht allzu verschwenderisch gewesen zu sein und tippte Seat Ateca in die Suchleiste ein. Dann hielt er Juna das Bild entgegen und schüttelte den Kopf. Prompt sprach Juna weiter.

„Es tut mir w-i-r-k-l-i-c-h leid, Sie zu unterbrechen, aber ich glaube da war nicht der Wagen den ich suche. Etwas kleiner vielleicht? Und für Menschen in meinem Alter? Welches Modell wird dort denn besonders häufig gefragt?"

Juna begutachtete erneut die Skizze, dann lachte sie laut auf. „Also gut. Aber nur, weil Sie so charmant nach meinem Alter gefragt haben." Sie setzte ein klebriges Lächeln auf. „Man fragt nicht nach dem Alter einer D-a-m-e, hat man Ihnen das denn nicht beigebracht?"

Es folgte ein weiterer Redeschwall, Matthi hatte inzwischen sein Handy hervorgekramt. Raphael seufzte leise und sah auf die Uhr. Besonders viel Zeit blieb ihm nicht mehr bis sein Bus abfahren würde. Er hoffte, dass Juna ihren albernen Telefonflirt bald abbrechen würde.

„Das Modell Ibiza sagen Sie? Und da ist auch relativ preiswert? Tausend Dank, tausend Dank. Nein, Sie müssen sich nicht bei mir bedanken, Sie haben mir sehr geholfen. Jetzt weiß ich, an wen ich mich wenden kann." Matthi verdrehte die Augen und angelte nach seinen Kopfhörern. Raphael warf ihm ein gequältes Lächeln zu.

„Nein, Sie können nichts mehr für mich tun. Danke", flötete Juna, dann legte sie auf. Matthi grinste. „So viel zu Feminismus und weiblichem Selbstbewusstsein." Juna sah ihn finster an, ihre Augen sprühten Funken, die Matthi binnen Sekunden hätten rösten können. „Immerhin haben wir jetzt unser Ziel erreicht", gab sie bissig zurück und reckte das Kinn.

„Gar kein Ziel haben wir erreicht", verbesserte sie Matthi.

„Bloß weil dieses Modell in der wahrscheinlich gesuchten Altersgruppe am häufigsten gekauft wird, heißt das noch lange nicht, dass auch unser Mann so eins fährt. Und bei der Sache mit der Lackierung ist auch nichts Brauchbares bei rausgekommen." Noch bevor Juna etwas erwidern konnte, meldete Raphael sich zögerlich zu Wort.

„Vielleicht ist das auch gut so. Ich meine falls ich Recht habe und das wirklich eine spezielle Lackierung war. Dann wurde die vielleicht in einer Werkstatt angebracht. Und die liegt vielleicht in unserer Nähe."

Matthi sah Raphael finster an, Juna dagegen klopfte ihm auf die Schulter. „Er hat Recht, Raphael hat eindeutig Recht. Irgendwelche Vorschläge für unser weiteres Vorgehen?" Sie blickte in die Runde. Matthis Miene hätte nicht mehr Desinteresse ausdrücken können. Raphael wich Junas Blick aus und sah stattdessen auf seine Uhr. Dann verzog er sein Gesicht.

„Tut mir wirklich leid. Aber ich hab ja schon gesagt, dass ich nicht so viel Zeit haben werde..." Juna sah auf, Raphael blickte sie zerknirscht an. „Mein Bus kommt jetzt." Juna seufzte. „Jetzt jetzt oder jetzt in drei Minuten?"

Raphael stand auf. „Jetzt laut Fahrplan aber sonst wahrscheinlich jetzt in fünf Minuten." Sie nickte. „Möchtest du die Zeichnung-", begann sie, aber Raphael winkte ab. „Nein, nein. Aber danke für den Tee und so." Er ging zur Zimmertür. „Hm, war schön", sagte er zögerlich und Matthi schüttelte den Kopf.

„Nein, war es nicht", erwiderte er. „Aber ich schätze deinen Sinn für Gerechtigkeit", wiederholte Matthi das, was er schon zu Beginn ihres Treffens gesagt hatte. Ein kurzes unangenehmes Schweigen entstand. Die Frage, die Raphael Matthi daraufhin gestellt hatte, schwebte unausgesprochen zwischen ihnen im Raum. „Glaub mir, ich habe eine Art und Weise", sagte Matthi leise und Raphael nickte.

„Gut. Das ist wirklich gut", murmelte er und verabschiedete sich mit einem simplen „Tschüss", in Richtung Juna.

Er hob die Hand, dann ging er die Treppe hinunter. Durch das große Fenster konnte er auf die Straße blicken. Herr Marrlach stand dort und telefonierte und- „Scheiße", stieß Raphael dann plötzlich aus.

„Mist mist mist verdammt!" Der sperrige Linienbus schob sich in sein Blickfeld und verdeckte den telefonierenden Herrn Marrlach. Raphael sprang die letzten Treppenstufen hinunter, machte sich nicht die Mühe seine Schuhe anziehen, sondern sammelte sie lediglich vom Boden auf. Matthis Mutter streckte den Kopf aus der Küche.

„Tschüss! Entschuldigung, aber ich verpasse gerade meinen Bus!", rief er ihr über die Schultern hinweg zu und rannte auf Socken die kleine Einfahrt hinunter. „Herr Marrlach! Ich komme!", brüllte er über die Straße in der Hoffnung, er würde dem Busfahrer Bescheid geben. Gegenüber vom Bushaltestellenschild blieb Raphael stehen, blickte hastig nach links und rechts.

Ein Auto kam, Raphael blieb stehen, der Bus fuhr an. „Scheiße", sagte Raphael erneut, das Auto fuhr vorbei. So schnell wie es ihm auf Socken möglich war sprintete Raphael dem Bus hinterher. Erst in der Kurve als der Bus verzögern musste, holte er ihn ein. Vollkommen außer Atem klopfte er gegen die Tür.

Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis der Busfahrer ihm öffnete. Hinter ihnen hupte ein Auto. Raphael packte seine Schuhe fester und stieg ein. „Danke", sagte er und lehnte sich gegen eine Stehstange. Erst an der nächsten Haltestelle zog er seine Schuhe an und setzte sich schwankend zu seinem Stammplatz neben Rica in Bewegung.

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