Mehr Fragen
Alexander
Das Gefühl, meine eigene Freundin kaum zu kennen, hat mich nicht erst bei ihrem unbekannten Anblick ohne Schminke beschlichen. Schon seit Montag ist irgendetwas anders, das ich nicht richtig begreife. Dieser Kuss im Schulflur... Ich kann es mir nicht erklären, wieso ich diese Erinnerung mit einem anderen Kuss in der Vergangenheit verknüpfe. Damals hat er ein ganz ähnliches Kribbeln in mir ausgelöst, das vielleicht noch viel deutlicher war. Wenn nicht nur der ständige Überschreibungsprozess meines Gedächtnisses dieses Detail bei jedem Hervorkramen des Momentes besonders betont hat.
Und auch jetzt fühle ich mich anders in ihrer Nähe. Nachdem ich zwei Jahre lang immer überlegen musste, welche Anforderung eine normale Beziehung wohl in dieser oder jener Situation an mich stellt, was Lydia von mir denken könnte, bin ich fast entspannt in ihrer Nähe, ohne es mir irgendwie erklären zu können.
Wie sie mit baumelnden Beinen auf meiner Bettkante gesessen und amüsiert auf meine Fragen gewartet hat, war so untypisch für die Lydia, die ich stets in ihr gesehen habe. Und auch ihre Antworten, die, nachdem ich erneut nachgefragt habe, passen nicht zu diesem Bild.
Und dennoch will ich noch mehr wissen. Ich kenne die wichtigen Rahmengegebenheiten ihres aktuellen Lebens, aber hat sie mir je von ihrer Kindheit erzählt? Davon, was sie überhaupt nicht leiden kann? Wieso weiß ich das alles nicht?
„Bin ich wieder dran?", frage ich, nachdem sie auf meine letzte schüchterne Antwort hin schweigt. Ich habe ihr die Wahrheit gesagt, weil es plötzlich so leicht war. Sie hat mit all dem nichts zu tun, und wenn sie mich nun unattraktiv findet wegen meiner mangelnden Erfahrung, dann akzeptiere ich, wenn sie gehen will. Aber sie lächelt mich frech an, fast neugierig auf meine nächste Frage.
„Wovor hast du am meisten Angst?" Es ist eine abgedroschene Frage, das ist mir schon klar, aber ebenso sehr möchte ich es auch wissen. Denn wie viele Fragen eignen sich sonst dazu, sich in relativer Kürze ein tieferes Bild von jemandem zu machen?
Grübelnd schiebt sie die Lippen vor, kratzt sich am Kopf. Aber als sie grinst, sehe ich ihr an, dass sie scherzt. Was wiederum ein Anblick ist, der mich sehr überrascht. „Vor ausgewaschenen Jeans."
Überrascht blicke ich sie an, dann muss ich lachen. Sie ist zwar immer gut gekleidet, aber besonders viel Wert auf Modetrends legt sie nicht. Diese Antwort passt viel besser zu Magnus, der schon früher immer über die Modefehltritte der Lehrer gelacht hat.
Dennoch weiß ich, dass der Scherz an dieser Stelle einen Zweck erfüllt. „Dann ist es also so schlimm?"
Sie schüttelt den Kopf. „Ich habe eigentlich vor allem Angst.", fängt sie an und mir geht durch den Kopf, dass ich doch keinen Menschen kenne, der mir furchtloser vorkommt als Lydia. Ob es nur den Anschein macht? „Aber am meisten wohl davor, dass ich so viel Zeit damit verbringe, etwas zu wollen, das ich nicht haben kann, dass ich mich am Ende nie mit dem begnügt haben könnte, was in Reichweite ist."
Sie senkt den Blick als sie spricht, irgendwo auf einen Fleck an ihrer Stoffhose, an der sie herumzuzupfen beginnt. Ich spüre, wie ich langsam nicke, und erst da wird mir klar, dass ich das Gefühl teile. Angst, etwas nicht haben und es genauso wenig loslassen zu können. Und sogar ein bisschen Angst, sich so fest an etwas zu klammern, das dem Wunsch auch nur entfernt nahekommt, dass man es am Ende zerquetschen könnte.
Ich erinnere mich an den kurzen Moment am Montagabend in der Umkleidekabine. Bisher hat Magnus nie geäußert, dass es ihn stört, wenn ich mich für ihn einsetze. Aber was ist, wenn es ihn schon immer genervt hat und wir uns erst dadurch so sehr entfernt haben? Er war immer mein bester Freund, mehr als das. Mein Blutsbruder. Aber seit Jahren sehen wir uns seltener. Und gerade das Gespräch über Lydias und meine Beziehungserfahrungen hat mich daran erinnert, wie er wollte, dass ich ihm in dieser Hinsicht nichts verheimliche. Doch selbst hat er mir auch nie etwas erzählt. Vielleicht waren wir uns da schon lange nicht mehr nah genug.
Ich versuche, ihre traurig verträumte Miene durch eine optimistischere Frage zu verscheuchen. „Deine schönste Kindheitserinnerung?"
Ein Funkeln tritt in ihre Augen. Eines, das mir an ihnen ebenso wie der Schalk zuvor, nicht bekannt ist. Selbstverständlich habe ich sie unzählige Male lachen sehen und es kam mir nur selten gekünstelt vor, doch die Freude, die plötzlich aus jeder noch so kleinen Falte in ihrem Gesicht spricht, sehe ich zum ersten Mal. Und es steht ihr wirklich ausgezeichnet.
„Oh, da gibt es so viele. Es gibt gleich zwei, an die ich mich erinnern kann, die im Krankenhaus geendet haben." Während sie die ersten Worte sagt, driftet sie bereits ab in vergangene Zeiten. Und auch ich bin plötzlich woanders, denn auf meine eigenen liebsten Erinnerungen trifft das ebenfalls zu. Für welche wird sie sich entscheiden? Wird sie mich Teil haben lassen an dem, das sie so erfreut wie nichts zuvor in meiner Gegenwart?
„Ich kann mich ehrlich nicht entscheiden, Alexander. Ich habe so viele wunderbare Erinnerungen. Und wann endet eigentlich Kindheit?"
Unwillkürlich spannen meine Wangen vom Lächeln. Ich hoffe, nie, denke ich, doch weiß bereits, dass das Unfug ist. Ich wäre gerne Kind geblieben, hätte meine Entscheidungen einfach so getroffen, wie ich Lust darauf hatte. Wie es sich gut angefühlt hat. Aber so funktioniert das Leben nicht, wenn man erwachsen wird. Man muss Prioritäten setzen, abwägen, Opfer bringen.
„Such dir eine aus, es muss nicht die schönste sein.", entscheide ich für sie und sie seufzt lachend auf. „Du denkst, das macht es leichter?" Und ich weiß, mir würde es ebenso schwerfallen.
„Okay, ich hab' eine!", jubelt sie und klatscht in die Hände, die Matratze unter ihr wippt überrascht über die Energie, die sie jetzt versprüht.
„Ich war damals schon elf und mein bester Freund hatte Geburtstag." Ich lächle sie an. Nicht einmal von einem besten Freund habe ich etwas gewusst, aber fühle mich ihr mit einem Mal viel verbundener. Dann weiß sie ja, wie es ist, denke ich, ohne richtig zu wissen, wofür dieses es steht.
„Ich war natürlich eingeladen zur Feier, nachmittags, nach der Schule. Aber als ich nach Hause gekommen bin, haben meine Eltern gesagt, sie bräuchten meine Hilfe bei irgendetwas. Ich weiß nicht mal mehr genau, worum es ging, nur dass urplötzlich etwas passiert war und sie es eilig hatten, es wieder hinzubiegen." Ich nicke über ihre Erzählung, kann noch nicht ganz verstehen, was diese Erinnerung zu einer der glücklichsten ihrer Kindheit befähigt. Dennoch kann ich mir ihre Eltern gut dabei vorstellen, die meinen in Vielem so ähnlich sind.
Was habe ich eigentlich an meinem elften Geburtstag gemacht?, geht es mir durch den Kopf. War das eines der Jahre, in denen ich Freunde einladen durfte? Oder musste ich damals brav bei Großmutter am Tisch sitzen und ihren trockenen Kokoskuchen essen?
Bevor Lydia weiterspricht, fällt mir die kleine gemütliche Feier wieder ein. Mit Simon, Raphael, meiner Schwester und natürlich Magnus, der wie immer zu spät gekommen ist.
„Jedenfalls habe ich versucht, sie zu überzeugen, dass sie das alleine hinkriegen, immerhin wollte ich zu meinem Freund. Aber sie fanden ihre Angelegenheit viel dringender. Ich hab' angefangen zu weinen und sie zu beschimpfen, aber du weißt ja, wie Eltern sein können. Kindersorgen sind grundsätzlich nicht so schlimm. Ich bin hoch in mein Zimmer, habe das Geschenk in meinen Rucksack gestopft und bin dann einfach weggerannt. Ich wollte meinen Freund einfach nicht enttäuschen."
Überrascht betrachte ich den glitzernden Schleier, der sich über ihre Augen gelegt hat. Wenn sie nun weinen muss, wieso ist diese Erinnerung dann so schön für sie?
„Ich bin bei ihm angekommen, habe ihm das Geschenk gegeben und habe so getan, als ob alles wie immer wäre. Er hat mich sogar gefragt, wieso ich so außer Atem sei, aber ich hab' ihm nie gesagt, was vorher passiert war. Es war sein Geburtstag, er sollte sich einfach keine Sorgen machen."
Ich schlucke schwer. Ich kann mich nicht an alle Details erinnern, aber da blitzt etwas in meinem Gedächtnis auf. Ein junger Magnus mit erhitzten Wangen, der mir noch nach Luft schnappend sein Geschenk im Hausflur überreicht. Ich weiß noch, wie ich mich gewundert, aber nicht weiter nachgefragt habe. Wie Magnus mir mit irgendeiner fadenscheinigen, offensichtlichen Lüge erklärt hat, weshalb er in den darauffolgenden beiden Wochen das Haus nur zur Schule verlassen durfte. Lügen konnte er eben noch nie, ganz anders als Lydia.
Woher hat sie diese Geschichte? Wieso erzählt sie mir meine eigene Erinnerung?
Oder eigentlich stimmt es nicht, denn es ist meine Erinnerung aus Magnus' Perspektive.
Ehe ich sie zur Rede stellen kann, wieso sie mich anlügt, spricht sie mit feuchten Augen weiter.
„Du hättest sein Lächeln sehen müssen, als ich ein bisschen zu spät vor seiner Tür stand. Für ihn war das nur irgendein Geburtstag von vielen, aber ich hab' genau gewusst, wie enttäuscht er gewesen wäre, wäre es anders gewesen."
Und irgendwie kann ich wegen der Tränen in ihren Augen nichts sagen.
Was ist, denke ich und es ist nur der schwache Anflug eines Gedankens, den ich nicht richtig zu fassen kriege, wenn sie doch nicht lügt? Wenn ihre Erinnerung, seine Erinnerung...
„Nächste Frage?", flüstert sie und sieht mir aus ihren wasserblauen Augen ins Gesicht.
„Woher stammt die Narbe an deinem Daumen?", formulieren meine Lippen, ehe ich begreife, was ich da frage. Oder warum ich das frage.
Lydia runzelt die Stirn und ich sehe genau, wie die Finger ihrer rechten Hand tastend über ihren Daumenabdruck streichen, auf der Suche nach der Narbe. Ihrer Linken schenkt sie keine Beachtung.
Und da glaube ich es plötzlich zu wissen. Denn Lydia hat keine Narben an ihren Händen.
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