Ja?
Magnus
„Und jetzt weiß er auch noch..." Ich schniefe, wische mir mit dem hundertsten Taschentuch übers Gesicht. Ich weiß, dass ich erbärmlich bin. Und darüber zu weinen, meinen Körper wieder zu haben, der sich so viel besser anfühlt, ist wirklich bescheuert. Aber nachdem ich Alexander von der Vertauschung berichtet habe, damit er uns nicht für eine eingebildete Affäre verstößt, ist mir klar geworden, dass er jetzt alles weiß. Dass ich das war, der ihm nahe gekommen ist, seine Fragen beantwortet hat.
Clary streichelt mir abermals über den Rücken, seufzt mitleidig und schaut verstohlen auf ihr Handy, das leise auf der Matratze ihres Wohnheimbettes vibriert hat. Ich kann es ihr nicht verdenken. Zu oft habe ich mich bei ihr ausgeweint. Aber dieses Mal ist es eben wirklich schlimm. Dieses Mal geht es nicht nur darum, dass ich Alexander nicht haben kann, nicht so, wie ich will. Dieses Mal habe ich wahrscheinlich sogar seine Freundschaft verloren.
Meine Freundin zieht scharf die Luft ein und springt auf, sodass ich beim Wegfall der stützenden Schulter zur Seite plumpse und mich unbeholfen abfange. Was ist denn jetzt los?
„Tut mir Leid, Magnus.", beteuert sie monoton, den Blick noch auf ihr Telefon gerichtet. Dann blickt sie zur Tür. „Schon gut.", murmele ich, auch wenn mir mit ihrer Abwesenheit auffällt, wie kalt es hier eigentlich ist. Und wie allein ich mich fühle. „Ich geh' nach Hause." Sie schüttelt langsam den Kopf. „Warte nur kurz, ich muss eben vor die Tür und etwas klären."
Verwirrt betrachte ich ihre Rückseite, die sich durch die Tür schiebt, ohne dass ich an ihr vorbei in den Flur schauen kann. Wieso tut sie plötzlich so geheimnisvoll? Wer kann sich bei ihr gemeldet haben? Und geht es um mich, wenn sie mir etwas verbergen will?
Ich wäge ab, wie gefährlich es wäre, dabei entdeckt zu werden, wenn ich von innen an der Tür lausche, beschließe dann aber, meiner Freundin zu vertrauen. Ich weiß, sie würde nichts tun, das mir schadet. Wenn sie also etwas vor mir verbirgt, dann nur, um mir zu helfen.
Dennoch rutsche ich unruhig hin und her, zerknittere ihren Bettbezug mehr als ohnehin schon. Mein Blick versinkt in dem Berg aus Taschentüchern vor meinen Füßen, die ich schwerfällig zusammenklaube und zum Mülleimer herübertrage. Ich erstarre, als hinter der Tür Clarys Stimme laut wird. Sie klingt böse. Die andere Person scheint in normaler Lautstärke zu antworten, ich höre sie nicht. Auch Clary scheint sich schnell beruhigt zu haben, denn es bleibt still.
Unschlüssig setze ich mich zurück auf ihr viel zu weiches Bett und warte.
Die Türklinke drückt sich herunter, erwartungsvoll schaue ich zu ihr. Sie soll mir bitte erklären, was da eben passiert ist.
Der Kopf, der sich hereinschiebt, erscheint ein deutliches Stück weiter oben als erwartet und ich spüre meine Brauen in die Höhe schießen. Kein Wunder, dass Clary geschrien hat, denke ich. Und: Hat er sie k.o. geschlagen, damit er herein kann?
Sein Blick sondiert den chaotisch bunt eingerichteten Raum, fliegt über die Skizzen an den Wänden, dann erfasst er mich. Er sieht traurig aus, hat die Finger vor dem Körper verhakt, knetet sie unbehaglich.
„Ich hätte Ja sagen sollen.", dringen die warmen Vibrationen seiner Stimme zu mir herüber. Ja?
„Wozu?", frage ich zögerlich. Sein ernster Ausdruck macht mir Angst. Angst, dass er hier ist, um mir respektvoll die Freundschaft zu kündigen. Aber was redet er da?
Alexander blickt auf seine Hände herunter, scheint sich zu zwingen, sie von einander zu lösen. Als er sie an seinen Seiten hinab führt, beginnen sie allerdings, rastlos über die Nähte seiner Jeans zu kreisen.
„Dein Antrag.", erklärt er. „Du weißt, dass ich eigentlich Ja sagen wollte."
Reglos starre ich ihn an. Ich höre, was er sagt, kriege aber nur die Hälfte mit. Und habe keine Ahnung, wovon er spricht.
„Ich hab' dir..." Ich schüttele über mich selbst den Kopf. Er muss verwirrt sein. Vielleicht meint er nicht mich, sondern Lydia. Aber wieso sollte sie – mit meinem Körper...? Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie mir das antun würde, um Alexander von mir loszueisen. Nicht, nachdem ich sie in den letzten Tagen kennengelernt habe. Aber andererseits waren meine Gefühle für ihn immer da, vor Allem in seiner Anwesenheit. Und nicht immer war ich besonders vorsichtig, sie unter Verschluss zu halten.
Ich muss an den Abend im Club neulich denken, an dem ich mir gewünscht habe, mit ihm zusammen zu sein. Ich kann mich nicht erinnern, alleine mit Alexander geredet zu haben, nachdem ich ihm die Augen geschminkt habe. Aber ich weiß, dass er mich nach Hause gebracht hat, mich ins Bett gelegt.
„Ich war betrunken, oder?", schlussfolgere ich. Zerknirscht schaue ich auf Alexanders lange Finger, die erneut zueinander gefunden haben. Als er auflacht, zieht es meinen Blick nach oben.
Er hat den Kopf in den Nacken gelegt, ganz leicht. Ich kann seine Zähne sehen, die tausenden kleinen Fältchen, die viel zu selten in seine Augenwinkel klettern. Aber ich höre auch am heiseren Klang, dass er nervös ist.
„Nein.", lacht er. „Da bin ich mir ziemlich sicher."
Das Funkeln ist noch in seinen Augen, als er seinen Blick wieder auf mich richtet und sich seine Lippen entspannen.
Ich schüttele den Kopf, als würde die entsprechende Erinnerung so aus den Regalen meines Gedächtnisses purzeln. Und tatsächlich blitzt ein Bild auf, aber das kann er nicht meinen. Wieso sollte er jetzt davon anfangen?
„Ich erinnere mich.", behaupte ich. „Ich war sechs Jahre alt. Das kannst du mir genauso wenig zum Vorwurf machen, wie wenn ich betrunken gewesen wäre."
Noch während ich den letzten Satz spreche, verziehen sich seine Lippen wieder zu einem Schmunzeln. Er muss nicht aussprechen, was er so lustig findet, denn es fällt mir im gleichen Moment auf: Die Sache mit den Betrunkenen und den Kindern.
„Ich mache dir keinen Vorwurf, Magnus.", erklärt er. „Ich mache mir einen. Weil ich damals so fixiert darauf war, was von mir erwartet wurde, und ich nicht einfach sagen konnte, was ich eigentlich wollte."
Er kommt auf mich zu und drückt beim Hinsetzen die Matratze neben mir herunter. Wie kommt es nur, dass wir unser Leben lang so viele Gespräche in Schlafzimmern geführt haben? Und dieses Mal ist es noch nicht einmal eines von unseren.
„Was willst du mir damit sagen, Alexander? Wenn es dir damals egal gewesen wäre, was deine Mutter denkt, hätten wir jawohl kaum geheiratet."
Vor einigen Minuten noch haben wir in meiner Wohnung über Lydia geredet, über die Vertauschung, darüber, wie ich es ihm beweisen kann. Er hat sich in der Zwischenzeit sicher zusammengereimt, was ich ihm als Lydia gesagt habe.
Jetzt scheint er zu wissen, dass ich ich bin, scheint mir geglaubt zu haben, und möchte mit mir über unsere Kindergartenzeit reden? Fühlt er sich etwa schuldig, wegen dem, was er in Reaktion auf die Doktrinen seiner Eltern getan hat? Nach so vielen Jahren?
„Ich hab' dir doch direkt am nächsten Tag gesagt, dass ich dir nicht mehr böse bin. Meine Nase ist wunderschön verheilt, man sieht überhaupt nichts, schau?" Ich lehne mich etwas zu ihm herüber, damit er mein Gesicht betrachten kann. Ich habe keine Ahnung, ob er in den letzten zweiundzwanzig Jahren einmal genau hingesehen hat. Ob er nicht sein Bild von mir, das er sich ganz zu Beginn gemacht hat, über mein Gesicht gelegt hat, um immer einfach den Magnus zu sehen, der ich für ihn bin, statt den, zu dem ich mich gleichzeitig entwickelt habe.
Dieses Mal schaut er hin. Ich kann seinen Blick auf meinem Nasenrücken spüren, da zuerst. Dann wandert er über meinen linken Wangenknochen und hinab zu meinem Mundwinkel. Schnellt hinauf in mein Auge. Links, rechts, links. Ich würde so gerne wissen, was er sieht.
„Stimmt.", sagt er. „Wunderschön verheilt."
Ich nicke, lehne mich wieder zurück und muss mich räuspern gegen die Enge in meiner Kehle.
„Ist dann jetzt alles wieder gut?", frage ich zittrig. Immerhin haben wir über nichts gesprochen, nichts von dem, das tatsächlich zwischen uns steht. Mein Liebesgeständnis und seine komische Frage nach meinem Antrag von damals.
Alexander schüttelt den Kopf.
„Wieso hast du mich an die Zeltgeschichte erinnert, um mir zu beweisen, dass du du bist? Wir hatten so viele Geheimnisse."
Lächelnd schließe ich die Augen. Wieso weiß er das nicht? Hat er noch immer nicht die einzelnen Fragmente zusammengefügt? Lydia, die nicht sie selbst ist, als sie von Liebe spricht? Die ihn küsst, als würde sie nie wieder die Chance dazu erhalten? Magnus, der an den Morgen in Zelt denkt? Wie kann er das nicht sehen?
Eigentlich bin ich froh, dass Alexander in dieser Hinsicht so schwer von Begriff ist. Clary hat mir direkt alles angesehen, als sie uns gemeinsam begegnet ist. Und selbst Lydia hat es herausgefunden, der ich immer egal war. Aber nicht Alexander.
„Welches hättest du gewählt?", frage ich zurück, um nicht antworten zu müssen.
Alexander zuckt die Schultern. „Als dein Onkel und du mich heimlich auf dem Müllwagen habt mitfahren lassen?", schlägt er vor. „Wir haben es Isabelle erzählt.", erinnere ich ihn. Er legt den Kopf schief, blickt aufwärts in irgendeine Ecke seines Gedächtnisses. „Die Lateinklausur, bei der wir nach der Hälfte der Zeit die Zettel getauscht haben, damit du meine Übersetzung auch schreibst." Ich muss lachen. Das war wirklich eine dumme Idee, aber wir haben Alexander eine vier für das Schuljahr gesichert und die Lehrerin hat sich zwar gewundert, aber nichts herausgefunden. Wieder muss ich allerdings verneinen. „Du glaubst ja nicht, dass mir das jetzt noch peinlich genug wäre, um es Lydia nicht zu erzählen.", argumentiere ich.
Frustriert schüttelt er den Kopf, und auch bei ihm scheint das dem Erinnern auf die Sprünge zu helfen. „Der Kuss.", sagt er leise, den Blick quer durchs Zimmer gerichtet, wer weiß wohin. Ich nicke. Es gibt nur diesen einen, den er meinen kann. „Gute Erinnerung.", muss ich zustimmen.
Und ehe ich mich versehe, wenden wir uns einander zu und stürzen uns zeitgleich nach vorne. Unsanft stoßen unsere Nasen aneinander, dann unsere Lippen. Alexanders Hände krallen sich in den Ausschnitt meines Shirts und halten mich so ganz nah vor seinem Körper gefangen. Eine ganze Weile sitzen wir so da, die Lippen still aufeinander gepresst. Es ist ein Kuss unter Freunden, und dann irgendwie auch nicht. Und dennoch reicht es aus, damit mein Herz riesengroß anschwillt, so sehr, dass ich es zeitgleich gegen meine Rippen und meinen Kehlkopf und in meinem kleinen Zeh pochen spüre. Mein ganzer Körper scheint zu beben von den heftigen Stößen, mit denen es das Blut durch ihn hindurch jagt.
Kühle Luft ersetzt für einen Moment Alexanders Lippen, ich öffne irritiert die Augen. Überlegt er es sich anders? Das kann er nicht, nicht jetzt!
Bevor er etwas sagen kann, fahre ich mit meiner Hand in seinen Nacken und ziehe ihn zurück zu mir. Diesmal wissen meine Lippen, was sie wollen, ertasten seine mit festem Druck. Ich habe es eilig, will ihm in so kurzer Zeit wie möglich beweisen, dass er jetzt lieber nicht zurückrudern möchte. Ich fahre in die Haare in seinem Nacken und darin aufwärts. Wüst kitzeln sie meine Handfläche, bis ich registriere, wie Alexander endlich reagiert. Auch er umfasst meinen Körper, zieht mich an der Taille an sich, bis unsere Oberkörper sich berühren. Er öffnet seinen Mund an meinem und atmet mir heiß entgegen.
Und dann schafft er es plötzlich doch, sich meinem klammernden Griff zu entwinden. „Magnus!", japst er. „Warte!"
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