12 - Matthi

„Du bist gekommen."

Verwundert blickte Raphael zur Seite. Matthi hatte die tratschenden Damen mittleren Alters überholt und ging jetzt federnden Schrittes neben ihm her.

Raphael räusperte sich. „Ja, sieht so aus." Matthi nickte und schwieg. „Wurde mehr oder weniger dazu überredet", fügte Rapahel nach einigen Sekunden hinzu. Er spürte Lissas Handy in seiner Hosentasche. Er musste es ihm geben. Jetzt.

„Matthi, ich-" Ein riesiger Knoten bildete sich in seiner Kehle undschnürte ihm die Luft zu. „Ich muss dir-" Am Ende des geschotterten Weges blieb Matthi stehen und sah Raphael erwartungsvoll an. „Ja?" „Erinnerst du dich-", Raphael stieß einen Stein über den frisch gemähten Rasen, „'Tschuldige. Natürlich erinnerst du dich. Blöder Anfang. Ich meine bloß diese pinke-"

Matthi sah ihn an, seine Augen erinnerten Raphael immer noch an die seiner Schwester. Bestimmt gehörten Augen zu den Körperteilen, die unter der Erde als erstes verotteten oder von Maden und Würmern zerfressen wurden.

Raphael sah ausweichend über Matthis Kopf hinweg in den Himmel. Als hätte er durch die Beerdigung, dem ersten mehr oder minder freiwillig besuchten Gottesdienst seit seiner Kommunion, seinen Glauben an den alten bärtigen Mann im Himmel wiederentdeckt.

„Matthi!"

Sie drehten sich gleichzeitig um. Juna kam aus der Menschenmenge auf sie zu gelaufen und löste sich aus dem schwarz vor sich hin trottenden Pulk aus Taschentüchern und schwarzen Handtaschen. Sie trug ein gelbes Kleid und einen dunklen Koffer auf dem Rücken. „Ich hab dich schon gesucht!", stieß sie aus und kam vor ihnen zum Stehen.

„Jonathan", sagte sie knapp und musterte ihn mit zusammengekniffenen Augen. „Raphael", verbesserten Matthi und er sie gleichzeitig. Juna verzog entschuldigend das Gesicht. „Raphael, ja klar", verbesserte sie sich halbherzig und tat immerhin so, als würde sie sich daran erinnern, wie er wirklich hieß.

Raphael winkte ab, obwohl es ihm eigentlich unbegreiflich war, wie man ihn mit Jonathan verwechseln konnte. Immerhin war er drei große Köpfe größer als Jonathan und sprach sogar gelegentlich.

„Hast du eben gespielt?", fragte Raphael und deutete auf den Koffer, der verdächtig saxophonförmig war. Juna lächelte und wischte sich beiläufig eine Träne aus dem Augenwinkel. „Ja, doch. Das habe ich. Das war unser Lied." Sie schaute versonnen an Raphael vorbei. „Ich habe von der BigBand den Solipart bekommen und Lissa durfte das erste Mal die Solistin aus der dreizehn vertreten. Keine Ahnung, Musik war immer irgendwie unser Ding." Sie lächelte, Matthi schien sich unwohl zu fühlen.

Er schwankte unruhig von einem Bein aufs andere. Es wurde unangenehm still, bis Juna sich von Raphael abwandte. „Matthi", setzte sie an, „was ich eigentlich fragen wollte ... Könntet ihr mein Saxofon mit dem Auto mitnehmen? Ich bin mit dem Rad gekommen und das Ding ist echt schwer."

Matthi fuhr sich gedankenverloren durch das ordentlich zurück gekämmte Haar. Sogleich versuchte er, es wieder zu richten. „Ja, klar. Kein Problem." Juna nickte und stellte ihm den Koffer vor die Füße. „Dann sehen wir uns gleich bei euch?"

Raphael trat einen Schritt zurück und schüttelte den Kopf. Bis er bemerkte, dass Juna ihn wahrscheinlich gar nicht gemeint hatte. Aber seine Geste war ohnehin nicht bemerkt worden.

Juna umarmte Matthi zum Abschied und machte eine komische Verrenkung in Raphaels Richtung. „Kommst du auch noch mit?", fragte Matthi, während Juna als leuchtend gelber Punkt inmitten der schwarzgekleideten Masse in Richtung Ausgang geschwemmt wurde.

„Wohin?", fragte Raphael und kam sich dabei etwas dümmlich vor.

„Leichenschmaus", antwortete Matthi und lachte kurz auf. „Komisches Wort. Als würde man eine-" Er schluckte und das erste Mal an diesem Tag konnte Raphael so etwas wie Unsicherheit an ihm feststellen. „Nein, ich denke nicht", antwortete Raphael hastig. „Eine Freundin nimmt mich wieder mit zurück. Es wäre zu spät, schätze ich."

Matthi nickte, es war schwer einzuschätzen, was er darüber dachte. „Ja, die Zeit ist in der Tat etwas ungünstig. Wir wollten die Beerdigung eigentlich am Vormittag stattfinden lassen, aber mit unserm Anliegen konnten wir bei einer äußerst resoluten Dame, seit neustem Witwe, leider nicht landen."

Raphael verzog seine Mundwinkel zu einer undefinierbaren Grimasse, Matthi verdrehte die Augen. „Du darfst lachen. Das weißt du, oder?"

„Ja, natürlich. Ich-" Matthi schüttelte belustigt den Kopf, eine blonde Locke fiel ihm in die Stirn. „Ich hab versucht, meine Eltern davon zu überzeugen, dass nicht alle in Schwarz kommen. Lissa war siebzehn, sie selbst besaß keine Klamotten für eine Beerdigung. So ein Schwachsinn." Er scharrte mit der Schuhspitze im Kies, ein Stein landetete Raphael zu Füßen. Trockener Staub wurde aufgewirbelt. Eine Gruppe von Jungen aus Matthis Stufe kam auf sie zu, mit gedämpfter Stimme herumalbernd. Sie sprachen lauter, nachdem sie an ihnen vorbei gegangen waren.

„Ich hab übrigens auch keine Klamotten für eine Beerdigung", eröffnete Raphael Matthi plötzlich, nachdem die Stimmen im Allgemeinen Gemurmel untergegangen waren. „Das hier ist mein Schlafanzugsoberteil."

Matthi starrte ihn ungläubig an, Raphael begriff selbst nicht so ganz, warum er das überhaupt gesagt hatte. Dann platzte ein Lachen aus Matthi heraus, das eine zutiefst betroffene Frauengruppe dazu veranlasste, ihnen pikierte Blicke zuzuwerfen.

Sie wurden schnell wieder ernst.

Raphael schob den Stein zu Matthi zurück, als er ihn wieder wegschießen wollte, landete er im Gras neben dem Weg. Matthi hatte aufgehört zu lachen und Raphael durchbrach die Stille. „Ich finde das gut", begann er zögerlich. „Wie du damit umgehst und ... Ich meine ich kannte deine Schwester nicht, aber wahrscheinlich hast du Recht. Vielleicht wäre eine bunte Beerdigung treffender gewesen."

Matthi zog die Schultern hoch. „Nur wissen können werde ich das nie", schloss er und trotz seiner hochgezogenen Mundwinkel entging Raphael der düstere Unterton seiner Stimme nicht. Matthis Hand legte sich ruckartig an Junas Saxofonkoffer.

„Ruf deine Freundin doch nochmal an. Immerhin gäbe es bei uns noch etwas zu essen." Matthi legte den Kopf schief und zuckte mit den Schultern. „Argumentieren kannst du", gab Raphael zurück, jetzt traute er sich, zu lachen.

Matthi salutierte und schulterte den Saxofonkoffer. Raphael beobachtete, wie er sich auf dem Weg zum Parkplatz zwischen den Menschengruppen hindurch schlängelte und mit gequälter Miene die Hand eines Verwandten von seiner Schulter schüttelte.

Um den Weg nicht weiter zu versperren, stellte sich Raphael etwas abseits und griff in seine Hosentasche, um sein Handy einzuschalten. Das Display leuchtete auf und obwohl das Hintergrundbild durch die scheinende Sonne kaum hell genug leuchtete, hätte Raphael das Handy beinahe fallen lassen.

Fahrig blickte er sich um, aber niemand hatte seine plötzliche Panik bemerkt. Mit klopfendem Herzen ließ er Lissas Handy zurück in seine Tasche gleiten und zog stattdessen sein eigenes hervor. Er verwählte sich einmal, bis er endlich Ricas Nummer eingetippt hatte.

Das war eine seiner Marotten. Raphael verabscheute es, jemanden über die eingespeicherte Nummer anzurufen. Insgesamt kannte er zwölf Telefonnummern auswendig, er hatte eine Ewigkeit dafür gebraucht sie zu lernen.

Es dauerte eine Weile, bis Rica abnahm. „Hello!", trällerte sie so laut, dass Raphaels Ohren klingelten. Er hielt ein wenig mehr Abstand. „Hi Rica", sagte er betont leise, fast flüsternd. „Oh, Raphael", fuhr sie in normaler Lautstärke fort, er konnte sich geradezu bildlich vorstellen, wie sich ihr Mund zu einem runden O formte.

„Bist du fertig? Ich meine, hast du deinen Bruder schon angerufen?", fragte Raphael und wollte auf einmal nichts dringlicher, als wieder zuhause zu sein. Schweigend hoffte er darauf, dass sie ihn nicht am Telefon nach der Beerdigung fragen würde.

„Victor?"

„Mmh", machte Raphael, wohlwissend, dass das eine Lückenfüllerfrage gewesen war.

Ein Wispern kam aus dem Hintergrund, dann ein kehliges Lachen. „Bist du noch dran?" Raphael bemühte sich, nicht verärgert zu klingen. Um ihn herum dünnte der Strom der Menschen langsam aus. Taxis wurden gerufen, er konnte Matthi dabei zusehen, wie er sich von ein paar Jugendlichen verabschiedete. Sie waren ehemalige Klassenkameraden, er kannte sie nur grob vom Sehen.

„Raphael, du hör mal ...", begann Rica und Raphael ahnte bereits, dass etwas nicht so funktionieren würde wie geplant. „Wir sind leider noch lange nicht fertig und-" Eine Pause entstand, wieder füllte dieses Lachen, das Raphael nicht einordnen konnte, den Hintergrund. „Lukas, lass das!", ertönte Ricas Stimme etwas leiser, sie hatte es nicht geschafft, das Mikrofon komplett zuzudecken. Jetzt lachte auch sie.

„Rica, das ist echt blöd jetzt. Ich steh hier auf dem Friedhof und-", begann Raphael seine Ich-war-gerade-auf-einer-Beerdigung-Karte auszuspielen. „Alle gehen jetzt Essen und ich steh hier rum wie der letzte Depp. Wir hatten doch abgemacht, dass Victor uns nachher abholt!"

Die gute Laune, die Matthi eben paradoxerweise verströmt hatte, war wie weggeblasen. „Aber du kennst doch den Herrn Michhäuser. Der rastet aus, wenn wir diesen dämlichen Vortrag nicht halten", rechtfertigte Rica sich, was bei Raphael sofort die Frage aufwarf, wie intensiv sie sich bisher wohl mit dem Vortrag beschäftigt hatte.

Irgendetwas sagte ihm, dass das wahrscheinlich weniger der Fall gewesen war.

Raphael seufzte und wollte schon auflegen, aber Rica war noch nicht fertig. „Du hast doch gerade etwas von Essen gesagt. Essen ist immer gut, geh doch einfach mit. Das hier bei uns kann noch etwas dauern. Herr Michhäuser will ein Plakat und keine aus dem Netz gezogene PowerPoint ..." Raphael grummelte etwas in sich hinein, vom anderen Ende der Leitung ertönte Knistern und Rauschen gemischt mit Stimmengewirr.

„Hör mal", sagte Rica gedämpft. „Lukas Bruder kommt gerade rein und nervt. Ich ruf dich einfach an, wenn ich fertig bin. Ist das Essen bei Lissa zu Hause? Dann kommen wir dich direkt da abholen." „Ich-", setzte Raphael an und überlegte es sich anders. „Ja, es ist dort", bestätigte er resigniert. Rica gab eine knappe Zustimmung von sich, dann war die Leitung tot.

Der Kiesweg hatte sich komplett geleert. Auf dem Bürgersteig unterhielt sich der Pastor mit einem Ehepaar, ein Auto fuhr vom Parkplatz und ließ Raphael und ein paar vereinzelte nachzügler im Anzug zurück. eder kickte er nach einem Stein, aber Matthi war weg, also landete er in einer Rasenkuhle neben dem Weg.

„He!", ertönte eine Stimme von hinten. „Bist du nicht der Typ von eben?", rief ihm der rauchende Anzugträger zu, dem Raphael schon vor der Kirche begegnet war. Raphael hielt die Luft an, der hochkonzentrierte Qualm um ihn herum war Übelkeit erregend. Er hielt ihm trotzdem die Pforte auf.

Der Mann beeilte sich, zeigte ein gelbzähniges Grinsen und schlüpfte durch den Spalt. „Wie kommst du nach Hause?", fragte er und zerdrückte seine Zigarette auf dem Asphalt. „Ähm", begann Raphael und musste an Herrn Tuchka denken. Er hatte sich ein T-Shirt mit dem Aufdruck Ähm ist ein kreativer Satzanfang machen lassen.

„Im Moment komm ich noch nicht nach Hause. Der Bruder einer Freundin holt mich später ab, aber", Raphael machte eine wegwerfende Handbewegung, „ist eigentlich auch egal. Ich setzte mich einfach auf irgendeine Bank und warte."

Der Mann sah ihn an, musterte ihn, dann ging er zu den anderen Anzugtragenden Männern hinüber. „Haben wir noch einen Platz frei, Bertie?" Raphael spürte, wie sich seine Wangen röteten. Schnell ging er auf die Männer zu. „Das ist wirklich nicht nötig, es dauert nicht mehr lange, dann kommt meine Freundin, also der Bruder einer Freundin und-"

Raphael verhaspelte sich, einem der Männer entwich ein Lachen. „Er ist mit Matthias befreundet, sie haben sich eben unterhalten", fuhr der Raucher fort. Raphael fühlte sich mehr als unwohl. „Einen Platz haben wir noch, aber dann sollten wir jetzt auch los." Bertie sah auf die dicke Armbanduhr an seinem Handgelenk.

Wenig später saß Raphael in der Mitte eines dunkelgrünen Volkwagens, eingequetscht zwischen dem Mann, der gelacht hatte und von dem Raucher. Die Kombination aus Schweiß und Zigaretten war widerlich. Bertie saß am Steuer, auch seine Stirn zierten Schweißperlen.

„Sind Sie mit Lissa-" Raphael stockte und formulierte um. „Ich meine, sind Sie mit Matthi verwandt?", fragte er stattdessen und versuchte sich so klein zu machen wie möglich. Das Auto schien mit jeder Sekunde kleiner zu werden.

Der Mann auf dem Beifahrersitz drehte sich zu Raphael um. „Melissa war unserer Nichte." „Aber wir haben nicht so viel mit Harald zu tun", fügte der Raucher freizügig hinzu und kassierte einen warnenden Blick von Bertie. „Harald ist der älteste Bruder von uns", erklärte Bertie mit starr auf die Straße gerichtetem Blick, als hielte diese Information für wichtig.

Raphael murmelte etwas Zustimmendes und dachte darüber nach, ob die Anzahl der Kinder, die man bekam, vererbt werden konnte. Bertie fuhr eine Kurve, Raphael versuchte angestrengt, sich nicht auf den nach Schweiß riechenden Mann zu seiner linken zu legen, was dazu führte, dass der Raucher ihm umso näher auf die Pelle rückte.

Am Ende war er froh, als er endlich aus dem Auto klettern konnte.

Bertie hatte verbotenerweise an der Bushaltestelle geparkt, Raphael blickte sich zweimal um, bevor er die Straße überquerte.

„Nobler Schuppen", bemerkte der Raucher und wühlte in seinen Hosentaschen. Vermutlich suchte er sein feuerzeug. „Danke fürs Mitnehmen", sagte Raphael vage. Er hatte nicht das Gefühl, dass ihm jemand zugehört hatte. Er wollte so schnell wie möglich weg von Bertie und den anderen. Sie machten ihn nervös, außerdem musste er Lissas Handy loswerden. Vielleicht würde er es in ihrem Zimmer verstauen können, dann würde nie jemand herausfinden, dass er es gewesen war, der Juna geschrieben hatte.

„Riecht nach Geld", murmelte der Beifahrer, als sie vor dem schmiedeeisernen Gartentor standen. Bertie drückte es auf. „Hat ihnen auch nicht viel genutzt. Da sieht man es mal wieder", sagte er schroff.

Raphael hastete als erstes durchs Tor und ging schnellen Schrittes auf den Pavillon zu, der auf dem Rasen aufgebaut worden war. An einem Stehtisch stand Juna mit einem Mädchen aus der BigBand, sie warfen Raphael misstrauische Blicke zu und machten ihm unmissverständlich klar, dass er hier nicht zu suchen hatte.

Matthi dagegen, der ein Tablett samt eisgekühlter Getränke balancierte, kam freudestrahlend auf ihn zu. „Was zu trinken?", fragte er und drückte ihm im selben Atemzug ein Glas Apfelsaftschorle in die Hand. Stirnrunzelnd sah Raphael ihn an. „Musst du das heute wirklich machen?", fragte er erstaunt. Matthi zuckte mit den Schultern.

„Eigentlich nicht. Aber irgendeine Aufgabe brauch ich ja." Er lächelte, Raphael nippte an seinem Saft. „Die meisten meiner Freunde schreiben am Montag ihre erste schriftliche Prüfung. Englisch. Sie meinten, sie müssten noch was tun", fügte Matthi hinzu. Raphael fragte sich, ob er diese Erklärung für nötig gehalten hatte.

Immerhin wusste er noch, dass Matthi nicht zu den Menschen gehörte, die wenige Freunde besaßen. Offensichtlich herrschte nur ein Mangel an Freunden, die bereit waren, für den Leichenschmaus zu bleiben.

„Da kommt Juna", bemerkte Raphael und blickte Matthi über die Schulter. Matthis Blick glitt zur Terrassentür, dann zur Straße. Hätte Raphael es nicht besser gewusst, hätte er vermutet, er suche einen Fluchtweg.

Schon an der Art und Weise, wie sich Juna durch den Garten bewegte, konnte man erkennen, dass sie häufig hier gewesen sein musste. „Hi", begrüßte sie Raphael und legte Matthi eine Hand auf die Schulter. Raphael überkam plötzlich das Gefühl, sich für sein Hiersein rechtfertigen zu müssen. „Ich bin gleich wieder weg. Der Bruder meiner Freundin sollte eigentlich kommen, aber", begann er überstürzt, bis ihm aufging, dass Juna das wahrscheinlich nicht im Geringsten interessierte.

„Aber er verspätet sich anscheinend", schloss Raphael schwammig und wünschte sich, nie mit Bertie und den anderen ins Auto gestiegen zu sein. Dann hätte er jetzt vielleicht irgendwo in der Sonne auf einer Bank am Friedhof vor sich hin geschwitzt, aber immerhin wären ihm solche Situationen erspart geblieben. Junas Blick lastete immer noch auf ihm. Er war weder ablehnend noch offen, aber das Gegenteil von neutral.

„Matthi", wandte sie sich von Raphael ab und ihre Finger gruben sich tiefer in Matthis inzwischen leicht aufgeknöpftes Hemd. „Ich wollte dich noch sprechen. Du weißt schon." Ihre Stimme klang drängend, Raphael glaubte, sich niemals stärker fehl am Platz gefühlt zu haben, als in diesem Moment.

„Ich hab hier noch die Getränke", brachte Matthi widerstrebend hervor und schüttelte ihre Hand von seiner Schulter. Junas Augen, die von Natur aus schon schmal und mandelförmig waren, verengten sich zu Schlitzen. Es verlieh ihr, trotz der mit Sommersprossen gesprenkelten Nase, asiatische Züge. Je länger Raphael sie ansah, desto sicherer wurde er sich, dass irgendetwas Chinesisches ihr Erbgut gekreuzt haben musste. Merkwürdig, dass ihm das die ganzen Jahre nicht aufgefallen war.

„Die Getränke werden dich kaum davon abhalten, mit mir zu reden", sagte Juna schnaubend und sprach weiter, bevor Matthi sie unterbrechen konnte. „Und wenn du dich so um sie sorgst, bin ich mir sicher, dass Raphael das kurz für dich übernehmen würde. Oder?"

Auffordernd richteten sich die potenziell asiatisch, vielleicht auch chinesischen Augen auf ihn. Juna war die einzige von ihnen, die sich nicht unwohl zu fühlen schien, Matthi trat ständig von einem Bein aufs andere. Raphael räusperte sich. „Ja, klar. Warum nicht. Kein Problem", antwortete er schließlich hohl. „Das ist doch albern", wandte Matthi halbherzig ein, aber da hatte Juna ihm das Tablett auch schon aus der Hand genommen. Ein bisschen Orangensaft schwappte über und sammelte sich am Boden des Servierbretts.

„Du musst damit nicht rumgehen, oder so", rief Matth ihm zu, während Juna ihn voräwrts in Richtung Terrassentür schob. „Stell es einfach dahinten ab." Dann fiel die Terrassentür zu und Raphael stand alleine, nur mit einem Tablett in der Hand in Lissas Garten. Hatte er sich eben fehl am Platz gefühlt, dann war das jetzt die ultimative Steigerung.

Weil es irgendwie seltsam war, regungslos wie eine Statue mitten auf der Wiese zu stehen, ging Raphael zum Pavillion und stellte das Tablett vorsichtig auf eine noch unbesetzte Bierbankgarnitur. Jetzt hatte er nichts mehr in den Händen. Kein überschwemmtes Tablett, kein gar nichts. Nur Lissas Handy in der Hosentasche.

Unter einem zweiten Pavillion war ein Buffet aufgestellt worden. Wären nicht alle dunkel gekleidet gewesen, hätte man es fast für ein Sommerfest oder eine Gartenparty halten können. Die Gäste hatten sich um Kaffeekannen und Türme aus Blechkuchenstücken gescharrt, man merkte, wie die Stimmung langsam gelöster wurde. Ein Mann trug ein Kleinkind auf dem Arm und brachte es zum Lachen, indem er versuchte, sich Salzstangen quer in den Mund zu schieben.

Als Raphael bemerkte, wie sich der Raucher aus der Gruppe seiner Brüder löste und einen Schritt auf ihn zu machte, nahm er Reißaus und wählte den schnellstmöglichen Fluchtweg durch die Terrassentür ins Haus.

Sofort empfing ihn eine angenehme Kühle. Der Boden war mit dunklem Parkett ausgelegt und als er sich umsah, meinte er zu verstehen, was die Brüder bei ihrer Ankunft gemeint hatte. Ein Stummelflügel stand dekorativ im Raum, an einer Wand hing eine großformatige gerahmte Fotografie. Auf einem schmalen Sideboard sammelten sich Bilderrahmen, ein älterer Mann betrachtete sie, über seinem Gehstock in sich zusammengesunken.

Im Vorbeigehen erhaschte Raphael einen kurzen Blick auf eines der Bilder. Lissa und Matthi breit grinsend vor einer Sandburg. Zwischen Lissas Schneidezähnen klaffte eine risige Lücke, auf die Turmspitze der Burg hatten sie eine Möwenfeder gesteckt.

Er wandte sich ab und ging langsam in Richtung Flur. Vielleicht sollte er einfach so tun als suche er das Gäste WC. Irgendwie musste er ja die Zeit totschlagen, bis Rica sich meldete. Oder er den Mut fand, die Sache mit dem Handy endlich hinter sich zu bringen.

Auf einem verlassenen Stehtisch standen leere Gläser und eine Schale mit Snacks. Wenn Rica ihn nicht hierher geschleppt hätte, hätte er schon zu Abend gegessen gehabt. Kurzerhand nahm er sich eine Handvoll. Kaum hatte er sich ein paar in der kleinen seltsam geformten Kugeln in den Mund gesteckt, bereute er seine Entscheidung. Das Zeug war salzig und schmeckte nach in wrackigem Hafenwasser gezüchteten Miesmuscheln.

Verzweifelt suchte Rapahel nach herumliegenden Servierten, Taschentüchern, einfach irgendetwas, in dem er die Pampe in seinem Mund verschwinden lassen konnte. Jetzt musste er das Gäste WC umso dringender finden.

„Jonathan!"

Raphael fühlte sich nicht angesprochen, bis Lissas Mutter aus der Küche heraus vor ihn trat. „Wie schön, dass du gekommen bist!" Er nickte, lächelte zahnlos und versuchte gleichzeitig, den Miesmuschel-Snack herunterzuwürgen. Hinter Lissas Mutter standen Frauen um einen Küchenblock herum und beobachteten ihr Gespräch aus den Augenwinkeln.

„Hallo Frau Ludwig", grüßte er und hoffte gleichzeitig, dass ihm die Miesmuscheln in Kugelform keinen Mundgeruch verpassten. „Vielen Dank für die Karte." Er räusperte sich und merkte, wie sich seine Wangen röteten. „Ich meine, für die lieben Worte und ..." Raphael ließ das Ende seines Satzes in einem Hüsteln verklingen und wechselte von einem Bein aufs andere.

Pia schüttelte in einem sanfen Wiegen den Kopf. Alles an ihr schien sanft zu sein. Die Wellen der kurzgeschnittenen goldbraunen Haare, die vorgewölbte Stirn, die weiche Stimme. „Nicht dafür. Wir haben zu danken", erwiderte Pia und lächelte. Raphael blieb nichts anderes übrig, als sie zu bewundern. Dafür, wie gefasst sie war und wie sicher sie wirkte. „Es tut mir leid. Ich kannte Lissa nicht besonders gut, aber ..." Er schluckte und sah auf seine Füße. Der Küchenboden war mit dunklen, quadratischen Fliesen ausgelegt. „Es muss unglaublich schwer sein."

„Oh, das ist es", sagte Pia verwundert. „Mehr als das. Aber das ist es immer und vielleicht ist es hilfreich, das zu wissen." Raphael verstand nicht ganz, was sie damit meinte, nickte aber trotzdem. Pia richtete sich auf und strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr. „Ich habe Matthi und Juna eben nach oben gehen sehen, ich nehme an, du suchst sie?" Überrascht vom plötzlichen Themawechsel, hatte er ihr schon zugestimmt, bevor er den Sinn der Frage verstanden hatte. „Matthi gehört das Zimmer vorne rechts, du wirst es schon finden." „Ja, danke." Er deutete mit einer Hand vage in Richtung Flur. „Ich geh dann mal."

„Ist das der Junge?", fragte eine der Frauen laut, als Raphael ihnen gerade den Rücken gelehrt hatte. Er verharrte und hörte, wie eine Pia die Frage deutlich leiser bejahte. „Ach, dann hat er auch mit Fußball gespielt?", fragte eine andere Frau mit deutlich krächzenderer Stimme. Raphael befand, dass sie die Goldmedaille der Unsensibilität verdient hatte. Pia war trotzdem nicht aus der Ruhe zu bringen.

Vorsichtig ging Raphael ein paar Schritte, bis er sie klar verstehen konnte. „Nein, er stand nur an der Bushaltestelle. Matthias, mein Ältester, hat mit den Kleinen im Garten herumgealbert. Die Zwillinge spielen jetzt seit fast zwei Jahren im Verein." Ein Schweigen trat ein. Raphael ließ den Miesmuschel-Snack zerbröselt in seine Hosentasche rieseln und streifte sie an seiner Hose ab. Er wollte sich auf den Weg nach oben machen, als Pia weitersprach.

„Matthi konnte nicht einmal sagen, wer letztendlich geschossen hat."

Raphaels Mund wurde staubtrocken. Er war da gewesen, als es passierte, er hatte zu ihnen herübergeblickt und gesehen, wer geschossen hatte. Und Raphael hatte in Matthis Augen gesehen, dass auch ihm bewusst gewesen war, wer den Ball an Lissas Kopf vorbeigeschossen hatte. Weil es sein Ball gewesen war, der dafür verantwortlich gewesen war, dass sie ihren Kopf gedreht und im entscheidenden Moment nicht hingesehen hatte.

Mit schnellen Schritten entfernte sich Raphael von der Küche, ihm war schlecht und seine Gedanken kreisten. Er registrierte seine Umgebung, ohne sie richtig zu sehen. Den Flur, an den sich die Treppe anschloss. Einen riesigen vor einer Wand schwebenden Ast, an dem Kleiderhaken befestigt waren.

Matthi hatte geschossen und er leugnete es.

Der Handlauf des Treppengeländers war aus hellem Holz. Vielleicht dasselbe, aus dem auch der Sarg gewesen war. Durch ein hohes schmales Fenster fiel der Blick auf Straße. Das schwarze Auto in der Einfahrt wirkte schlank und bullig zugleich. Raphael fiel ein, dass er gar nicht wusste, was Lissas Eltern beruflich machten.

Vielleicht leugnete Matthi es nicht, sondern hatte es bloß verdrängt.

Langsam nahm Raphael eine Treppenstufe nach der anderen. Sie waren ebenfalls aus Holz, das einfallende Sonnenlicht hatte sie erwärmt. Oben angekommen blieb er stehen. Rechts musste Matthis Zimmer liegen und ihm gegenüber –

Er würde nicht in Matthis Zimmer gehen. Er würde Lissas Handy endlich ein für alle Mal loswerden.

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