Eine Freundin

Alexander

Der Morgen im Zelt.

Ganz von alleine führen mich meine Beine aus dem Wohnhaus, eine Straße entlang, die mir vertraut ist, aber richtig kann ich meine Umgebung nicht wahrnehmen.

Der Morgen im Zelt, hat er gesagt, und das war alles, was ich wissen musste. Magnus und ich haben als Kinder oft gemeinsam in einem Zelt geschlafen. In seinem Zimmer, in meinem Garten, nie weit weg von zuhause. Draußen hatte er meist Angst, wenn der Wind an den Stoffwänden vorbeigepfiffen ist und er nicht sehen konnte, woher die raschelnden Geräusche stammten. Aber gemeinsam sind wir eingeschlafen. Arm in Arm, Hand in Hand. Entsprechend gab es viele Morgen in Zelten, aber nur einen, den er meinen kann. Einen, der seit zwölf Jahren in meinem Kopf herumspukt, meinen ganzen Körper in Aufruhr versetzt, wenn ich eigentlich doch weiß, dass ich aufhören muss, zu hoffen.

Magnus steckt in Lydias Körper. Im Grunde musste er es mir nicht beweisen, ich habe es doch längst geahnt, mich nur nicht getraut es zu glauben. Denn das hätte auch bedeutet, wieder zu hoffen. Schließlich hat er mich geküsst. Mir gesagt, dass er mich liebt. Hätte er das getan, nur um authentisch ihre Rolle zu spielen?

Meine Hand führt den Schlüssel an das Schloss meiner Wohnungstür. Ich bin schon zuhause? Was ist, wenn er die Wahrheit gesagt hat? Denn immerhin kann Magnus nicht lügen, konnte er nie. Was ist, wenn er mich liebt? Er in Lydias Körper?

Mit einem Tee setze ich mich auf mein Bett, lehne mich gegen die Wand. Wann habe ich den gekocht? Ich kann nur an Magnus denken. Wie ist das passiert? Was hat das mit seinem Wunsch zu tun, von dem er gesprochen hat?

Ich denke an meinen eigenen Wunsch, aus dem Moment geboren, als ich Lydias bohrende Blicke auf ihm bemerkt habe. Wie sie sich immer noch nicht ausstehen können. Dass sie miteinander auskommen würden, sich vielleicht endlich anfreunden. Dabei hätte ich mir so viel mehr wünschen können. Ehrlich sein zu können, zum Beispiel. Diese bescheuerte Angst loszuwerden, alles und jeden zu enttäuschen, wenn ich einfach sage, was ich wirklich will.

Nach all den Jahren ist es mir beinahe – nur beinahe, sonst wäre ich kaum mit Lydia zusammengeblieben – egal, was meine Eltern davon denken. Aber Magnus zu enttäuschen, ihn endgültig zu verlieren, nachdem wir uns nach und nach entfremdet haben, das würde ich nicht verkraften. Nur was, wenn es ihm genauso geht? Was, wenn er die Wahrheit gesagt hat, und es sich erst getraut, weil er sich im Körper einer anderen sicher gefühlt hat, dass ich es nicht auf ihn zurückführen werde?

Ich stelle die Tasse weg, lehne mich in die weichen Bezüge meines Bettes. Ich habe mit Magnus in diesem Bett geschlafen. Nicht so, wie ich es wollte, nicht eng umschlungen, nicht mit seinem Duft in meinen Laken, aber es war doch er, ganz nah, im Schlaf verletzlich.

Erschrocken fahre ich auf, als es klingelt, reiße kurz danach die Tür auf – und Magnus in meine Arme. Ich kann es einfach nicht fassen, aber er muss wissen, dass ich ihm glaube. Dass mir der dumme Vorwurf leidtut, er könne tatsächlich etwas mit Lydia angefangen haben. Die Nachrichten, das verstehe ich jetzt, waren ein Scherz. „Hallo, schöner Mann", an sein eigenes Handy, seinen eigenen Körper. Das passt einfach zu ihm. Viel mehr, als auch nur daran zu denken, mich zu verletzen.

Keuchend, weil ich ihn zu fest umschlinge, drückt  er mich an meinen Schultern von sich und betrachtet mich abschätzend aus den kühlen blauen Augen, in denen ich vergebens nach dem goldenen Schimmer suche. Natürlich.

„Ich liebe dich.", platzt es aus mir heraus, dabei war ich mir noch lange nicht sicher, es jetzt gefahrlos sagen zu können. Ob ich sicher sein kann, ihn nicht zu verlieren. Andererseits habe ich ihn schon immer geliebt, als meinen Freund, meinen Bruder.

Eine Hand saust auf meine Wange nieder, erschrocken taste ich nach der brennenden Stelle. Einiges hätte ich vorhersehen können, aber das nicht.

„Du warst immer zuverlässig und anständig, Alec. Also hab doch jetzt bitte den Anstand, mir ein bisschen Respekt zu erweisen.", zischt Lydias Stimme. Langsam sickert die Wahrheit in meinen Verstand. Zeitgleich mit dem schlechten Gewissen, das sich dazugesellt, bricht in meinem Kopf Jubel los. Er ist frei! Ich wusste nicht, was ich gemacht hätte, wären sie dauerhaft vertauscht gewesen, darüber habe ich nicht nachgedacht. Aber das hier ist Lydia. Mein Magnus ist wieder in seinem eigenen Körper. Und er hat noch nicht gehört, wie ich ihm sage, dass ich ihn liebe.

„Es tut mir Leid, Lydia.", flüstere ich. Sie verdreht die Augen. „Was davon? Dass du ihn liebst? Oder dass du ihm das sagen wolltest, bevor du mit mir Schluss gemacht hast?"

Geschockt blicke ich sie an. Sie ist so gefasst, fast als mache es ihr nichts aus.

„Das zweite.", gestehe ich und sie nickt. „Ist schon okay, Alec. Ich habe es immer geahnt, aber so richtig realisiert habe ich es erst, als ich am Montag in seinem Körper aufgewacht bin. Mein Wunsch... Das hat einfach Sinn ergeben."

Ihr Wunsch? Sie hat sich also auch etwas gewünscht, das zu dieser verqueren Situation beigetragen hat? Ich setze zu sprechen an, aber sie hält mich mit erhobener Hand davon ab.

„Das werde ich dir ganz sicher nicht sagen.", verspricht sie eisig, bevor ihre Miene im Bruchteil eines Augenblicks milde wird. „Ich hab' es jetzt verstanden, Alec. Ihr gehört zusammen. Nur wieso hast du das hier überhaupt angefangen?" Mit einer Geste deutet sie unbestimmt durch den Raum, meint wohl sich und mich.

Ich zucke mit den Schultern, dabei weiß ich es genau. Ich brauchte den Schein. Damit niemand merkt, wie ich fühle, damit ich mich nicht verletzbar machen muss. Und ein bisschen habe ich wohl auch gehofft, dass ich selbst damit vergessen könnte, was ich eigentlich will.

„Ich hätte dich dafür nicht benutzen dürfen.", stelle ich fest. Es tut mir wirklich leid, denn ich mag Lydia. Nur eben nicht so, wie ich es über zwei Jahre hinweg vorgegeben habe.

Lächelnd kommt sie auf mich zu und nimmt mich überraschend in den Arm. Jetzt merke ich ganz deutlich, wie ihr kleiner, weicher Körper sich falsch anfühlt an meinem. „Ist schon in Ordnung, Alec. Wir haben einander geholfen. Jetzt brauchst du mich nicht mehr."

Als sie das sagt, muss ich an ihre Familie denken, wie ihre Eltern mich ähnlich herzlich aufgenommen haben, wie meine sie. Die Magnus nie akzeptiert haben, nicht mal als meinen Freund. Erleichtert atme ich auf, als mir klar wird, dass sie mir nicht böse ist. Dass auch sie sich nie genommen hat, was sie eigentlich wollte.

Sie lässt mich los, streichelt über meinen Arm und deutet mit dem Kopf zur Tür.

„Ich packe meine Sachen zusammen und ziehe hinter mir zu. Geh schon, Alec!"

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