Jemand Besonderes

Alexander

Am Freitagabend kann ich es kaum erwarten, Magnus abzuholen. Seine Freundin Clary feiert ihre letzte bestandene Prüfung, auch Raphael ist dabei, der Magnus vor ein paar Jahren an die Uni begleitet hat.

Ich hoffe, dass wir zu Fuß zum Studentenwohnheim laufen und etwas Zeit für uns haben, denn gestern konnte ich ihn für die Zeichnung gar nicht gebührend loben.

Natürlich habe ich gewusst, dass Magnus mehr als nur begabt ist. Schon als Kind hat er gerne gemalt und gebastelt. Einmal bin ich vollkommen ausgerastet, als er mir zeigen wollte, wie man einen Origami-Elefanten faltet, und mein Blatt dabei zerrissen ist. Aber diese Zeichnung von ihm zu sehen, diese Zeichnung von mir, das war etwas anderes.

Das Gefühl, dass er mich so sieht, dass etwas so Schönes dabei herauskommt, wenn er mich zeichnet, hat mir im ersten Moment die Luft zum Atmen genommen. All die Details an mir, die er aufgenommen hat, waren nicht einmal mir vertraut. Aber er hat sie gezeichnet, als würde er sie sein Leben lang kennen. Liebevoll, verspielt war jeder einzelne Strich.

Und da war sie wieder, die irrsinnige Hoffnung. Ich habe versucht, mich zu beruhigen. Argumente gefunden: Denn es obliegt doch der künstlerischen Freiheit, die kleinen Macken an der Vorlage weichzuzeichnen. Es geht um seine Note, natürlich hat er sich Mühe gegeben und darauf geachtet, dass sein Werk Gefühle übermittelt.

Aber trotz der Argumente fühle ich mich kribbelig, als er mir die Tür öffnet und heraustritt.

Fast erwarte ich, dass er sich wieder zurechtgemacht hat, mit weitaufgeknöpftem Hemd, Schmuck und der Farbe an den Augen. Ich weiß, dass er schon immer Spaß daran hatte, sich zu verkleiden, und dass er viel mit Schminke experimentiert hat. Aber bis vor ein paar Tagen auf der Feier, durfte ich ihn nie so sehen, als schäme er sich dafür. Dabei steht ihm einfach alles so unfassbar gut.

Stattdessen trägt er wie üblich Jeans und einen grauen Sweater. Unauffällig, als hätte er es nötig, sich zu verstecken.

Wir grinsen einander an, ich werfe einen Blick hinter ihn in seine Wohnung. Ich war lange nicht mehr richtig bei ihm, nicht alleine. Immer nur kurz, um dann gemeinsam mit anderen zu einer Feier aufzubrechen. Was ist aus unserer Freundschaft geworden, dass wir uns nur noch als Teile einer Gemeinschaft zu Gesicht kriegen? Früher waren wir am allerliebsten nur zu zweit. Mein Blick fällt auf den kleinen Esstisch, die Garderobe. Hat er aufgeräumt?

Dann zieht er die Tür hinter sich zu und wir ziehen los.

Ein wenig geknickt bin ich schon, dass er alle meine Versuche, ihn auf das Kunstprojekt anzusprechen, abblockt und mich sogar bittet, es gut sein zu lassen. „Ich bin einfach froh, dass ich es jetzt aus dem Kopf habe. Lass uns einfach mit Clary feiern, okay?"

Schließlich ist der so ersehnte gemeinsame Fußmarsch, schweigend neben ihm her zu gehen, mir unangenehm. So habe ich mich bei Magnus noch nie gefühlt. Selbst wenn wir uns gestritten und einander Vorwürfe gemacht haben, ich habe mir noch nie gewünscht, woanders zu sein. Hier gehöre ich doch hin, an seine Seite.

„Magnus!", freut Clary sich und fällt ihm um den Hals. Mir wirft sie einen bösen Blick zu, brummt dann aber auch meinen Namen zur Begrüßung. Nanu? Wir haben uns doch immer ganz gut verstanden? Fragend blicke ich meinen besten Freund an, der mit ihr über alles redet. Er muss wissen, wieso sie plötzlich so zu mir ist. Wieso? Oder hat er ihr etwas über mich erzählt und sie spiegelt bloß seine verborgenen Gefühle? Mag er mich nicht mehr, ist er deshalb so abwesend?

Magnus zuckt auf meinen Blick hin gelangweilt die Schultern und reicht mir ein Bier. Er geht zu Raphael herüber und lässt mich alleine stehen.

Blinzelnd lehne ich neben der Eingangstür zum Gemeinschaftsraum des Wohnheims, fassungslos. Bis eine schwere Hand auf meine Schulter niedergeht und Jace mich anlacht. Was macht mein Arbeitskollege hier?

Langsam erinnere ich mich an vergangenen Sonntag, als er mit der rothaarigen Studentin aus dem Club verschwunden ist. Das ging ja schnell, fällt mir ein, wenn er nun auf ihrer Feier dabei ist.

„He, Mann! Tut mir Leid, dass sie böse auf dich ist, das ist meine Schuld!", erklärt er, sein Blick verklärt auf seine neue Freundin gerichtet. Vor fünf Tagen hat er das erste Mal mit ihr geredet und schon sind sie ganz verliebt ineinander? Wer zur Hölle hat solches Glück?

„Wieso das denn?", brumme ich zurück. Eigentlich ist es mir egal, was Clary über mich denkt, solange sie Magnus nichts Schlechtes über mich erzählt. Die beiden reden über Alles, über all die Dinge, die Magnus mir schon lange nicht mehr anvertraut. Also wieso sollte er ihr nicht glauben, wenn sie sich über mich beschwert? Wieso sollte er ihr widersprechen?

„Najaaa, als ich mit ihr getanzt habe, hab' ich sie aus Versehen Clara genannt. Das war mir so peinlich, dass ich behauptet hab', du hättest sie die ganze Zeit so genannt."

Ich verdrehe die Augen. „Sie ist total verknallt in dich. Du kanntest sie zwei Minuten, das hätte sie dir niemals übelgenommen. Ich kenne sie seit vier Jahren, was meinst du, was sie jetzt von mir hält?" Obwohl ich mich beschwere, ist es mir egal. Ein wenig kann ich mich über Jace rosarote Verliebtheit mit ihm freuen, und dafür kann er ruhig die neutrale Beziehung zwischen Magnus Freundin und mir opfern. „Sorry, Mann.", murmelt er halb betroffen, halb grinsend. Denn er ist in Gedanken längst bei ihr.

Ich leere das unangerührte Bier und hole mir aus den Kühlschrank ein zweites, nachdem Jace mich alleine lässt. Gerade bin ich auf der Suche nach dem Flaschenöffner, als ich Raphaels Stimme hinter mir vernehme.

„Also, Magnus, wer ist sie?" Aufmerksam geworden fahre ich herum. Sie? War er deswegen so abweisend? Wieso sagt er mir nichts? Nicht nur ich beobachte die beiden Männer, auf der anderen Seite des Raumes erkenne ich die rote Haarmähne und einen alarmierten Blick. Clary? Aber wenn Magnus und Clary... Was ist dann mit Jace?

„Was meinst du?", stellt Magnus sich dumm.

„Schon seit Wochen grinst du die ganze Zeit, wenn du auf dein Handy schaust. Und jetzt kriegst du so eine Nachricht?"

Seit Wochen? Den Rest erschließe ich mir aus den mitgehörten Aussagen ganz von selbst: Magnus schreibt mit einer Frau, die ihm eine prekäre Nachricht geschickt hat. Er hat schon seit Wochen Kontakt mit ihr und ist in sie verliebt, daher das Grinsen. Nur wieso weiß ich nichts davon?

Plötzlich steht Clary neben den beiden und schlingt ihre Arme um den Kleineren. „Raphael, Schatz, tanzt du mit mir?", fleht sie mit einem albernen Hundeblick, dann schaut sie vielsagend zu Magnus. Verwirrt sieht Raphael zwischen seinen Freunden hin und her, bis er die Schultern zuckt und sich mitziehen lässt.

Magnus bleibt alleine an der Theke stehen. Soll ich... Von alleine tragen mich meine Beine zu ihm, bis ich dicht neben ihm stehen bleibe. Schmunzelnd hebt er den Blick, stößt seine ebenfalls verschlossene Bierflasche gegen meine. „Der Öffner ist unauffindbar.", begrüßt er mich. Ich nicke. „Du konntest doch immer die Flaschen aneinander aufhebeln, weißt du noch? Auf meinem Geburtstag hast du damit angegeben." Herausfordernd reiche ich ihm mein Bier.

Kurz schießen seine Brauen in die Höhe, doch dann widmet er sich den Flaschen, bringt die Kronkorken aneinander in Position, schiebt konzentriert seine rosa Zunge zwischen den Lippen hervor. Ich habe noch nie verstanden, wie er das macht, was vermutlich zum Großteil daran liegt, dass ich immer nur auf seinen Mund starren kann. Seine Zunge hat es mir einfach angetan und das schon vor zwölf Jahren.

Mit triumphierendem Grinsen reicht er mir das Getränk zurück und synchron setzen wir an, zu trinken.

Sein Handy liegt vor ihm auf der Theke, als der Bildschirm aufleuchtet. Es registriert sein Gesicht und zeigt eine Nachricht an. „Großartig! Aber können wir nicht noch ein bisschen warten?", lese ich, ehe er das Display etwas von mir wegdreht. Nachdenklich blickt er darauf herunter, ohne seine Finger über die Tastatur zu bewegen.

„Jemand Besonderes?" Ich räuspere mich, als ich höre, wie belegt meine Stimme klingt. Wie er zu mir hochschaut, sieht er kurz aus, als hätte er bereits vergessen, dass ich neben ihm stehe. Oh. So besonders. Dann verzieht sich sein linker Mundwinkel zu einem halben Lächeln. „Kann man wohl so sagen."

Mein Blick gleitet durch die tanzenden Studenten in die Ferne. Immerhin nicht Clary, fällt mir ein, die tanzt schließlich gerade. Also vermutlich jemand, den ich nicht kenne. Ob er sie mir vorstellt? Will ich das denn?

Mir wird wieder bewusst, dass diese Situation neu für mich ist. Er hat noch nie von jemandem gesprochen, die ganzen 22 Jahre lang nicht, die wir uns nun kennen. Und auch wenn ich regelmäßig Angst davor hatte, wie es sein würde, konnte ich immer froh sein, dass er alleine war. Selbstverständlich hätte ich ihm sein Glück gegönnt, das tue ich doch auch jetzt – irgendwie. Aber gleichzeitig fühlt es sich an, als säße jemand auf meiner Lunge. Es ist beklemmend und macht mir Angst. Was ist, wenn er mit ihr zusammenkommt? Was ist, wenn wir uns dann noch seltener sehen, noch weniger über wirklich Wichtiges reden? Sind wir dann überhaupt noch Magnus und Alexander, wie früher?

Er legt das Handy wieder ab, nachdem er seine Antwort getippt hat, ohne es zu sperren. Ich kann seine Antwort sehen. „Du liebst ihn, oder? Deshalb willst du noch warten." Geschockt starre ich auf die Buchstaben, dann auf in Magnus nicht mehr ganz so fröhliches Gesicht. Wer ist sie? Wer ist sie, dass sie jemand anderen liebt und nicht meinen Magnus? Magnus, der seit Wochen vor Freude strahlt, wenn sie ihm schreibt. Hat sie ihm Hoffnungen gemacht? Ihn hingehalten, ausgetrickst?

Gleichzeitig mit seinem senkt sich mein Blick wieder. Sie hat geantwortet.

„Leugnen zwecklos?" Das Zeichen erscheint, dass sie tippt. Kurz darauf: „Es tut mir leid. Das hat nichts mit dir zu tun, ist einfach schon immer so."

Magnus scheint meinen neugierigen Blick auf sein Handy zu bemerken und runzelt die Stirn, als er mich anschaut. Ertappt betrachte ich meine Bierflasche. Beginne, am Etikett zu knibbeln.

„Tut mir Leid, das hätte ich nicht sehen sollen.", nuschele ich. Dabei ist mir durchaus bewusst, dass er die Nachrichten heimlich hätte lesen können, wäre ihm das unangenehm. Er schüttelt den Kopf, das Lächeln, das auf seine Lippen tritt, ist etwas kläglich.

Sofort ziehe ich ihn in meine Arme. „Es tut mir so leid, Magnus.", hauche ich an sein Ohr. „Ich bin ein schrecklicher Freund, dass ich gar nichts mitgekriegt habe. Ich hätte für dich da sein müssen."

Er keucht ein wenig, klopft mir heftig auf den Rücken. „Lass mich atmen, Alec!", beschwert er sich. Als ich meine Umklammerung nur ein bisschen löse, befreit er sich sofort. Das Gold seiner Augen funkelt bedrohlich, bohrt sich in meinen Blick. „Du verstehst das nicht.", zischt er. „Ich kann das alleine." Damit dreht er sich um und kämpft sich durch die wogende Studentenmasse. Ich sehe seinen schwarzen Schopf hinter Jace gestylten blonden Haaren verschwinden.

Du verstehst das nicht. Verdattert bleibe ich an der Bar stehen, klammere mich an meine Bierflasche. Er hat das Recht, wütend zu sein. Diese Frau hat ihn verletzt und ich als sein bester Freund muss es aushalten können, wenn er seine Wut auf mich projiziert. Ich kann das alleine. Wieder schwingt das mit, was er mir schon am Montag vorgehalten hat. Dass ich ihn nicht immer beschützen soll. Seit wann besteht er so sehr darauf, alles alleine schaffen zu können? Waren wir uns nicht einmal einig, dass Brüder einander da unterstützen, wo sie können? Oder bin ich nicht mehr sein Bruder?

Die klebrige Holzplatte vibriert. Ich starre hinab auf sein Handy, das er vergessen haben muss. Eine neue Nachricht wird auf dem Bildschirm angekündigt, allerdings kann ich diese nicht lesen, da das Handy gesperrt ist.

Ich blicke mich um und nehme es in die Hand. Es erkennt kein Gesicht und fragt nach einem Code. Es ist nur eine Eingebung, als ich den alten Code von damals eingebe, als er noch keine Geheimnisse vor mir hatte. 0912.

Das Handy entsperrt sich und zeigt mir sofort den Chat mit der Unbekannten an.

„Aber eigentlich spielt es keine Rolle. Ich mache mir schon lange keine Hoffnungen mehr.", lese ich. Was soll das denn nun heißen? Will sie jetzt Mitleid von ihm? Weil sie genauso hoffnungslos verliebt in jemanden ist wie er in sie?

Wer ist sie überhaupt? Ich schmunzele: Magnus hat sie als „Biest" eingespeichert, allerdings nicht erst gerade eben. Natürlich hilft mir das überhaupt nicht weiter, aber irgendwie passt es zu ihm. Wie ich in seinem Telefonbuch wohl heiße?

Ich verschiebe den Gedanken auf später und versuche, mehr herauszufinden.

Tatsächlich haben sie zuvor gar nicht viel geschrieben, der Chat beginnt erst vor ein paar Tagen. „Hallo, schöner Mann", ist ihre erste Nachricht an ihn. Wenn das keine Hoffnungen schürt?

In seiner Antwort begrüßt er sie mit einem ähnlichen Kompliment. Wäre die Situation nicht so ernst, müsste ich kichern darüber, wie niedlich er sein kann, wenn ihm jemand am Herzen liegt. Gleich in den ersten Mitteilungen haben sie sich bei ihm verabredet. Ich schlucke und versuche, die Bilder aus meinem Kopf zu verdrängen, die sich ganz automatisch formen.

Dann betrachte ich eine Nachricht genauer, sie stammt von gestern. „Bereit für eine Zeichensession?", schrieb sie. Er hat nur ein Fragezeichen zurückgeschickt. Ich schaue auf die Zeit des Empfangs und erinnere mich, eine halbe Stunde später bei Magnus aufgekreuzt zu sein für das Projekt. Zufall?

Jemand stößt mich am Rücken an und ich zucke zusammen, spüre mein Herz bis in meiner Kehle poltern. Als ich ertappt herumfahre, stelle ich fest, dass bloß jemand im Kühlschrank nach einer Schnapsflasche angelt. Ich sondiere noch den Raum um mich herum, um sicher zu sein, dass Magnus nicht gleich vor mir steht und sein Handy sucht, und scrolle durch die Kontaktliste.

Sie hat kein Profilbild im Chat, aber vielleicht hat er etwas anderes von ihr eingespeichert. Ich blättere von oben herunter, bis zum B ist es nicht weit. Dass ich keinen Eintrag mit meinem Namen beim A finde, wundert mich. Stehe ich tatsächlich unter meinem Nachnamen im Telefonbuch meines Kindergartenfreundes?

Ich finde das Biest und tippe sie an. Als mir ihr unscharfes Grinsen vom Anruferbild entgegenspringt, rutscht mir das Gerät fast aus der Hand.

Ich kenne das Foto. Die halb abgeschnittene Hand auf ihrer Schulter ist meine.

Einen Moment lang kann ich sie nur anstarren, dann lege ich das Handy zurück und verlasse den Raum. Jemand besonderes. Schöne Frau. Das waren seine Worte.

Ich erinnere mich, wie ich mir noch vor ein paar Tagen gewünscht habe, sie mögen sich doch besser verstehen. So habe ich mir das allerdings nicht vorgestellt.

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