Selbstverteidigung

Alexander

„Magnus!" Ich laufe auf ihn zu und ziehe ihn grinsend in eine Umarmung. Dass er tatsächlich gekommen ist, wundert mich nicht, immerhin hat er es versprochen. Dass er allerdings bereits vor allen anderen Kursteilnehmern vor der kleinen Sporthalle steht, ist überaus ungewöhnlich. Nicht einmal Raphael ist bei ihm und ich hätte doch gedacht, dass sie gemeinsam zu spät kommen würden.

„Du bist ja schon da!" Er zuckt mit den Schultern und lächelt leicht. „Ich kann dich ja nicht in Verlegenheit bringen, indem ich zu spät komme." Ich stimme ihm lachend zu und schließe die Tür des Gebäudes auf. Als wir auf die Umkleide zusteuern, fällt mir wieder ein, wieso ich schon früher da bin.

Ich muss nicht viel vorbereiten, aber noch immer ist es mir unangenehm, mich vor anderen umzuziehen. Schon im Schulsport habe ich am liebsten gewartet, bis alle weg waren, später im Verein bin ich wie heute stets als erster gekommen und als letzter gegangen. Ich werfe meine Tasche auf der Bank ab und einen Blick zur Seite.

Es ist Magnus, beruhige ich mich. Außer meiner Familie der einzige, vor dem ich mich nicht schämen muss. Also schlüpfe ich aus meinen Klamotten und in die leichtere Sportkleidung, während ich ihn zu seinem Tag befrage.

„Was macht eigentlich dein Kopf?" Er winkt lässig ab. „Halb so wild, war ja nicht das erste Mal.", erwidert er cool. Kurz blitzt die Frage in meinen Gedanken auf, wieso er mir heute so fremd vorkommt, aber immerhin hatte er wirklich eine üble Nacht.

„Ich hab' dich schon lange nicht mehr so betrunken gesehen.", erinnere ich ihn. „Ich hätte am liebsten auf deinem Teppich geschlafen, um auf dich aufzupassen."

Sein Kopf rauscht zu mir herum und kurz sieht er böse aus. „Du musst mich nicht immer so behüten, Alec. Ich bin schon groß.", betont er. Erschrocken reiße ich die Augen auf. Alec? Seit wann denn das? Ich kann mich nicht erinnern, jemals gehört zu haben, wie er meinen Namen abkürzt. Habe ich etwas falsch gemacht?

„Das hat Lydia auch gesagt." Er nickt, den Blick auf seine Sporttasche gerichtet. „Danke fürs Heimbringen.", brummt er dann aber doch. Ganz zufrieden klingt er dabei nicht.

Schließlich stehen die zehn per Kursliste angekündigten Teilnehmer vor mir in dem kleinen Gymnastikraum. Wir haben uns gedehnt und altersangemessen spielerisch aufgewärmt. Magnus scheint sich beruhigt zu haben, denn er und Raphael lächeln mir aufmunternd zu.

Als ich die erste Technik zeige und die Anwendung demonstrieren möchte, bitte ich Magnus nach vorne. Es ist bloß ein freiwilliger Erwachsenenkurs, niemand kann mir Bevorzugung vorwerfen, und um ehrlich zu sein, habe ich keine Lust, fremde schwitzende Leute zu berühren, wenn mein bester Freund zur Verfügung steht. Dennoch überlege ich kurz, in der nächsten Einheit auch mal jemand anderen nach vorne zu bitten.

Ich erkläre Magnus, wie er mich am Arm festhalten soll, und zeige die erste Möglichkeit, den Angreifer abzuschütteln. Die Teilnehmer begeben sich in Zweiergruppen und probieren die Verteidigung aus.

Raphael kichert, Magnus schaut ihn ernst an, als ich in meiner Runde bei den beiden ankomme und mir ihre Techniken ansehe. Gerade soll Magnus sich aus Raphaels Griff befreien, doch es gelingt ihm trotz seiner scheinbaren körperlichen Überlegenheit nicht.

Schmunzelnd beobachte ich ihn bei einem weiteren Versuch. Er sieht wirklich niedlich aus, wie er sich so verbissen konzentriert, und ich kann ihm kaum böse sein, als er mich verzweifelt anfaucht. „Das funktioniert nicht."

Ich bitte ihn, es mir noch einmal zu zeigen: Diesmal umfasse ich sein Handgelenk und er soll sich befreien. Wie zuvor gezeigt dreht er sich schwungvoll neben mich, reißt dabei unsere verbundenen Arme hoch. Doch das letzte Moment, bei dem er seine Hand aus meinem Griff hebeln müsste, gelingt nicht.

„Stop.", bitte ich. Er verharrt neben mir, Schulter an Schulter, und mustert aufnahmebereit unsere Hände in der Luft. Für einen Moment werde ich von dem vertrauten Geruch seines Schweißes umhüllt und muss sonderbarerweise an den Kuss mit Lydia am Mittag denken. Ein kleines schlechtes Gewissen überkommt mich. Ich habe noch nie in Magnus' Nähe an Lydia denken müssen. Es ist andersrum. Dann zeige ich auf die Stelle, an der meine Finger und der Daumen in der Umklammerung zueinander zeigen.

„Das hier ist die schwächste Stelle. In diese Richtung musst du dich befreien.", raune ich über die kurze Distanz. Ich nehme sein Nicken wahr und wollte, er wäre noch ein Stück näher, sodass ich die Wärme seiner Wange spüren könnte.

Er reißt mich zurück in die Realität, als ein Ruck durch meinen Arm fährt. Er hat sich befreit und sein Ellenbogen saust auf meine Nase zu, stoppt so gerade eben, bevor er mich trifft.

„So?", fragt er und grinst mich triumphierend an, als ich mich von ihm entferne. „Ganz genau so. Übt das beide noch ein paar Mal.", ordne ich an und versuche, mich wieder auf den Rest der Gruppe zu konzentrieren.

Gedanklich bin ich allerdings noch bei Magnus und wie froh ich bin, dass er zugestimmt hat, sich für den Kurs anzumelden. Er hätte schon vor Jahren mit mir zum Kampfsport kommen sollen, doch er hatte nie Interesse daran, Sport in einem Verein „mit eklig verschwitzten Menschen" zu machen. Natürlich könnte er so einen Kurs nun überall machen, aber die Tatsachen, dass wir uns so zumindest regelmäßig am Montagabend sehen und dass Raphael begeistert zugesagt hat, sich ihm anzuschließen, haben ihn schließlich überzeugt.

Wir beide trödeln ein wenig, als die eineinhalb Stunden vergangen sind. Ich räume gemächlich die Matten weg, wobei er mir hilft. Allerdings plappert er nicht wie sonst fröhlich auf mich ein, sondern ist verdächtig still. Noch immer weiß ich nicht, was ihn belastet, doch er wirkt nicht, als wolle er es mir erzählen.

In unseren Straßenklamotten treten wir aus dem Gebäude und ich schließe ab. „Es ist noch ziemlich warm für die Uhrzeit. Hast du Lust, noch ein bisschen spazieren zu gehen?", schlage ich vor.

Ich sehe es in seinem Gesicht arbeiten, bis Magnus schließlich nickt. „Gern. Erzählst du mir von deinem Tag?"

Neben all den lustigen und frustrierenden Dingen, die alltäglich im Unterricht vorfallen und für mich in meiner jungen Karriere alle noch neu sind, fällt mir doch nur der Moment mit Lydia im Flur ein. Wie es sich plötzlich angefühlt hat. Als müsste ich mich gar nicht dazu überwinden, sondern...

Doch ich schüttle den Gedanken ab, Magnus davon zu erzählen. Wir haben noch nie wirklich über meine Beziehung zu Lydia geredet, und das erfüllt durchaus einen Zweck.

„Oh, Charlie hat sich heute wieder selbst übertroffen...", beginne ich eine Anekdote über meinen Lieblings-Klassenclown. Und kann irgendwie selbst nicht verstehen, wieso ich Magnus etwas erzähle, das sich eigentlich letzte Woche ereignet hat.

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