Fremd
Magnus
Ich spüre, dass es noch mitten in der Nacht ist, als ich erwache. Irgendetwas stimmt nicht.
Abgesehen davon, dass ich keinen Schimmer habe, wie ich gestern in meine Wohnung, geschweige denn in mein Bett gekommen bin, fühlt sich mein Körper sonderbar an. Ich liege auf dem Rücken – ich schlafe nie auf dem Rücken – und etwas Warmes drückt unangenehm schwer auf meine Brust. Ich habe keine Katzen in meiner Wohnung, die nachts in mein Bett klettern, also woher kommt dieses Gefühl?
Nicht nur mein Kopf dröhnt vom gestrigen Exzess, auch mit meinen Beinen ist etwas nicht in Ordnung. Irgendwie spüre ich meine Füße an einer anderen Stelle, als sie sich tatsächlich befinden. Meine Schenkel spannen unangenehm, wie nach langem Laufen. Sogar meine Wimpern kleben auf ungewohnte Weise zusammen.
Blinzelnd rolle ich mich herüber auf die Seite und will wie gewöhnlich meinen Arm über die Bettkante baumeln lassen. Als mein Handrücken aber nackte Haut steift, zucke ich zurück.
Krampfhaft versuche ich, mich an den vergangenen Abend zu erinnern, doch nach der Begegnung mit der fremden Frau ist mein Gedächtnis leer. Sie hat mich doch nicht etwa entführt? Oder für einen Komplizen ausgeknockt, in dessen Bett ich nun liege?
Ehe meine Panik Besitz von mir ergreifen kann, zwinge ich mich, die schlafende Person neben mir in Augenschein zu nehmen, und schnappe keuchend nach Luft. Wie erstarrt blicke ich auf das entspannte Gesicht herab und kann meinen Augen nicht trauen. Was auch immer diese Dorothea mir gegeben hat, es muss irgendein Halluzinogen gewesen sein, das mir nun vorgaukelt, mein Wunsch gehe tatsächlich in Erfüllung.
Der Mensch dort neben mir ist also nicht tatsächlich Alexander, vorausgesetzt, dass dort überhaupt jemand liegt. Ich bilde mir den seligen Ausdruck auf seinem Gesicht nur ein, genau wie die nackten Schultern, die unter der Decke hervorlugen. Nichts auf der Welt könnte geschehen, dass ich jemals so aufwachen werde, nicht in Wirklichkeit. Seine langen Wimpern ruhen entspannt auf seinen Wangen, die vollen Lippen sind leicht geöffnet und immer mal wieder dringt ein zum Quietschen niedlicher Schnarchlaut zwischen ihnen hervor.
Niemals ist das wirklich Alexander. Also ist es ja gar nicht schlimm, wenn ich vorsichtig über die weiche Haut an seinem Hals streichle. Und mal mit den Lippen nach seinen taste... Er wird schon nicht davon aufwachen.
Ehe ich meinen Plan in die Tat umsetzen kann, atme ich diesen unverkennbaren Duft ein. Holz und Herbstlaub und minzige Frische. Erschrocken setze ich mich auf. Ich habe mich geirrt: Das hier ist real. Es ist mitten in der Nacht und ich liege neben einem halbnackten Alexander im Bett.
Wobei... In unstillbarer Neugier hebe ich die Decke an und erkenne im Dunkeln schemenhaft die Schlafanzughose, die seine untere Hälfte umhüllt. Erleichterung überkommt mich. Sicherlich hätte ich nicht das geringste Problem damit, auch neben einem komplett nackten Alexander aufzuwachen, doch sicherlich nicht nach einer Nacht, an die ich keine Erinnerung habe.
Vielleicht war genau das der Grund. Vielleicht bin ich ohnmächtig geworden und mein Ritter in strahlender Rüstung wollte mich nicht alleine in meiner Wohnung lassen. Ob er mich hergetragen hat?
Die leuchtenden Ziffern auf seinem Wecker – denn wir befinden uns eindeutig nicht in meinem Zuhause – zeigen mir an, dass ich ihn bereits seit fast einer Stunde mustere, als meine Augen schon zuzufallen drohen. Dabei würde ich gerne auf Schlaf verzichten für diesen Anblick.
Leise seufzend klettere ich über ihn und tapse barfuß ins Badezimmer. Wenn ich nach der Begegnung am vergangenen Abend tatsächlich keine Kontrolle mehr über mein Handeln hatte, sollte ich nun zumindest mein Gesicht waschen und mit ein bisschen Zahnpasta gurgeln. Ich stütze mich auf den Rand des Waschbeckens und blicke im Halbdunkeln langsam auf in den Spiegel, um mich schrittweise mit dem Ausmaß der verzwickten Lage zu konfrontieren.
Ich schlage die flache Hand vor den Mund, um den schrillen Schrei zu dämpfen, der mir entkommt.
Blinzelnd nähere ich mich dem Spiegelbild und sehe ganz genau hin. Dann wende ich mich ab und schüttele den Kopf. Das ist nicht wahr. Das ist einfach nicht wahr, ich bilde es mir ein. Es muss eben doch irgendein wahnförderndes Mittel gewesen sein, das sie mir gegeben hat. Denn so verkatert kann ich gar nicht sein.
Zögernd blicke ich doch wieder hin und schalte schließlich mutig das Licht ein. Und plötzlich sieht alles viel realer aus. Ich stand noch nie unter Drogen, hätte aber immer gedacht, dass alles ein wenig verschwommen oder ausgefranst aussehen müsste. Dass vielleicht Details fehlen oder gerade Raumlinien sich unwirklich krümmen. Doch in Alexanders Badezimmer ist alles wie immer. Sogar die kleinen Flecken auf dem Spiegel kann ich erkennen, die man eigentlich täglich wegwischen könnte, wenn man gründlich wäre. Auch der aufdringliche Sprung der einen Wandfliese fällt mir ins Auge, direkt über dem Waschbecken. Der war schon bei Alexanders Einzug dort. Ob ich das noch wüsste, wenn ich unter Drogen stünde? Ob es mich dann interessieren würde?
Das einzige, das sich radikal verändert hat, bin ich. Oder – bin ich das?
Aus dem Spiegel blickt mir eine kleine, blonde Gestalt entgegen. Die Haare liegen in einem ordentlich geflochtenen Zopf über ihrer Schulter, das drückende Gewicht, das mir direkt nach dem Erwachen aufgefallen war, rührt ziemlich eindeutig von der auffälligen Oberweite her, die aus einem ärmellosen Oberteil fast hervorquillt. Volle Wangen – Babyspeck, in dem Alter noch, habe ich hämisch mit Clary gewitzelt -, eine feine, spitze Nase, kühle, blaue Augen.
„Morgen wirst du dich wundern, wie leicht es war.", dringt eine halbfremde, weibliche Stimme in meinen Kopf. Dorothea.
Noch immer halte ich mein Spiegelbild (denn irgendwie ist es ja meines) fixiert und mustere fassungslos jedes Detail. Hat sie sich tatsächlich schlafen gelegt, ohne sich abzuschminken? Jede Zwölfjährige weiß doch, dass das schlecht für die Haut ist.
Und dann wird mir bewusst, dass Dorothea mich nicht belogen hat. Es war tatsächlich ganz einfach.
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