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Als Raphael nach Hause kam, merkte er schon an der Art und Weise wie seine Mutter ihm die Tür öffnete, dass etwas nicht stimmte.

„Raphael", sagte sie gefährlich leise, auf diese Art und Weise, wie sie nur Mütter beherrschten.

„Ja."

„Wir haben heute eine Mail bekommen." Raphael verzog das Gesicht und sagte nichts. „Von Herrn Büchner." Er ahnte Schlimmes. Herr Büchner sollte endlich Rektor werden, damit er nicht so viel Zeit hatte, um sich in das Leben seiner Schüler einzumischen. Raphaels Mutter hatte ihn noch nicht reingelassen. Die Haustür stand einen Spalt breit offen und sie mitten drin. Keine Chance, ohne Spießrutenlauf in sein Zimmer zu gelangen.

„Kannst du dir eigentlich vorstellen, wie es ist, so etwas über den Rektor zu erfahren? Raphael, wie bist du auf die Idee gekommen-" „Streng genommen", unterbrach er sie, „ ist Herr Büchner nicht unser Rektor. Das ist eine Frau, schon seit einem Jahr." Wahrscheinlich hätte er diese Information lieber für sich behalten.

Seine Mutter atmete geräuschvoll die Luft aus. „Umso besser Raphael, umso besser! Ich habe doch heute Morgen noch gesagt, dass ich immer für dich da bin. Immer, Ellie. Und was ist der Dank dafür? Dass du etwas Derartiges einfach verschweigst?"

Raphael wich dem vorwurfsvollen Blick seiner Mutter aus und schaffte es, sich kurz und augenscheinlich beiläufig zum Nachbarhaus umzudrehen. Das half häufig, es half auch jetzt. Seine Mutter schob ihn mit einer harschen Bewegung in den Hausflur hinein.

„Weißt du, Ellie, es tut weh zu wissen, dass der eigene Sohn einem nicht vertraut."

Raphael sah den strengen, zu einer dünnen Linie zusammengekniffenen Mund seiner Mutter, die steile Falte auf ihrer Stirn, die blitzenden Augen. Er war schon seit er vierzehn war größer als sie.

Er bemerkte erst nach einigen Sekunden, dass sie eine Antwort von ihm erwartete. „Ich bin halt nicht der Typ für sowas", warf Raphael in den stillschweigenden Raum zwischen ihnen. Noch war es zu früh, um sich an ihr vorbei in sein Zimmer zu drücken.

„Wie kann man denn nicht der Typ für so etwas sein? Das ist mir vollkommen unverständlich, Raphael! Das nennt man Konversation, das ist die Basis unseres menschlichen Zusammenlebens!" Raphaels Körper versteifte sich. „Siehst du? Da haben wir es doch! Du verstehst mich nicht, ihr versteht mich nicht! Kommunikation fehlgeschlagen."

„Und das ist etwa der Grund uns so etwas zu verheimlichen?" Ihre Wangen röteten sich, wenn sie aufgebracht war. Dann ähnelte sie Frau Dietrich, sie bekam ebenfalls die hektischen Felcken. „Ja noch nicht mal verheimlichen, leugnen und lügen, Raphael! Leugnen und lügen."

„Ich hab dich nicht angelogen, Ma", sagte Raphael und versuchte sich seine Wut nicht anmerken zu lassen. Dabei hatte er schon die Hände zu Fäusten geballt.

„Ich hatte den Zeitungsartikel in der Hand, Ellie. Ich habe mit dir darüber geredet, dir meine Hilfe angeboten." Jetzt hatte ihre Stimme die vorherige Schärfe verloren, geblieben war die Enttäuschung. Nach jahrelanger täglicher Übung beherrschte sie das perfekt. Das Schalter-Umlegen von Wut zu Enttäuschung binnen weniger Sekunden.

„Ich möchte so wichtige Informationen nicht aus einer E-Mail des Konrektors erfahren, sondern von meinem Sohn. Ist das denn zu viel verlangt? Ich kann froh sein, nicht mit einer der Nachbarinnen darüber geredet zu haben. Es ist eine Demütigung, das ist es."

Raphael hatte seine Hände immer noch zu Fäusten geballt, er sah wie eine hellblaue Ader an seinem Unterarm hervortrat.

„Weißt du was, Ma? Du hast mir gerade genauestens vor Augen geführt, warum ich es dir nicht gesagt habe. Weil du nämlich einen riesigen Aufstand veranstaltest! Und trotzdem geht es dir bei der ganzen Sache nur um das Gerede. Das Gerede der Nachbarn, wie es wohl wirkt, wenn du es aus einer E-Mail erfährst. Hast du mich gefragt wie es mir geht? Nein! Hast du mich gefragt ob ich jetzt Hilfe brauche?" Er sah sie auffordern an, bevor er ihr das nächste nein entgegen schleuderte.

„Das einzige was du kannst, ist daran denken, was für einen Einfluss das Ganze auf dein unbedeutendes Leben machen könnte. Also lass mich jetzt bitte in Ruhe, ich habe nicht die geringste Lust, dir auch nur irgendetwas zu erzählen. Weder jetzt, noch in Zukunft!"

Er presste seinen Kiefer so feste aufeinander, dass er Angst hatte, seine Zähne würden sich gegenseitig zermalmen. Raphaels Mutter stand dort wie festgefroren. Sie regte sich nicht, er war sich nicht sicher, ob sie überhaupt atmete.

„Und nein, heute habe ich keinen Hunger. Ich bleibe auf meinem Zimmer."

Um seine Würde zu bewahren verzichtete Raphael darauf, so laut wie möglich die Treppenstufen hinauf zu poltern, dafür verlor er an der Zimmertür seine Selbstbeherrschung. Mit einem satten Knallen fiel sie ins Schloss. Raphael hatte große Lust, sie wieder aufzureißen, eine Beleidigung rauszuschreien und sie ein zweites Mal zuzuschlagen.

Jeden Muskel bis zum Zerreißen gespannt verharrte Raphael bewegungslos in der Mitte seines Zimmers. Sein Zimmer war klein und wirkte noch kleiner, weil eine Hälfte des Raumes von einer Dachschräge zerdrückt wurde. Am tragenden Holzbalken hingen ein paar seiner Fotografien. Handgefertigte Abzüge in schwarz weiß. Herr Tuchka, Raphael und zwei Sechsklässler, die zur Strafe in die Foto-AG gesteckt worden waren, hatten im Dezember den Schnee fotografiert. Dazwischen gequetscht hingen Kohlezeichnungen. Rica regte sich über sie auf, wenn es sonst nichts gab, über das sie sich aufregen konnte. Wunder dich nicht, wenn du deswegen mal depressiv wirst hatte sie gesagt, was ironisch war, weil sie selbst dazu neigte. In den Phasen, wo sie vor dem Spiegel stand und die schwarze Haartönung im Regal anstarrte.

Als die Wut in seinem Bauch nur noch schwelte, setzte Raphael sich auf sein Bett und fischte den Umschlag aus seinem Rucksack.

Die Einladung zur Beerdigung war schlicht, minimalistisch. Ein gepresstes Vergiss-mein-nicht lag zwischen den handbeschriebenen Karten. Raphael begann, sich wie ein Eindringling zu fühlen. Mehr noch, als beim Lesen von Junas Nachrichten. Es war befremdlich, eine Einladung erhalten zu haben, die ansonsten wahrscheinlich nur an engste Verwandte geschickt worden war.

Jonathan,

wir möchten dir danken, dass du am Freitagnachmittag da warst, und Lissa zur hilfe gekommen bist. Du hast ihr eine große Ehre erwiesen, du hast Engagement und Zivilcourage bewiesen. Mehr als alle anderen. Auch wenn dein beherztes Einschreiten Melissas Leben nur um wenige Stunden verlängern konnte, uns haben diese Stunden viel bedeutet. Es hört sich grausam an, aber du hast uns die Möglichkeit gegeben, Abschied von ihr zu nehmen. Uns war es wichtig, dir diese Anerkennung zukommen zu lassen, dich wissen zu lassen, dass wir dich unter keinen Umständen für das, was geschehen ist, verantwortlich machen. In keinster Weise. Matthi erzählte uns, dass du dich in schulpsychologische Behandlung begibst. Vielleicht würde es dir helfen, bei der Beerdigung mit von Lissa Abschied zu nehmen. Fühle dich bitte nicht dazu gezwungen, lediglich dazu eingeladen.

Pia & Harald, Frederik & Matteo, Matthi

Raphael blinzelte und legte das Vergiss-mein-nicht behutsam zur Seite. Als er den handschriftlichen Text mit den Unterschriften verglich wurde Raphael klar, dass Matthis Mutter die Karte geschrieben haben musste. Alle anderen hatten unterschrieben. Sogar eine kleine Katzen oder Hundepfote – ein erschrecktes Kaninchen war es jedenfalls nicht – prangte in einer Ecke.

Wahrscheinlich hatte einer der Zwillinge sie hinzu gekritzelt und vielleicht hatte sich hinterher jemand der anderen darüber aufgeregt.

Matthis Name sah traurig aus, auf dem Papier. Es fehlte ein weiteres Und-Zeichen zur Vollständigkeit. Raphael starrte auf die Karte, sein schlechtes Gewissen meldete sich. Er fühlte sich plötzlich skrupel- und herzlos, Lissas Handy zu besitzen, während ihre Eltern nur das Beste von ihm dachten. Er zwang sich tief durchzuatmen und steckte die Karte in ihren Umschlag zurück.

Immerhin wussten jetzt seine Eltern Bescheid und auch wenn er es ihnen nicht selbst erzählt hatte, musste das für sein erstes Versprechen an Rica reichen. Er zog sein Handy aus der Hosentasche.

17:42 Hab es meiner Mutter gesagt.

Rica war noch beim Training, sie würde die Nachricht erst am Abend nach einer Dusche, einer warmen Mahzeit und erledigten Hausaufgaben sehen. Als sein Handydisplay aufleuchtete, lag Raphael schon mit einem Buch umgezogen im Bett.

21:58 Soll ich vorbei kommen? Oder morgen zusammen mit Clemens eine Runde drehen?

Raphael bog ein Eselsohr in seine Buchseite und antwortete.

21:58 Nein, alles gut. Danke.

Er konnte sich nur zu gut vorstellen, wie sie zu Hause im Schneidersitz auf ihrem Schreibtisch saß, bereit, schon im nächsten Moment aufzuspringen um vier, oder in ihrem Fall drei, Minuten später vor seiner Haustür zu stehen.

21:59 Ich hab heute mit Lissas Bruder geredet.

Die Internetverbindung war so langsam wie immer. Noch während die Nachricht gesendet wurde, hätte Raphael sie am liebsten direkt wieder gelöscht.

Rica schreibt...

Rica ist online

Rica schreibt...

22:00 Und?

Raphael biss sich auf die Unterlippe, schaltete das Handy aus und griff nach seinem Buch. Kaum hatte er das Eselsohr gerade gebogen, schnappte er sich sein handy erneut. Ricas Nachricht war noch da.

22:01 Er hat mir eine Einladung zur Beerdigung gegeben.

22:01 Aber ich werde nicht hingehen.

22:02 Warum nicht?

Raphael runzelte verwundert die Stirn, eigentlich hätte er erwartet, Rica würde sofort anfangen, ihn davon zu überzeugen, doch zu gehen.

22:02 Ich denke nicht, dass es das Richtige wäre... Vor dem Unfall hab ich quasi noch nie mit ihr geredet. Und mit den Leuten die dann kommen auch nicht.

Zögerlich tippte er auf senden. Wahrscheinlich stimmte das nicht, wahrscheinlich würde die halbe Schule kommen um von Lissa Abschied zu nehmen. Wie als könne sie Gedanken lesen, antwortete Rica.

22:02 Sogar von meiner Schule kommen welche. Also stell dich nicht so an.

22:03 Mal sehen.

Raphael blieb vor dem hell erleuchteten Bildschirm sitzen und beobachtete den Wechsel von Rica schreibt... und Rica ist online, bis Rica zuletzt online um 22:04 war. Er schaltete sein Handy aus und las ein paar Seiten, bis ihm die Augen zufielen.

Am Ende der Woche hätte Raphael nicht sagen können, ob der erste, oder die folgenden Tage die schlimmeren gewesen waren. Es war Freitagmorgen, erste Stunde. Religion. Der einzige Kurs, den er mit Jun azusammen hatte. Sie saß am Gruppentisch hinten rechts, er vorne links am Fenster. Trotz des größtmöglichen Abstandes zwischen ihnen, spürte Raphael, dass sie ihn beobachtete.

Er rutschte auf seinem Stuhl hin und her und baute seinen Kuli auseinander. Die Feder sprang von der Mine und landete auf dem Boden, mitten im Gang. Gerade so weit entfernt, dass Raphael sie nicht mit dem Fuß zu sich zurück schieben konnte. Er ließ den Bick schweifen, die meisten waren in einen träumerischen Dämmerzustand gefallen. Juna sah aus wie immer. Nicht mehr so aufgelöst wie am Montag, obwohl heute der Tag der Beerdigung war, wie Raphael mit einem flauen Gefühl in der Magengegend bewusst wurde.

Abwesend ließ er die ausgefransten Überbleibsel seines Collegeblockes auf den Boden rieseln. Er hatte seinen Eltern nichts von der Karte erzählt und Matthi nicht wiedergesehen, sodass er seine Absage nicht hatte bekräftigen können. Schlussendlich hatte ihn sogar Rica damit in Ruhe gelassen.

Sie hatte ihm geschrieben, dass sie heute nicht im Bus sein würde. Angeblich war Elternsprechtag. Rica schlief bestimmt noch, während er Monologe über Gott, Jesus und historische Belegbarkeiten über sich ergehen lassen musste. Er hatte große Lust, den Kopf auf die Tischplatte sinken zu lassen.

Die Uhr über der Tür tickte leise vor sich hin. Sie war defekt, zumindest so halb. Der Sekundenzeiger sprang eins vor und wieder zurück, Stunden- und Minutenzeiger drehten sich normal nervtötend langsam. Es machte einen wahnsinnig. Immerhin nur noch eine Viertelstunde.

Fünf Minuten vor Stundenende packte Raphael seine Sachen zusammen und entwischte mit dem Klingeln auf den Gang, bevor Juna auch nur die Chance gehabt hatte, zu seinem Platz zu gelangen. In der Fünfminutenpause, die er normalerweise genutzt hätte, um sich mental auf Englisch vorzubreiten, zog er sein Handy aus der Tasche. Rica hatte ihm geschrieben

08:44 Liegt euer Notschlüssel immer noch in dem kaputten Kugelgrill auf der Terrasse?

Raphael ließ sich auf seinen Standardplatz in der dritten Reihe fallen, bis auf ihn war noch niemand da.

08:46 Was hast du vor?

Bei Rica hatte man es oft mit Ungewöhnlichkeiten zutun, aber dass sie an einem Freitagmorgen nach dem Notschlüssel fragte, war selbst auf ihrer Skala eine satte sieben komma acht.

08:47 Ihr solltet euch ein anderes Versteck suchen. Ich glaub der rostet schon ein bisschen.

Sie hatte ein Bild gesendet, es lud schleppend. Man erkannte verschwommen ihr Gesicht und etwas, das sie in der Hand hielt. Demnach war Rica wach und plante irgendetwas. Was nichts Gutes verhieß.

08:47 Brichst du gerade bei uns ein?

08:48 Ja, danken kannst du mir später.

Raphael schüttelte ungläubig den Kopf. Erst jetzt fiel ihm Jonathan auf, der neben ihm saß. Er hatte ihn gar nicht kommen hören. Jonathan musterte das Handy kritisch und warf ihm einen warnenden Blick zu, als Herr Städtners karohemdige Gestalt im Türrahmen auftauchte. Raphael ließ sein Handy in den Rucksack gleiten. Sollte Rica ruhig auf eine Antwort warten, das geschah ihr ganz recht.

Herr Städtner betrat den Raum und setzte sich ans Lehrerpult. Er war knappe fünfzig, sein Gesicht war tief zerfurcht. Die Falten ließen ihn einerseits älter, andererseits wie einen Hundewelpen aussehen, der in seine überschüssigen Hautlappen erst hinein wachsen musste.

Sein Unterricht war so spannend wie sein Hemd. Vor zweieinhalb Jahren hatte sich ein Fleck darauf befunden, vor einem Jahr eine deutliche Bügelfalte. Als Herr Städtner über das Victorian age zu zu sprechen begann, wirkte es, als sei er selbst dabei gewesen.

Die Frühstückspause und einen großen Teil seiner Freistunden verbrachte Raphael auf der Flucht vor Herrn Büchner und seiner Schulpsychologensache. Am Mittwoch hatte er den Nebeneingang nehmen müssen, weil er wie ein Schießhund neben der Tür des Hauptgebäudes gelauert hatte. Seitdem war er besonders auf der Hut und entwickelte sich zu einem Spezialisten, was das Erkennen von der richtigen Halbglatze auf dem Gang und das geschickte Verstecken hinter Jonathans schmächtiger Figur anging. Gerstern war es brenzlig geworden, als Herr Büchner unverhofft im Aufenthaltsraum aufgekreuzt war. Urplötzlich hatte Raphael seinen Kuli unter einem der niedrigen Beistelltische suchen müssen.

Ihn ergriff eine große Erleichterung, als er nach der letzten Stunde des Tages das Schulgebäude verließ und Herrn Büchner, zumindest für das kommende Wochenende, hinter sich zurücklassen konnte.

Im Laufe der Woche hatte es sich abgekühlt, es war bei weitem nicht so heiß wie am vergangenen Wochenende. Eigentlich war das Wetter sogar ziemlich perfekt. Ab und zu verdunkelten ein paar einsame Wolken die Sonne und eine sanfte Brise wiegte all diejenigen in Sicherheit, die sich nicht eingecremt hatten.

Der Fußball im Gebüsch hinter der Bushaltestelle war zur Gewohnheit geworden, der Geruch von gegrilltem Fleisch waberte durch die Straßen.

Herr Marrlach nickte ihm freundlich zu, als Raphael sich neben ihn stellte. Er setzte seinen Rucksack ab und hielt sein Handy schon in der Hand um zu überprüfen, ob Rica noch etwas geschrieben hatte, als ein dunkelgrüner Transporter um die Ecke bog.

Mit dem unverkennbaren Geruch nach Rindenmulch und schmelzenden Autoreifen kam der Lieferwagen des Dreyerischen Familienbetriebes zum Stehen.

Rica kurbelte das Fenster herunter und sah ihn freudestrahlend an.

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