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Raphael saß auf der Bordsteinkante neben dem verrosteten Bushaltestellenschild und pulte Moos aus den Pflastersteinritzen. Die Sonne brachte die Luft über dem Asphalt zum Flimmern und verpasste seinem Nasenrücken die Farbe eines gekochten Hummers.
Hinter ihm machten sich die letzten Nachzügler auf den Weg von der Schule nach Hause, aber sie konnten noch so langsam gehen und sich noch so oft umdrehen – Raphael wäre trotzdem erst nach ihnen Zuhause. Auf ihn wartete eine dreiviertelstündige Busfahrt in das allerletzte Kaff dieser Welt. Einzig und allein bekannt dafür, Hexenverbrennungen praktiziert zu haben, als sie selbst in Bayern schon uncool geworden waren.
Raphael sah auf und beobachtete die alte Frau Niederbach, die gerade ihre Blumen goss. Er glaubte ein trockenes Knistern zu hören, als der Gießkannenregen die knusprig sonnengerösteten Blätter streifte. Halbherzig hob er eine Hand und winkte ihr zu. Im letzten Sommer hatte sie ein neues Hüftgelenk bekommen und Raphael hatte im Tausch gegen ein paar Euro, Tee und selbst gemachten Kuchen einige Male ihren Rasen gemäht. Sein Angebot, das auch weiterhin zu übernehmen, hatte Frau Niederbach resolut abgelehnt.
„Als Erstes hört man auf zu mähen und dann wird man ins Spittel geschickt. Gott bewahre. Nein, nein, Raphael", hatte sie mit krächzender Stimme geantwortet und ein paar Wochen später wieder selbst den antiken Rasenmäher durch den Garten geschoben.
Neben Frau Niederbach und direkt gegenüber von der Bushaltestelle wohnte Lissa, ein Mädchen aus Raphaels Stufe. Das Gartentor quietschte, als sie es aufstieß und in Richtung Haustür den Vorgarten durchquerte. Raphael seufzte resigniert. Lissa war zu Hause und er selbst durfte weiter auf die Ankunft des überfüllten Busses warten.
Die Busse waren so alt, dass schon vor Jahrzehnten Raphaels Vater mit ihnen zur Schule gefahren war. Im Winter war es die Heizung, die nicht funktionierte und im Sommer verbrachte man die Fahrt mit Tagträumen von einer Klimaanlage.
Alles scharrte sich um die handbreit geöffneten Fensterscheiben und man konnte seinen Sitznachbarn am Geruch des schwächelnden Deodorants erkennen. Vielleicht war es so etwas wie ausgleichende Gerechtigkeit, dass Lissa auf dem Weg ins Haus von ihren spielenden Brüdern aufgehalten wurde und einen Fußball direkt vor die Brust geschossen bekam.
Raphael widmete sich wieder dem dunkelgrünen Moos. Unvorstellbar, sich bei einer solchen Hitze auch noch zu bewegen. Er sah auf die Uhr. Eine knappe Stunde würde er noch hier sitzen müssen. Herr Marrlach, ein Mitte Vierzigjähriger der jeden Freitagnachmittag mit ihm hier wartete und freiwillig in einem der Nachbarkäffer wohnte, schenkte ihm einen verständnisvollen Blick. Er arbeitete bei der Bank, trug einen dunklen Anzug und musste schwitzen wie ein Schwein.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite öffnete sich ein Fenster - Lissas Fenster - und Musik drang zu Raphael herüber. Weiße Vorhänge waberten in absoluter Windstille hin und her. Die schwüle Luft wand sich wie ein wärmender Wollmantel um seinen Körper. Raphael kratzte Erdkrumen unter den Fingernägeln hervor. Seine Mutter würde in Ohnmacht fallen, wenn sie ihn so sah. Er verbarg den Kopf in den Händen. Jetzt wurde sein Nacken unbarmherzig von der Sonne gegrillt. Lissas Brüder spielten immer noch Fußball.
Körper- und Außentemperatur glichen sich einander an und Raphael fühlte sich, als würde er unter der Sonne zerfließen. Er verlor jedes Zeitgefühl. Vielleicht waren Sekunden vergangen, vielleicht Minuten, als die Musik verstummte und sich die Tür vom Haus gegenüber öffnete.
Wieder war es Lissa. Sie beachtete ihn nicht, Raphael war es anscheinend endgültig gelungen, mit seiner Umgebung zu verschmelzen. Aber vielleicht lag es auch daran, dass ihr Kopf in einer pinken Tasche steckte, die aussah wie ein unförmig aufgeblähter Luftballon. Unter Lissas weißem T-Shirt blitzten die Träger eines Bikinioberteils hervor.
Raphael wäre gerne auch ins Schwimmbad gegangen, hätte es sich gerne auch auf einer Picknickdecke im Halbschatten bequem gemacht, fettige Pommes gegessen und den Verrückten zugesehen, die sich vom Zehnmeterturm stürzten. Aber leider wartete er hier auf den letzten Bus vor Samstag, neun Uhr morgens und außerdem war Jonathan, der einzige, den man als so etwas wie seinen Freund hätte bezeichnen können, allergisch auf Freibadchlor, Picknickdecken und fettige Pommes.
Und jetzt saß er eben hier. Mit Schweißflecken unter den Armen, weil Asphalt und Sonne ihn auf Ober- und Unterhitze gleichmäßig garten und Erdkrumen unter den Fingernägeln, weil er in seiner Freizeit nichts Besseres zu tun hatte, als die Pflasterfugen zu säubern.
Lissa hatte unterdessen ihre Tasche, alias rosafarbenes amorphes Ungetüm, auf dem Gepäckträger ihres Fahrrads befestigt. Der Rahmen war hellblau lackiert und eine Kette aus Plastikblumen rankte sich um den Lenker. Es hätte geradewegs aus einem Katalog stammen können, ebenso wie Lissa selbst. Blonde Haare, blaue Augen, feine Gesichtszüge. Jonathan hatte sie einmal als arische Druckvorlage bezeichnet.
Das rosafarbene amorphe Ungetüm ließ seine Tentakel baumeln, die Träger rutschten gefährlich nah in Richtung der Speichen, das ganze Ding würde spätestens in der nächsten Kurve auf dem Boden landen.
Seufzend holte Raphael sein Handy aus dem Rucksack, das wollte er lieber nicht mit ansehen müssen. Nur noch acht Prozent Akku, er stellte es in den Stromsparmodus.
Im Vorgarten wurde es lauter. Lissas ältester Bruder hatte den zwei jüngeren ihren Ball weggenommen. „Lissa!", bemühte sich einer der jüngeren um die Aufmerksamkeit seiner Schwester und erinnerte mit seinem hochroten Gesicht an einen Gartenzwerg. Lissa schob seelenruhig ihr Fahrrad durchs Törchen. Wahrscheinlich war ein beträchtliches Maß an Ignoranz notwendig, wenn man es mit drei Brüdern aushalten musste.
„Lissa! Lissa!", äffte der älteste Bruder seine jüngeren Geschwister nach, Raphael meinte ein genervtes Ausatmen zu hören. Sie schwang sich auf ihr Fahrrad.
„Lissa, der Matthi gibt uns nicht unseren Ball zurück", quengelte der Gartengiftzwerg und Raphael war sich plötzlich ziemlich sicher, dass die beiden jüngeren Brüder Zwillinge waren.
Lissa blieb an der Bordsteinkante stehen, einen Fuß bereits auf der Pedale. Sie stand Raphael genau gegenüber. Er hörte auf, sie und ihre Brüder anzustarren und hoffte, Lissa würde ihn weiterhin als Bestandteil der Bushaltestelle akzeptieren und über ihn hinweg sehen.
„Matthi, komm schon. Das ist albern", sagte sie in einem Ton, der dem von Raphael Mutter nicht unähnlich war, wenn sie versuchte ihm zu erklären, warum Socken nicht verkrumpelt und auf links in den Wäschekorb gelegt werden durften.
Eine tiefere Stimme, vermutlich Matthi, antwortete. „Höret, höret. Der Moralapostel hat gesprochen." Ein Lachen. „Aber man kriegt nur, was man verdient. Also ihr beiden super Fußballer, habt ihr euch euren Ball verdient? Na los, zeigt es mir, holt euch euren Ball, ihr müsst euch schon anstrengen!"
Raphael wagte einen verstohlenen Blick zurück auf das Geschehen. Frau Niederbach hatte sich in den Schatten ihres Hauses zurückgezogen, da blieb ein Geschwisterstreit die Attraktion der Stunde.
„Du bist so eine Blödkuh, Matthi", rief einer der Zwillinge und versuchte verzweifelt hüpfend an den Ball zu gelangen.
„Und du weißt nicht, dass nur weibliche Hausrinder Kühe heißen."
Lissa warf Matthi einen vernichtenden Blick über die Schulter hinweg zu. „Himmel noch eins, du bist ein weibliches Hausrind, Matthi! Jetzt sei doch nicht so ein Spielverderber", stieß sie aus. „Sollte das nicht eigentlich unter deiner Würde sein?" Sie löste eine Hand vom Lenker und fuhr sich durch die Haare.
„Nur weil du neidisch bist, dass die beiden schon besser spielen als du. Stimmt's oder hab ich Recht", die Hand landete zurück am Lenker, „ja, du brauchst erst gar nicht erst nach Ausflüchten suchen, natürlich hab' ich Recht." Lissa zog triumphierend die Augenbrauen hoch, es wirkte eindrucksvoll, trotz der Tatsache, dass sie selbst auf dem Fahrradsattel sitzend deutlich kleiner war als Matthi.
Raphael grinste in sich hinein, obwohl er gerade mit einer besonders widerspenstigen Pflanze zu kämpfte, die sich in der Fuge zwischen Bordstein und Pflaster eingenistet hatte und partout nicht getötet werden wollte.
Neben ihm begann Herr Marrlach lautstark zu telefonieren, sein Gegenüber am anderen Ende der Leitung war entweder taub oder würde durch die Telefoniererei taub werden.
Plastiden zerplatzten zwischen Raphaels Fingern und Chlorophyll färbte seine Fingerkuppen grün. Es war ein hartnäckiger Fall, die Wurzeln blieben einfach stecken. Monsterwurzeln, die den Stein zerfrästen und sich an porösen Stellen festklammerten, bis sie komplett mit ihnen verwuchsen, eins wurden und die Steinpflanze in die Höhe schießen konnte bis –
Ein neongrüner Ball knallte neben ihm auf die Pflastersteine.
Raphaels zog seinen Kopf ruckartig in die Höhe. Gerade noch rechtzeitig um mitzubekommen, wie Lissa kraftvoll die Pedalen durchtrat. Die Sonne strahlte zwischen den Häuserreihen hindurch, ihr Haar leuchtete, ein warmes glänzendes blond. Wie ein Heiligenschein schwebten es in einem schwerelosen Kranz um ihr Haupt.
Die Zeit in diesem Augenblick glich einer Perlenkette. Sekunden aus brillierendem Perlmutt, schillernd aneinander gereiht. Auf eine Perle folgte die nächste, Sekunde um Sekunde, aneinandergekettete Ereignisse.
Lissa bremste nicht, sie drehte sich um. Nur noch eine Hand locker am Lenker, die andere in Richtung ihrer Brüder. Anschuldigend, weil man Socken nicht auf links und zerkrumpelt in den Wäschekorb wirft und weil man Fußbälle nicht quer über die Straße schießt. Aber das Auto, das plötzlich da und plötzlich viel zu schnell da war, bremste ebenso wenig wie sie und in diesem Augenblick fiel die Perlenkette zu Boden und zersprang.
Lissa schrie nicht, Lissa gab überhaupt kein Geräusch von sich, als Metall auf Metall stieß.
Vor Raphaels Augen spielte sich alles in Zeitlupe ab. Das Auto stieß ihr Fahrrad ein paar Meter vorwärts, schleifte es mit, bis das Vorderrad einknickte und unter dem Kühler verschwand. Es roch nach angesengtem Gummi, die Blumen am Fahrradlenker hatten ein paar Blütenblätter verloren, sie glitten sachte tänzelnd zu Boden. Das Auto kam ruckartig zum Stehen. Lissas Kopf landete mit einem hässlichen Geräusch auf dem Asphalt.
Es hatte etwas endgültiges, wie sie dort lag. Mit geschlossenen Augen, als hätte sie sich dagegen gewehrt, diese Minuten ihres Lebens mit anzusehen.
Die gesamte Szene wirkte wie ein abstraktes Gemälde mit irritierenden Winkeln. Der hellblau lackierte Fahrradrahmen war verbogen, die pinke Tasche ein kreischender Farbfleck in Frau Niederbachs Pflanzenleichen.
Herr Marrlach verstummte. Ein sich langsam schließender Mund, aus geweiteten Lidern hervorquellende Augen. Die Frau am anderen Ende der Telefonleitung sprach von einem fantastischen Rhabarberkuchen mit Baiser. Matthi schrie seine Brüder an. Mit seinem aufgerissenen Mund, den Händen an den Ohren, war er die perfekte Verkörperung von Edvard Munchs „Der Schrei".
Raphael konnte nicht verstehen, was Matthi sagte, denn sein Kopf war mit einem unerträglich lauten Summen gefüllt. Aus Lissas sickerte Blut. Zwischen dem hellen Haar wirkte die dunkelrote Farbe fehl am Platz, der Kontrast schmerzlich in den Augen. Auf dem schwarzen Asphalt verblasste das Blut zu einem feuchten Schimmern.
Das Summen in Raphaels Kopf wurde lauter, später absolut still. Ruhe. Einfach so. Und dann hörte er Matthi.
„Lissa!"
Die Zwillinge sahen zu ihrem Bruder auf. Erst abwartend, dann angsterfüllt, als sie begriffen, dass niemand kommen würde, um April April zu schreien. „Was ist mit Lissi?" Sie zogen an seinem Hosenbein.
„Matthi, was ist mit Lissi?", fragte einer der Zwillinge so hell und so herzzerreißend, dass sich etwas in Raphael löste. Ihn aus seiner Starre erlöste, obwohl ihm gleichzeitig klar wurde, dass er diesen Satz nie wieder würde vergessen können.
Er war so schnell auf den Beinen, dass sein Kreislauf nicht hinterherkam und schwarze Flecken vor seinen Augen tanzten. Er sah Herrn Marrlach an. „Rufen Sie den Notarzt." Herr Marrlach schien ihn nicht zu verstehen. „Notarzt. Den Notarzt!", fuhr Raphael ihn an und hätte ihm mit einer unwirschen Bewegung beinahe das Handy aus der Hand geschlagen. Er verschluckte und verhaspelte sich. „Jetzt", brachte er hervor und merkte, wie seine Hände anfingen zu zittern.
Lissas Kopf schwamm in einer Lache aus Blut, Raphael konnte sich beinahe in ihr spiegeln, so makellos und ruhig rann es aus ihr heraus. Matthi machte ein paar Schritte auf seine Schwester zu, taumelte zurück und presste sich eine Hand auf dem Mund, so als müsse er sich gleich übergeben. Schiebend und tragend gleichzeitig fing er an, seine Brüder in Richtung Haus zu bugsieren. Raphael verstand nicht, was er tat, was er vorhatte und was es Lissa nutzen sollte. Sie lag dort und rührte sich nicht mehr und Matthi hatte nichts Besseres zu tun, als die Zwillinge im Haus einzusperren und im Vorgarten auf und ab zu rennen.
„Lissa, hey. Hörst du mich?"
Der Teer war wie glühende Kohlen unter seiner Haut, als er sich vor ihr auf die Knie warf. „Lissa, sag was!" Er berührte ihre Schultern. Erst leicht und vorsichtig, dann fester. Sie reagierte nicht. Warum verdammt reagierte sie nicht?
Raphaels eigener Atem wurde immer hektischer und er spürte, wie die Panik sein Herz schneller klopfen ließ, als er sich über sie beugte. Eine Hand am Brustkorb, das Ohr über ihrer Nase hing er in der Schwebe. Viel zu lange, aber das einzige, das er hörte, war sein eigenes Schnappen nach Luft. Raphael ließ sich zurück fallen.
„Scheiße", flüsterte er mit zittriger Stimme. „Scheiße", wiederholte er lauter. Angst ballte sich in seiner Magengegend zusammen. Schnürte ihm die Kehle zu, einen Moment glaubte er, keine Luft mehr zu bekommen.
Was hatten sie ihm beim Erste-Hilfe-Kurs für den Führerschein noch gesagt? Etwas mit der Zunge konnte falsch sein und dann war es möglich – war es möglich, dass was?
Raphael versuchte sich fieberhaft an den Kurs zu erinnern. Der Kurs, der ihnen im Februar in einem grauen Gebäude unter Neonröhren mit einer Plastikpuppe ohne Beine hätte beibringen sollen, wie das Ganze bei über dreißig Grad auf der Straße mit einem Mädchen funktionieren sollte, das zur Hälfte von seinem eigenen Fahrrad begraben worden war.
Erbrochenes.
Das war es gewesen. Etwas mit der Zunge konnte falsch sein und dann war es möglich, an seinem Erbrochenen zu ersticken.
Raphael streifte sich die Hände an seinem T-Shirt ab und packte Lissa wieder an den Schultern. Bevor er irgendetwas tun konnte, musste Lissa unter dem Rad hervor geholt werden.
Einige Fahrradspeichen hatten sich verbogen, andere ragten wie spitze Nadeln senkrecht in die Höhe. Das Vorderrad klemmte fest, ihr Körper bewegte sich kein Stück. Stattdessen hatte Raphael das Gefühl, ihr mit jedem Zerren und Ziehen weitere Knochen zu brechen.
Hilfe suchend drehte er sich zu Herrn Marrlach um. Dieser tippte auf seinem Handydisplay herum. Warum telefonierte er nicht? Lissa brauchte den Notarzt jetzt. Raphaels Kopf hatte die Verbindung zu seinen Beinen verloren, als er sich wackelig aufrichtete.
Die Windschutzscheibe des Autos spiegelte die immer tiefer sinkende Nachmittagssonne. Blütenstaub und Pollen hatten sich an den Scheibenwischern verfangen. Schemenhaft konnte Raphael den Fahrer erkennen, nur das Weiß seiner Augen stach deutlich hervor.
„Das Rad klemmt fest!", brüllte er durch das Fenster hindurch und obwohl sein Mund wie ausgedörrt da lag, landeten feine Tropfen Spucke auf dem Glas. Er schluckte und wischte sich mit einer Hand Schweißperlen von der Stirn. „Jetzt helft mir doch", flüsterte Raphael und hörte das Beben seiner eigenen Stimme. Beherrschung, es brauchte jetzt Beherrschung. Er atmete ein und wieder aus.
„Das Rad klemmt fest. Es klemmt sie ein!", schrie er die Glasscheibe zwischen dem Fahrer und ihm an. „Zurückfahren. Sie müssen zurücksetzten!" Er reagierte nicht. Erst Herr Marrlach, dann Lissa – Warum verdammt reagierten die Menschen nicht, wenn er sie ansprach?
„Fahren Sie ein Stück zurück!"
Die Hände des Mannes hielten das Lenkrad apathisch umklammert, dann hörte Raphael plötzlich das Gartentor quietschten. Matthi stand da, mit aschfahlem Gesicht. Er sah ihn an. „Jonathan", wisperte er. „Hilf ihr, Jonathan." Er presste die blutleeren Lippen zusammen. „Bitte."
Raphael hielt es für ungünstig, ihm jetzt zu erklären, wie er eigentlich mit Vornamen hieß, deshalb senkte er nur den Kopf. „Hast du ein Handy?", fragte er und versuchte, das Zittern aus seiner Stimme zu verbannen. Lissas Bruder holte tief Luft und legte dann seine Hand auf die linke Hosentasche. Nickte. „Sehr gut", fuhr Raphael fort. Die Tatsache der einzige zu sein, der annähernd so etwas wie einen Überblick besaß, verlieh ihm Autorität. Seine Stimme wurde fester.
„Rausholen und wählen. 112", schloss er eindringlich und wartete, bis Matthi wählte und sich das Handy ans Ohr hielt. Dann ging er in die Hocke und stemmte sich mit aller Kraft gegen den Fahrradrahmen.
Zunächst tat sich nichts, dann, als er glaubte aufgeben zu müssen, rutschte das Rad nach hinten weg und rammte den Bordstein. Lissa lag immer noch nicht gerade und der Lenker war im Weg, aber solange das Auto nicht zurückfuhr, ging es nicht anders.
Raphael prüfte ihren Atem ein zweites Mal. Fehlanzeige. Stattdessen hielt er die Luft an und ordnete seine Gedanken. Siebenunddreißig Grad im Schatten und er würde einen kühlen Kopf bewahren. Bewahren müssen. Ob Februar oder Mai, stinkende Plastikpuppe oder Lissa - inhaltlich war es dasselbe. Atmung prüfen, Notarzt rufen. Erledigt. Jetzt musste er sich um die Zunge kümmern. Raphael schluckte.
Er umfasste ihren Kopf und überstreckte den Nacken. Seine Fingerspitzen streiften ihre Lippen, als er das Kinn nach unten drückte und den Mund öffnete. Soweit er sehen konnte kein Erbrochenes und obwohl die Zunge ein bisschen nach hinten gerutscht war, war der Weg zum Rachen größtenteils frei.
Raphael kam sich komisch vor, als er mit Daumen und Zeigefinger in ihren Mund fasste und nach der Zungenspitze tastete. Sie entglitt ihm immer wieder, fühlte sich nicht nur glitschig, sondern auch falsch an und er wünschte sich mehr als alles andere, dass Lissa aufwachen und ihn verächtlich fragen würde, warum in aller Welt er sich das Recht heraus nahm, in ihrem Mund herum zu fuhrwerken.
Aber Lissa fragte ihn gar nichts, sie machte sich ja noch nicht mal die Mühe zu atmen.
Raphael wusste, was jetzt kam und seine Eingeweide zogen sich krampfhaft zusammen, wenn er daran dachte. Herz-Lungen-Wiederbelebung.
Lissa wirkte kaum noch wie ein Mensch, so wie sie vor ihm lag. Ihre Gliedmaßen waren verdreht, so als hätte man eine Puppe falsch zusammengenäht. Was sie nicht weniger makellos machte, obwohl sie mit ihren Gesicht über den Asphalt geschlittert war und in den blutigen Schürfwunden Zigarettenkippen und Straßendreck klebten.
Er zwang sich zur Konzentration.
Dreißig Mal drücken. Zwei Mal beatmen.
Am Saum des V-Ausschnitts beginnend, riss er Lissas T-Shirt entzwei. Der Stoff verzog sich und als darunter ihr Bikinioberteil zum Vorschein kam, fühlte Raphael sich peinlich berührt, obwohl sein Verstand ihm sagte, das dass unnötig und dämlich war. Mehr als dämlich war.
Der Typ beim Erste-Hilfe-Kurs hatte gesagt, man müsse das Brustbein finden. Und man konnte es eben nicht finden, wenn zwei Lagen Stoff drüber geschichtet waren. „Sorry", murmelte Raphael und schluckte, als er die Schleife des Bikinioberteils in ihrem Nacken löste und es beiseite schob.
Mit durchgestreckten Armen beugte er sich über sie, platzierte die Hände auf ihrem Brustkorb und drückte. Es gab irgendeine Mindesttiefe, aber die hatte er vergessen. Zahlen waren noch nie sein Ding gewesen, was nebensächlich war, denn Mindesttiefe hin oder her, schon nach den ersten zehn Kompressionen spürte er seine Armmuskeln streiken. Sport war auch noch nie sein Ding gewesen.
Achtundzwanzig, neunundzwanzig und dreißig.
Sein Gehirn schaltete auf Autopilot. Ohne weiter darüber nachzudenken, hielt Raphael Lissa mit der linken Hand die Nase zu und presste seine Lippen auf ihren Mund.
In Filmen hatte das manchmal romantisch gewirkt. Ein Berühren der Lippen, ein Ruck, der durch den Körper des anderen geht, ein Schnappen nach Luft, danach ein zögerlicher Augenaufschlag. Aber Lissas Lippen waren aufgeplatzt, sie blieb regungslos und es war Raphael, der sich luftringend aufrichtete und vor Erschöpfung beinahe nach hinten weg gekippt wäre.
Aber das war das Problem mit dem Atmen: Es konnte keine Pause geben und gab es eine, dann war man tot. Und sie durfte einfach nicht sterben.
„Lissa, atme, komm schon", presste er hervor, aber ihr Brustkorb blieb starr. „Jetzt lass' mich hier doch nicht einfach so hängen!"
Raphael wusste nicht, woher plötzlich seine Wut kam, aber sie half ihm, durchzuhalten. Schweiß lief ihm über die Stirn und verschleierte seinen Blick. Er ließ sein T-Shirt an seinem Oberkörper kleben wie eine zweite Haut. Höhnisch, dass sein Herz schneller und schneller gegen seine Rippen hämmerte und sich Lissas einfach nicht regte. Seine Arme schmerzten unerträglich, alles, was auch nur im Entferntesten an Muskeln erinnerte, tat weh, zog und drückte.
Raphael keuchte, seine Hände wurden glitschig vom Schweiß. Er rutschte ab, kam wieder zurück in die Startposition. Ein Knacken und es wurde leichter. Vermutliche hatte er ihr eine Rippe gebrochen.
Lissas Lippen schmeckten nach Blut, Asphalt und Sommerhitze. Immer wieder tanzten Sterne vor Raphaels innerem Auge auf und ab und alles drohte, schwarz zu werden. Der Boden schwankte, giftgrüne Wellen türmten sich auf. Raphael war speiübel, die Anstrengung, der Geschmack von Blut, all das, während er eigentlich nur auf den Bus hatte warten wollen.
Eine Tür fiel zu, er hörte die Stimmen der Zwillinge. Matthi war wieder da, aber Raphael hatte nicht genügend Kraft, um ihn zu fragen, wann der Notarzt kommen würde.
Aber vielleicht würde Matthi ihn eine Minute lang ablösen können. Bei dem Gedanken machte sich Erleichterung in ihm breit. Eine winzige Minute würde ausreichen, um zu seinem Rucksack zu laufen und einen Schluck abgestandenes, warmes Mineralwasser zu trinken. Hoffnungsvoll drehte sich Raphael zu Matthi um, ein Krächzen kroch aus seiner trockenen Kehle. Matthi blieb eine Armlänge von ihm entfernt stehen. Aus Raphaels Perspektive vom Boden aus wirkte er riesig.
„Sie wird doch wieder." Eine Pause. „Oder?"
Er sah an Raphael vorbei in das zertrümmerte Gesicht seiner Schwester. Seine Augen waren rot gerändert, er sah jünger aus. Raphael hustete trocken. „Hilf mir doch, du Idiot!", spuckte er aus, aber bis auf ein Blinzeln reagierte Matthi nicht.
„Sie wird sterben, nicht wahr?", hauchte er. „Sterben", wiederholte Matthi lauter und gleichzeitig leiser, während er eine Hand zur Faust ballte. „Weil ich diesen verdammten Fußball auf die andere Straßenseite geschossen habe."
Er presste die Faust gegen seine Lippen und obwohl es so aussah, als würde er schreien, blieb er stumm.
Raphael zählte die sechsundzwanzig doppelt, weil Matthi ihn ansah. Er besaß dieselben eisigen Augen wie seine Schwester. Sechsundzwanzig, achtundzwanzig, neunundzwanzig, dreißig. Matthi wandte sich nicht ab, als er sich runter beugte und Lissa beatmete.
Nur seine Augenbrauen zogen sich zusammen, sie waren weißblond, heller als seine Haut und trotzdem nicht weniger angsteinflößend, so wie sie sich über seine Augen hinweg wölbten. An seinem Hals trat eine Sehne hervor, Raphael zuckte zusammen, noch bevor er auf das Auto zu stürmte.
„Ich bring' dich um!"
Matthi trug nicht mehr als Flipflops, als er mit voller Wucht gegen die Beifahrertür trat. „Du verdammtes Arschloch, ich bring' dich um!" Er weinte und fluchte und rüttelte wie ein Irrer am Türgriff.
„Du Mörder, du hast sie getötet! Du-" Seine Stimme brach, er ließ von der Tür ab, stand einfach da und starrte auf seine Hände. Die Fingerknöchel waren geschwollen und rot. Matthis Schultern hoben und senkten sich langsam.
„Wie kannst du nur", wisperte er leise, „wie konntest du nur."
Raphael hing über Lissas Gesicht, als einer der Seitenspiegel neben ihm auf dem Boden landete und der Motor aufheulte.
Es quietschte, roch nach Abgasen und trockener Staub wirbelte auf. Der Wagen gab Gas. Setzte zunächst rückwärts und gab das Rad frei. Es kippte zur Seite weg und blieb verrenkt liegen. Plastikblumen und Lenker waren zerknautscht, das Hollandrad frisch aus dem Katalog passte jetzt nur noch in die hinterste Ecke eines Schrottplatzes. Das Auto beschleunigte, wurde zunächst lauter, dann leiser.
„Bleib' stehen, verdammt!", brüllte Matthi und seine Stimme übersprang mehrere Oktaven. Er stolperte über die Bordsteinkante, verlor erst einen, dann den anderen Flipflop, als er dem Wagen hinterher rannte. Wenige Meter vor der Kurve brach er zusammen. Matthi blieb zusammengekauert liegen, sich die glühenden Fußsohlen haltend.
„Helfen Sie ihm", röchelte Raphael und hoffte, Herr Marrlach würde es hören. „Er braucht Hilfe!" Eine zögerliche Reaktion, ein kleines Zusammenzucken. Herrn Marrlach setzte sich in Bewegung. Ging neben Matthi in die Hocke und ließ zu, dass er sich an seinem Anzug festklammerte.
In der Ferne erklangen die ersten Sirenen.
Schweißtropfen landeten auf Lissas nacktem Oberkörper, erst später bemerkte Raphael, dass es Tränen gewesen waren.
Tränen, die vor lauter Erschöpfung, vor lauter Erleichterung oder vor lauter Verzweiflung geflossen waren.
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