13 - Juna

Raphaels Herz pochte schnell gegen seinen Brustkorb; es war das einzige, das ihn verriet. Ansonsten war sein Körper von einer stoischen Ruhe befallen. Seine Hand zitterte nicht, seine Knie fühlten sich nicht an wie Wackelpudding, alles war normal während er die Treppe zu Matthis und Lissas Zimmer hinauf ging.

Oben angekommen blieb er stehen und sah sich um. Kindergeschrei drängte sich ihm entgegen, auf einmal wirkte es furchtbar unpassend und wie aus einer anderen Welt.

Aus dem Zimmer rechts von ihm kamen leise Stimmen. Die Tür stand einen Spalt breit auf, durch die Lücke zwischen Rahmen und Tür konnte Raphael in Matthis Zimmer sehen. Es war kleiner, als er es sich vorgestellt hatte, aber vielleicht lag das auch nur an seiner komischen Perspektive.

„Hast du ihn gefragt?" Junas Stimme klang gepresst und fordernd zugleich. Matthi schüttelte nur den Kopf. Sie saßen auf seinem Bett, Matthi hatte eine weiße Überdecke über die normale Decke gespannt. Raphael fragte sich, ob er das immer so machte. „Ich versteh auch nicht, warum dir das so wichtig ist! Es ist verdammt nochmal nicht deine Aufgabe!"

Einen Moment lang hatte Raphael vergessen, dass er sich hinter der Tür befand, und dass die beiden ihn gar nicht sehen konnten. Matthi hatte seine Stimme so plötzlich erhoben, dass es sich angefühlt hatte, als stände er direkt neben ihm. Junas Gesicht rötete sich verärgert. „Warum mir das wichtig ist? Warum mir das wichtig ist? Es kann nicht dein Ernst sein, dass du mich das fragst, Matthi." Raphael schluckte, er konnte einfach nicht anders als noch näher zu treten und ihrem Gespräch zuzuhören. Er lehnte sich vor, hoffte, dass sein Schatten ihn nicht verraten würde.

Matthi schien sich zunehmend unwohl in seiner Haut zu fühlen, er rutschte hin und her, die Überdecke verrutschte und legte die blaue Bettdecke frei. „Es geht darum-", begann er etwas leiser, aber Juna ließ ihn nicht zu Wort kommen. „Lissa war meine beste Freundin, verdammt! Und jetzt ist sie tot!", stieß sie aus und wischte sich im selben Atemzug Tränen von den Wangen. „Totgefahren von einem jämmerlichen Feigling, der nicht den Mumm hatte, ihr zu helfen. Deshalb will ich wissen ob du ihn gefragt hast. Weil dieses Arschloch seine Strafe bekommen soll!"

Juna zitterte am ganzen Körper und Raphael verabscheute sich sofort dafür, dass er einfach nur dort stand und ihr dabei zusah. Sie so zu sehen war ganz sicher nicht für seiner Augen bestimmt, trotzdem konnte er nicht anders, als Matthi und Juna zu beobachten. Sie sprachen über ihn, dessen war er sich jetzt ziemlich sicher.

„Lass die Polizei ihre Arbeit machen, Juna. Ganz einfach. Das ist ihr Job, die sind dafür ausgebildet. Du kannst ihnen nicht dabei helfen und ganz abgesehen davon bin ich mir sicher, dass Raphael ihnen schon alles gesagt hat, was er mitbekommen hat!"

Bei der Erwähnung seines Namens zuckte Raphael zusammen. Von seiner vorherigen Ruhe war rein gar nichts mehr übrig. „Die Polizei also", höhnte Juna, die Lippen zu einer schmalen Linie aufeinandergepresst. „Und was haben sie bisher gemacht? Anzeige gegen unbekannt; Fahrerflucht. Das ist doch alles was wir haben, oder nicht? Eine Anzeige. Wie viele Einbrecher hat dein Vater schon vor Gericht verteidigt, Matthi? Wie viele?"

„Juna, das ist jetzt doch vollkommen nebensächlich, wie kommst du auf Einbrecher?"

„Wie viele?" Junas Antwort war schon beinahe ein Knurren. An Matthis Stelle hätte Raphael schnell das Weite gesucht. Stattdessen hob er abwehrend die Hände. „Ich weiß es nicht. Keine Ahnung. Nicht sehr viele, wahrscheinlich." Triumphierend zog Juna die Augenbrauen hoch. „Siehst du, da heben wir es. Bei jedem Einbruch wird eine Anzeige erstellt. Und was kommt dabei raus? Rein gar nichts. Die Täter werden nie gefasst, bleiben auf freiem Fuß und die Polizei versagt."

Matthi schwieg, zog die Falten seiner Hose glatt. Raphael traute sich kaum zu atmen, plötzlich fürchtete er, entdeckt zu werden. Er durfte hier nicht stehen, durfte dieses Gespräch nicht mit anhören. Er hatte doch seine ganz eigene Mission.

Lissas Handy drängte sich immer stärker in sein Bewusstsein. Nur noch wenige Sekunden, dann würde er gehen, nur noch wenige Augenblicke, dann würde Lissas Handy nicht mehr in seiner Hosentasche, sondern irgendwo in ihrem Zimmer verstaut liegen.

„Juna", sagte Matthi und seine Stimme klang anders als zuvor. Weicher, sanfter, als hätte er Mitleid mit ihr. „Ich weiß, wie wichtig sie dir war. Du hast Lissa glücklich gemacht, weißt du das? Immer wenn sie wütend war, schon als kleines Kind, hat sie Briefe an dich geschrieben, in denen sie dir dann erzählt hat, was wir anderen alle verbrochen haben."

Matthi lächelte, Juna hatte die Augen geschlossen. „Sie hat mir einmal davon erzählt. Letztes Jahr in Holland. Weißt du noch, wie sauer sie war, als du sie in Monopoly geschlagen hast?" Matthi nickte und obwohl Juna es nicht gesehen haben konnte sprach sie weiter. „Damals sagte sie, dass dieser Betrug einem Hass Brief würdig sei. Lissa hat ihn anschließend wirklich geschrieben, aber ich durfte ihn nicht lesen, obwohl mein Name vorne drauf stand."

„Das hört sich ganz nach ihr an", bestätigte Matthi. Er starrte auf einen Punkt direkt neben der Lücke, durch die Raphael immer noch blickte. Nur noch wenige Momente, dann würde er endlich gehen.

„Ich weiß, wie wichtig sie dir war, Juna", sagte Matthi abermals, „aber egal was du jetzt tust, es wird Lissa nicht zurück bringen. Es hilft ihr nicht mehr."

Juna hatte die Augen immer noch geschlossen, aber ihre Lider bebten. Als sie antwortete, war es kaum mehr als ein Flüstern.

„Du bist ihr so ähnlich, Matthi", wisperte sie und schlug die Augen auf. „Lissa konnte das genauso gut wie du. Diesen Blick, diesen leisen Vorwurf." Juna lachte leise, Matthi blinzelte. „Ich kann dich kaum ansehen, ohne auch Lissas Gesicht in deinem zu erkennen. Merkwürdig, nicht wahr?" Juna hob ihren Arm, umfasste Matthis Kopf mit ihren Händen.

„Sie fehlt mir mehr, als du es dir vorstellen kannst." Matthi senkte seinen Kopf, Juna strich ihm über die Stirn, über die Schläfen. „Was für eine vermessene Aussage, ihrem Bruder gegenüber", flüsterte Matthi mit halbherzig nach oben gezogenen Mundwinkeln. Matthi trug die Spur seines Lächelns noch auf den Lippen, als Juna ihn näher an sich zog und ihren Mund auf seinen presste.

Raphael stand da wie festgefroren und während er sah, wie Junas Hand in Matthis Haaren verschwand, überkam ihn ein seltsames Déjà-vu. Schon einmal hatte er hinter einem Türspalt gestanden und etwas gesehen, dass er nicht hätte sehen sollen. Dabei war es damals mehr ein Versehen gewesen. Trotzdem hatte Rica fast einen ganzen Monat lang nicht mit ihm gesprochen.

Rica hatte bei ihm übernachtet, sie waren vielleicht dreizehn oder zwölf Jahre alt gewesen und anstatt sich wie all die Male zuvor einfach zusammen umzuziehen, hatte Rica darauf bestanden, dass Raphael ins Bad ging. Zuerst hatte er es für einen Witz gehalten, immerhin war es in all den Jahren nie ein Problem gewesen, schließlich aber hatte er Ricas Forderungen nachgegeben und ihr sein Zimmer überlassen.

Innerhalb weniger Minuten hatte er sich umgezogen und die Zähne geputzt, aber als er wieder zu seinem Zimmer zurückkehrte, hatte die Tür einen Spalt breit offen gestanden. Das war schließlich nicht schlimm, denn er hatte gar nicht erst vor dort stehen zu bleiben. Rica hatte schließlich genügend Zeit gehabt um sich umzuziehen. Vielmehr scheiterte sein Vorhaben daran, dass er durch den Spalt sehen konnte, dass Rica eben noch nicht damit fertig war.

Sie kämpfte mit einer seltsamen Mischung aus einem Unterhemd und einem BH, die sie wahrscheinlich noch nie zuvor ausgezogen hatte. Zu einem Eisblock erstarrt hatte Raphael weder vor, noch zurück gewusst. Also war er einfach stehen geblieben. Wutentbrannt hatte Rica ihn angeschrien er solle sich schämen. Sie war noch im Schlafanzug nach Hause gestürmt und hatte sich einen Tag später geweigert, ihm die Tür zu öffnen.

Völlig verzweifelt hatte Raphael das ganze seinen Eltern erzählt und sich gleichzeitig furchtbar dafür geschämt. Damals hatte er den Fehler begangen, nicht rechtzeitig hinter der Tür zu verschwinden, das wollte Raphael jetzt unter allen Umständen vermeiden. Er war schon einen Schritt zurückgegangen, als ein lautes Rumsen ertönte.

Der Boden unter seinen Füßen vibrierte leise, die Tür hinter ihm wurde aufgerissen. „Wir kapern das Kreuzfahrtschiff!", brüllte ein kleiner Junge und stürmte aus dem Zimmer. Aus Lissas Zimmer, wie Raphael nur wenige Sekunden später klar wurde.

Mit vor Angst geweiteten Augen blieb der Junge vor Raphael stehen, ein Playmobilmännchen fiel zu Boden. Ein Mädchen stieß die Zimmertür jetzt endgültig auf, rannte heraus und wollte dem Jungen ein Piratenschiff aus den Händen reißen.

Mit einem lauten Knall schlitterte es über das Parkett. Aus den Augenwinkeln nahm Raphael wahr, wie sich etwas Gelbes in Matthis Zimmer bewegte. Um nicht von der aufgehenden Tür erschlagen zu werden sprang er  gerade noch rechtzeitig aus seinem Versteck.

„Matteo und Frederik!", rief Matthi und stand im Flur. Er bedachte Raphael lediglich mit einem Stirnrunzeln, dann hastete er an ihm vorbei in das Zimmer seiner Schwester. Es brauchte nur wenige Sekunden, bis er sich ein Bild von der Lage gemacht hatte. „Raus", sagte er gefährlich leise und machte noch einen weiteren Schritt in das Zimmer. Drei völlig verängstigte Kinder blickten ihn an. Vor ihnen stand eine Kiste mit alten Barbies auf dem Fußboden, eine von ihnen trug eine Glatze. Verfilzte Plastikhaare lagen überall verstreut.

Raphael beobachtete, wie sich Matthis Kehlkopf auf und ab bewegte, wie er seine Hände zu Fäusten ballte und Adern an seinem Unterarm in einem blassen Grün hervor traten. Plötzlich war er wieder da; der jähzornige und wütende Matthi, der einem Auto mit bloßen Händen die Fensterscheibe zersplitterte. Der Matthi, der dem Auto hinterher lief ohne zu bemerken, dass der Asphalt ihm die Fußsohlen versengte. „Raus", flüsterte Matthi, dann brach seine Fassade in sich zusammen. „RAUS!", schrie er, Raphael wäre am liebsten weggerannt. Die Kinder bewegten sich keinen Millimeter.

„Weg! Verschwindet. VERSCHWINDET!" Mit zwei großen Schritten hatte Matthi das Zimmer durchquert. Er packte ein kleines Mädchen am Oberarm, es hatte schon zu weinen begonnen, noch bevor Matthi es erreichte. „Lass mich los! Mama!", brüllte es in ohrenbetäubender Lautstärke, Raphael hörte, wie das Gemurmel in der Küche verstummte.

„Matthi!", rief Juna und eilte heraus auf den Flur. „Was machst du hier?", fuhr sie Raphael an, nachdem Juna fast in ihn hineingelaufen war. Raphael spürte, dass es nur noch wenige Sekunden dauern würde, bis sich sein Kopf in ein rot glühendes Leuchtsignal verwandeln würde. Er öffnete den Mund, schloss ihn wieder. Juna kniff die Augen zusammen, dann betrat auch sie Lissas Zimmer. Raphael atmete hörbar aus.

„Lass sie los!", befahl Juna Matthi, doch er dachte erst gar nicht daran, das Mädchen aus seinem Klammergriff zu befreien. „Matteo und Frederik", knurrte Matthi, das Mädchen schrie immer noch wie am Spieß. „Matthi lass den Scheiß!", wiederholte Juna und erwischte Matthi am Unterarm. Vielleicht hatte sie lange Fingernägel oder sonstige Waffen, jedenfalls ließ Matthi den Arm des Mädchens los, als hätte er sich daran verbrannt. Das Mädchen sackte an der Wand zu Boden, Tränen flossen in Strömen über ihre Wangen.

Matthi blieb regungslos stehen, Matteo und Frederik drückten sich langsam um die Ecke ihres Zimmers in den Flur hinein. „Holt eure Freunde da raus", befahl Matthi knapp und trat aus der Tür. Juna kniete vor der Barbie und ihren abgeschnittenen Haaren. Matteo und Frederik winkten ihre Freunde aus Lissas Zimmer, Raphael schob sie vorsichtig die Treppe hinunter. Eine besorgte Mutter blickte schon zu ihnen herüber.

„Alles gut", rief Raphael zu ihr runter, was er rückblickend lieber nicht getan hätte. Matthi und Juna drehten sich gleichzeitig zu ihm um. Matthis Gesichtszüge waren in Stein gemeißelt, Juna sah ihn feindselig an. An ihren Fingerspitzen klebten blonde Plastikhaare. Es war nicht gut, es war das Gegenteil von gut.

Die Zimmertür der Zwillinge schloss sich mit einem leisen Klicken, ließ Raphael alleine mit Juna und Matthi zurück. „Was machst du hier oben?", fragte Juna wieder, Raphael wusste immer noch keine Antwort. „Ich- Pia, also Matthis; ich meine deine Mutter, sie hat gesagt ihr würdet hier oben sein und..." Seine Stimme war gegen Ende immer leiser geworden, bis er schließlich ganz aufhörte zu sprechen.

„Wie lange?" Matthi hatte Raphael gegenüber an der Wand gelehnt, jetzt löste er sich von ihr, die Arme verschränkt. „Wie lange warst du schon hier oben, hab ich gefragt", wiederholte Matthi, vermied es Juna anzusehen. Sie saß immer noch völlig versunken in sich selbst mitten in Lissas Zimmer.

„Nicht lange", beeilte Raphael sich zu sagen. „Gerade erst hochgekommen, als der Junge mir das Piratenschiff vor die Füße geknallt hat." Raphael lachte kurz auf, er ließ es sofort wieder bleiben und sah zur Decke. „Vielleicht geh ich dann auch mal lieber. Ich will nicht stören und-" Raphael ging einen Schritt zurück, griff nach dem Geländer. Bis Juna ihn mit schneidender Stimme zurückhielt.

„Nein", sagte sie langsam und bestimmt. Sie hatte sich noch nicht mal zu ihm umdrehen müssen, Raphael hielt sofort inne. „Ich hab noch eine Frage an dich. Wenn nicht sogar zwei." Raphael schluckte, die Hand immer noch am Geländer, als könnte er sich so einen Notausgang freihalten.

Juna drehte sich zu Matthi um, er zuckte mit den Schultern. Einen Augenblick lang herrschte Stille, dann forderte Matthi Raphael mit einer Kopfbewegung dazu auf, ihm in sein Zimmer zu folgen. Während Raphael einfach in der Ecke neben einem eingestaubten Bücherregal stehen blieb, ließ Matthi sich auf seinen Schreibtischstuhl fallen. Juna schloss die Tür hinter sich und lehnte sich an die Schreibtischkante.

Raphael fühlte sich wie ein in die Enge getriebenes Kaninchen, Junas Augen blitzten wie die eines Raubtieres. „Erste Frage", begann sie, Matthi sah zu Boden. Vielleicht überlegte er sich noch, ob er das was sie sagte wirklich unterstützen wollte oder nicht. Zumindest versuchte Raphael sich das einzureden, damit er sich nicht ganz so unterlegen fühlte.

„Du hast Lissa wiederbelebt und gesehen, wie der Unfall zustande kam", stellte Juna fest und sah Raphael direkt in die Augen. Ihre waren von einem dunklen braun, das unter anderen Umständen vielleicht warm gewirkt wäre. Raphael nickte langsam.

„Der Fahrer des Wagens. Wie sah er aus? Wie sah das Auto aus?"

Raphael presste die Lippen zusammen, widerstand dem Drang, die Fingerknöchel knacken zu lassen. „Ich weiß es nicht, Juna", gab er dann leise zu. „Die Polizei hat mich das schon gefragt, aber ich weiß keine Antwort. Wirklich nicht."

Juna winkte ab. „Ich will nicht seine Körpergröße wissen. Aber zumindest seine Haarfarbe, sein Alter, einfach nur irgendetwas!" Raphael verkniff sich die Frage nach dem warum und tat stattdessen so, als überlege er. Dabei war ihm längst klar, dass nichts dabei herauskommen würde.

„An diesem Nachmittag... Da war das Aussehen des Fahrers vollkommen nebensächlich. Ich hab das verdrängt. Es war ein Mann, das weiß ich noch. Aber er kann genauso gut zwanzig wie dreißig gewesen sein. Ich weiß, dass sein Auto schwarz war, aber auf sein Kennzeichen hab ich nicht geachtet. Es ging einfach alles zu schnell!"

Raphael holte tief Luft. „Ich wünschte ich könnte mich an mehr erinnern, aber ich habe an diesem Nachmittag versucht Lissa das Leben zu retten. Da blieb nicht viel Zeit für andere Dinge." Juna nickte müde, plötzlich wirkte sie nicht mehr so selbstsicher und zuversichtlich. Vielmehr resigniert und müde.

„Es tut mir leid, Juna. Ich wünschte, ich hätte dir mehr sagen können."

Matthi zuckte mit den Schultern und sah Juna an. „Ich hab dir gesagt, dass es so ausgehen wird", murmelte er leise, Raphael konnte es trotzdem verstehen. Sie zog eine halbherzige Grimasse, dann drehte sie sich wieder zu ihm um.

„Lediglich eine letzte Frage." Raphael senkte den Kopf. „Lissa war auf dem Weg ins Freibad. Sie hatte eine rosafarbene Tasche bei sich." Er hielt den Atem an, der Staub des Bücherregals verfing sich in seiner Kehle und ließ sie staubtrocken werden. „Die Tasche stand am nächsten Tag vor Matthis Haustür. Nur ihr Handy, das ist weg."

Der Augenblick der Stille, der auf Junas Feststellung folgte zog sich quälend in die Länge. Genau das war seine Möglichkeit Lissas Handy ein für alle Mal loszuwerden. Er bräuchte es nur aus seiner Tasche ziehen und Matthi zurückgeben.

„Ich hab die Tasche vor der Haustür abgestellt, sie war in Frau Niederbachs Hecke geschleudert worden." Juna musterte ihn kritisch. „Und das Handy?" Raphael sah sie an. Sie war sowieso schon enttäuscht von seinen Antworten, ihm kam es so vor als würde sie sein Fehlverhalten schon geradezu erwarten. Es würde ihm nichts ausmachen, sie in ihren Annahmen zu bestätigen.

Matthi dagegen hatte erstaunt aufgeblickt, während Juna ihre Frage gestellt hatte. Ihn wollte Raphael nicht enttäuschen. Er wollte nicht, dass er sah, welche Nachrichten er von Lissas Handy aus gesendet hatte.

Lissas Handy; Raphaels schlechtes Gewissen brannte in seiner Hosentasche. Und trotzdem blieb er stumm.

Langsam schüttelte Raphael den Kopf. Er wollte gerade zu einer Antwort ansetzten, als ein schrilles Klingeln durch den Raum gellte. Er zuckte zusammen, rechnete damit, dass Juna Lissas Handy anrief und es genau in diesem Moment in seiner Tasche zu vibrieren begann. Bis er bemerkte, dass es sein eigenes Handy war, dass klingelte.

„Möchtest du nicht dran gehen?", fragte Matthi ruhig. Fahrig zog Raphael es hervor. „Ja?", meldete er sich. Rica, es war Rica die ihn anrief. „Victor ist auf dem Weg, er müsste jeden Moment bei der Bushaltestelle sein." Raphael nickte. „Okay", sagte er dann. Es fühlte sich komisch an, dass Rica das Wort Bushaltestelle benutzt hatte. Als wäre es für sie noch vollkommen nebensächlich, dass Lissa dort gelebt hatte.

„Dann bis gleich!", flötete Rica, sie hatten beide noch nie etwas von langen Telefonaten gehalten. Raphael räusperte sich verlegen. „Ich muss jetzt." Matthi nickte, Juna hatte immer noch nicht davon abgelassen, ihn misstrauisch anzusehen.

„Bis dann."

Niemand bewegte sich, während er sich von dem Bücherregal löste und zögerlich an Juna und Matthi vorbei ging. Auf der Türschwelle blieb er stehen. „Sag Bescheid, wenn du dich an etwas erinnerst", murmelte Juna. Raphael nickte und als er die Tür hinter sich schloss meinte er, ein flehentliches bitte gehört zu haben.

Auf der Treppe angelangt zwang Raphael sich dazu tief durchzuatmen. Die Anspannung verschwand mit jeder Treppenstufe, die er der Haustür näher kam ein bisschen mehr. Endlich konnte er wieder atmen.

Am Fuße der Treppe überlegte Raphael noch, ob er sich von irgendwem verabschieden sollte, doch seine Beine entschieden noch vor seinem Gewissen. Schneller als er es für möglich gehalten hätte, war Raphael durch die Haustür ins Freie getreten.

Das verrostete Bushaltestellenschild glänzte stumpf im Sonnenlicht, aus dem Garten drang ein entferntes Murmeln gedämpfter Stimmen. Auf einmal wünschte Raphael sich nichts weiter als ein wenig Schlaf. Die Beerdigung war anstrengend gewesen, Juna war anstrengend gewesen und außerdem wollte er nicht länger darüber nachdenken, was er mit Lissas Handy anstellen sollte.

Als Victor schließlich neben ihm hielt, stieg Raphael wie in Trance in den Lieferwagen. Er nahm nur am Rande wahr, dass Rica noch nicht neben ihm saß, sondern, dass sie sie erst noch abholen mussten. Victor fragte erst gar nicht, ob Raphael bei dem Jungen klingeln wollte, sondern ließ ihn an das Seitenfenster gelehnt weiterdösen.

Die Haustür öffnete sich, Rica trat heraus, warf sich ihren Rucksack über die Schultern. Raphael schloss die Augen, den Duft von Blumenerde und Rindenmulch in der Nase. Eine Tür wurde geöffnet, der Motor brummte. Ein Klopfen, direkt neben Raphaels Kopf. Der braunhaarige Junge stand vor dem Fenster und hielt ihm ein Tuch entgegen. Raphael kurbelte das Fenster herunter.

„Rica hat das noch vergessen", sagte der Junge und als er lächelte zeigte sich ein Grübchen auf seiner linken Wange. „Danke!", rief Rica vom Sitz neben ihm und warf dem Jungen eine Kusshand zu. Raphael nahm das Tuch entgegen und reichte es Rica. Noch bevor Victor sein Kreuzverhör über den unbekannten Referatspartner beginnen konnte, war Raphael auch schon eingenickt.

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