Zweifel

Alexander

Noch bevor mein Kopf mich darauf hinweisen kann, dass meine Vermutung auf unmöglichen Voraussetzungen basiert, reagiert mein Körper.

Er stürzt sich einfach auf sie. Ohne genau zu wissen, wie das funktioniert, finden meine Hände den Weg in ihren Nacken, an ihre Taille und ziehen sie so nah zu mir heran wie möglich. Meine Lippen pressen sich auf ihre, doch anders als zwei Tage zuvor, denken sie gar nicht daran, sich bald wieder zu lösen.

Oder ist da ein Fehler in meinen Gedanken? Ihre Lippen, seine?

Alles, was mein Kopf in dem Moment zustande bringt, ist ein sich stetig wiederholendes Seufzen: Magnus! Und ich spüre gar nicht, dass es immer noch ihre Lippen sind, die sich teilen, ihr Oberkörper, den ich an mich presse. Kann mich nur auf das Gefühl konzentrieren, dass es nicht wirklich sie ist. Dass – wie auch immer – mein Magnus in ihr steckt.

Mir entweicht ein überraschtes Keuchen, als er sich mir plötzlich entgegen lehnt und seine Hände ebenfalls den Weg in mein Haar finden. Seine Zunge streicht sanft über meine Unterlippe und sucht die meine. Als sie sich warm und feucht berühren, seufzen wir synchron auf.

Schwungvoll stützt er sich von der Matratze ab und klettert auf meinen Schoß. Damit versetzt er dem Schreibtischstuhl, auf dem ich sitze, einen Impuls, der uns quer durch den Raum rollen und gegen eine Wand prallen lässt. Aber mit dem warmen Gewicht auf meinen Schenkeln und dem süßen, rasch ausgestoßenen Atem in meinem Mund, kann ich mich nicht daran stören.

Obwohl der Sauerstoff knapp wird, mag ich mich nicht von ihm lösen. So lange habe ich mich nach ihm gesehnt, nach genau diesem Moment. Ich will ihn, so sehr. Ihn und niemanden sonst.

Seine Finger gleiten aus meinen Haaren an meiner Brust hinab, greifen nach dem Saum meines Shirts und streichen sanft darunter. Ich spüre jedes einzelne Haar an meinem Körper, das sich erwartungsvoll aufstellt. Magnus, endlich.

Er zupft an dem Stoff herum, zieht ihn aus meinem Hosenbund. Als er ihn mir über den Kopf ziehen will, muss ich mich von seinen Lippen trennen.

Ganz abrupt weicht der Zauber seiner Berührung der Realität, als ich die Augen öffne.

Ihre Wangen sind erhitzt, ihr Haar zerrauft: So habe ich sie noch nie gesehen.

Erschrocken schlage ich mir die Hand vor den Mund, stehe reflexartig von dem Stuhl auf, sodass sie von meinem Schoß vor meine Füße plumpst.

Natürlich sie. Wie konnte ich von einer zufälligen körperlichen Reaktion auf eine irreale Seelenvertauschung schließen? Wünsche ich ihn mir tatsächlich so sehr, dass mir mein Sinn für Logik abhandenkommt? Natürlich würde er mich so nicht küssen.

Noch nie, noch nie bin ich auf eine Weise geküsst worden, bei der ich keinen klaren Gedanken mehr fassen kann. Wie hat sie das gemacht? Oder er, auch wenn er dabei die ganze Zeit nur in meinem Kopf war?

Lydia schluckt. Verlegen klettert sie vom Boden zurück auf das Bett. Dabei trifft sie ja keine Schuld.

Ich weiß, dass ich ihr Unrecht tue, seit ich zum ersten Mal mit ihr ausgegangen bin. Sie war immer freundlich, loyal und geduldig mit mir. Ich mag ihre strukturierte, pragmatische Art. Ich mag, dass sie gerade heraus sagt, was sie denkt. Dass ich mit ihr lachen kann, ohne dass einer von uns scherzen oder albern sein muss. Aber ich habe sie immer nur gemocht.

Denn umgekehrt liebe ich das Chaos, das Magnus' verbreitet, wo auch immer er ist. Ich liebe, dass wir nicht sagen müssen, was wir denken, um den anderen zu verstehen. Und dass er mit seiner kindlichen Fröhlichkeit sogar dann ein Lächeln auf meine Lippen zaubern kann, wenn er gar nicht da ist.

Obwohl Lydia und ich nie darüber gesprochen haben, ist zwischen uns nicht viel passiert. Manchmal, wenn sie auf einer Feier getrunken hat, ist sie mir näher gekommen, als mir lieb war und hat versucht, mich zu etwas zu überreden.

Sie jetzt so zu küssen ist das Schlimmste, das ich tun kann. Nun wird sie Hoffnung bekommen, mehr wollen. Aber das kann ich ihr doch nicht geben.

„Alexander?" Ich muss einen sonderbaren Anblick bieten, halb angezogen ins Nichts starrend. Ich sehe zu ihr auf, die nun vor mir steht und mir ihre Hände reicht. Zögerlich lege ich meine hinein und stehe auf. Als Nachhall der aufgeladenen Stimmung nehme ich einen Funkenschlag zwischen unseren Körpern wahr, zwischen denen der Länge nach ein Fingerbreit Platz ist.

Ihr Blick gleitet über meinen enthüllten Oberkörper, ich fühle mich nackt. Dann drückt sie meine Hände, verschränkt ihren Blick mit meinem. „Alexander, Atmen!", erinnert sie mich. Ich stoße die Luft aus und merke, dass sie Recht hat, ich habe sie angehalten.

„Bitte beruhig dich. Das war ein atemberaubender Kuss, deswegen musst du dich aber nicht unter Druck gesetzt fühlen." Sie löst eine Hand und streicht mir über die Wange. Ich schließe die Augen, atme tief ein und aus. Was, wenn es doch Magnus wäre?

„Ich erwarte nicht, dass du etwas tust, zu dem du nicht bereit bist. Ich werde mich bestimmt nicht wehren, wenn du nochmal so über mich herfällst, aber ich erwarte das nicht, okay?"

Sie schmunzelt mich an, reicht mir das Shirt, das mit ihr zu Boden gefallen ist.

„Tut mir Leid.", presse ich hervor. „Ich wollte dir nicht wehtun." Immerhin habe ich sie von meinem Schoß plumpsen lassen.

Die Hand von meiner Wange streicht tröstend durch meine Haare. „Hast du nicht. Könntest du gar nicht." Verwirrt nicke ich. Ist sie schon immer so warm und verständnisvoll? Oder habe ich diese Seite an ihr bloß noch nie gesehen?

Ich realisiere, wie mein Kopf nur nach noch mehr Argumenten für die Idee einer Seelenvertauschung sucht, und stoße die Gedanken von mir. Das hier ist Lydia. Meine warme, verständnisvolle Freundin Lydia, die ich eben gerade erst kennenlerne, weil ich mich ihr gegenüber bislang sehr kalt und unfair verhalten habe. Um ehrlich zu sein, habe ich ihr nie eine Chance gegeben. Aber vielleicht hat sie die verdient.

Statt in das Shirt zu schlüpfen, fixiere ich ihre Augen, die mir früher kalt vorkamen. Jetzt glitzern sie freundlich, ihr ganzes Gesicht ist arglos.

„Kann ich dir noch eine Frage stellen?", fragt sie, ein Lächeln in ihrer Stimme. Hilflos nicke ich. Immerhin weiß ich nicht, worauf sie hinauswill, und zumindest auf die Frage bin ich neugierig.

Ihre Hand unterbricht das Streicheln meiner Kopfhaut und fällt neben ihrem Körper herab. „Wieso haben wir nie miteinander geschlafen?"

Ich kann sie nur anstarren. Die Wahrheit, habe ich noch vor Kurzem von ihr verlangt. Aber darauf kann ich ihr kaum die Wahrheit antworten. Dass ich diese Erfahrung nicht mit irgendjemandem machen möchte, sondern nur mit einem, und dass überhaupt ihre ganze Erscheinung mich kein Bisschen anspricht.

Sie scheint zu merken, dass ich nicht weiß, was ich sagen soll, und hilft mir auf die Sprünge.

„Hat es was mit dem Fondue-Unfall zu tun?"

Erleichtert nicke ich: eine gute, plausible Ausrede, die nichts mit ihr zu tun hat. Eine Erklärung, die niemanden verletzt. Aber woher weiß sie davon?

Magnus!, schreit eine Stimme in meinem Kopf, aber ich wage es nicht, sie anzuhören. Es ist immerhin gut möglich, dass meine Mutter ihr von dem damaligen Weihnachtsfest als eine Art Familienanekdote erzählt hat. Nur meine Sicht auf die Vergangenheit wird sie nie kennen. Schöne, schreckliche Kindheitserinnerung.

„Tut es weh, wenn du...", fängt sie an, spricht aber nicht zu Ende. Hilflos nicke ich erneut.

Schon lange sehen wir uns nicht mehr in die Augen, zu unangenehm ist das Thema anscheinend für beide von uns. „Auch, wenn du erregt bist?", flüstert sie.

Ich verneine. „Vor Allem durch Reibung.", präzisiere ich. Sie beißt sich auf die Unterlippe, wie um eine weitere Frage oder Bemerkung zurückzuhalten.

Lydia greift erneut meine Hand und zieht mich mit sich aufs Bett. Nebeneinander sitzen wir auf der Matratze, unsere Finger verschränkt. Dazwischen breitet sich ein leichter Schweißfilm aus, den wir beide ignorieren.

„Letzte Frage?", bietet sie an. Als ich meinen Blick zu ihr herüber wende, grinst sie leicht.

„Wieso bist du mit mir zusammen?", platzt es unzensiert aus mir heraus. Dabei wollte ich das gar nicht sagen. Es wissen, ja, aber es doch nicht aussprechen.

Lydia lacht. „Wenn ich dir die Gründe nennen könnte, könnte ich nicht von bedingungsloser Liebe sprechen, oder?", erwidert sie lapidar.

Erschrocken starre ich in ihr Gesicht. Ihr Gesicht. „Du liebst mich?"

Sie zuckt die Schultern und in meinem Kopf werden zwei Stimmen laut.

Bitte nicht, ruft die eine. Bitte sei Magnus, die andere.

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