Damals - mit 8

Alexander schrie. Er konnte sich nicht erinnern, jemals in seinem jungen Leben solche Schmerzen erlebt zu haben.

Zuerst war da nur der Schreck gewesen, der ihn hatte aufkreischen lassen, doch recht bald stellte sich das brennende Gefühl auf seinem Schoß ein. Noch während das siedende Fett durch seine dunkle adrette Festtagshose sickerte, spürte er schon, wie sich Hautschicht für Hautschicht abpellte.

Alexander schrie und jammerte und fuchtelte mit den Armen und verhielt sich damit genau so lösungsorientiert, wie ein Achtjähriger dazu eben im Stande war, in einer solchen Situation. Izzy verdrehte genervt die Augen, als würde ihr Bruder lediglich Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollen. Maryse dagegen, die den Topf überhaupt erst mit einer energischen Geste zur Untermalung ihrer Festtagsansprache an die Familie umgestoßen hatte, behielt einen kühlen Kopf. Kurzerhand hob sie ihren Sohn hoch, trug ihn nach oben ins Bad, wo sie ihn in die Wanne legte und lauwarmes Wasser über ihn laufen ließ. Unterdessen hielt sie ihren Mann an, einen Krankenwagen zu rufen, der aufgrund der überzufälligen Häufung von Kerzenunfällen am Heiligen Abend ganze zwanzig Minuten brauchte, um auf den Plan zu treten.

Magnus saß um die gleiche Zeit am Esstisch mit seinen Eltern und schmollte. Es war wie jedes Weihnachten seit vier Jahren. Er verstand einfach nicht, wieso er Alexander nicht sehen durfte. Seit sie eingeschult worden waren, sah er ihn jeden einzelnen Tag. Aber ausgerechnet an einem Tag, der wichtig und schön sein und mit der Familie verbracht werden sollte, durfte er ihn nicht sehen. Wer entschied denn bitte einfach, dass Alexander nicht zu seiner Familie gehörte?

Nur einmal, wenigstens dieses Jahr, hätten sie doch zusammen feiern können. Magnus wollte dabei sein, wenn Alexander die Geschenke vom Weihnachtsmann öffnete (denn während bei Familie Bane das Christkind kam, bestand Alexander darauf, dass bei ihnen der Weihnachtsmann für die Bescherung zuständig war) und wenn er unterm Baum sein Gedicht aufsagte (Alexander hatte von der Tradition seiner Familie erzählt und obwohl Magnus sich das ziemlich demütigend und peinlich vorstellte, wäre er lieber dabei und würde sich diese Blöße geben, als jetzt von seinem Freund getrennt zu sein).

„Nun iss schon deine Suppe, Kind!", ermahnte sein Vater ihn, aber Magnus blieb stur. Seine Mutter seufzte, nahm dann neben ihm Platz und legte ihre Hand tröstend auf seinen Arm. „Wir machen Folgendes: Du bastelst ein Geschenk für Alexander, das kannst du ihm geben, wenn ihr euch wiederseht. So habt ihr beide dann euer eigenes kleines Weihnachten. Ist das in Ordnung für dich?"

Magnus war einverstanden und so aß er seine Suppe, sang vergnügt und mit verändertem Text die Lieder mit, die von einer CD abgespielt wurden, und hatte sogar schon alle Geschenke geöffnet, als der Anruf kam. Alle bis auf eines.

Alexander überkam ein angstvolles Frösteln, als er auf einer Liege in den Rettungswagen geschoben wurde. Dieser Geruch, die Farben, alles daran schüchterte ihn ein. Er hatte noch immer Schmerzen, doch in dem Moment konnte er nur daran denken, dass sie ihm gleich sicher eine Spritze geben wollten, und das könnte er wirklich nicht zulassen.

Seine Mutter stieg zu ihm in den Wagen und drückte seine Hand. Ein Sanitäter mit dichtem Bart machte einen Witz, über den Alexander nicht lachen konnte, piekste ihn dann doch mit einer Nadel und nach und nach vergaß Alexander seinen Schmerz.

„Magnus.", sagte er schließlich und Maryse beugte sich hilflos über ihn. „Was hast du gesagt, Schatz?" „Ich will, dass Magnus kommt.", präzisierte Alexander. „Bitte ruf ihn an und sag ihm, dass er kommen soll." Maryse schüttelte mit einem nachsichtigen Lächeln den Kopf. „Ach, mein süßer Junge. Es ist Weihnachten, er feiert gerade mit seiner Familie. Da wird er sicher nicht ins Krankenhaus kommen können." Augenblicklich schossen Tränen der Wut in Alexanders Augen. Seine Mutter log: Natürlich würde Magnus zu ihm kommen, das war ganz klar. Andersrum würde er doch auch nicht zögern und ihn sofort besuchen.

An die Stunden danach konnte Alexander sich nicht wirklich erinnern. Man hatte ihn auf einem Bett durch ein paar helle Gänge geschoben, es gab noch ein paar weitere Nadelstiche, doch die machten ihm allesamt nicht mehr viel aus. Er erwachte in einem Zimmer, seine Mutter erneut an der Seite seines Bettes. „Hast du Magnus angerufen?", erkundigte er sich mit belegter Stimme, die klang, als hätte er drei Tage durchgeschlafen. Maryse seufzte auf. „Weil ich wusste, dass du keine Ruhe gibst, habe ich seine Eltern benachrichtigt. Aber es ist, wie ich gesagt habe: Er wird kaum am heiligen Abend ins Krankenhaus kommen, mein Schatz. Sicher besucht er dich nach den Feiertagen zuhause."

Alexander schüttelte den Kopf, merkte aber, dass jede Bewegung ihm noch schwerfiel. Er glaubte seiner Mutter einfach nicht. Bestimmt hatte sie gar nicht angerufen. Er wusste ja, dass sie Magnus nicht gerne mochte, also wollte sie auch gar nicht, dass er ihn besuchte.

Mitten in den Gedanken hinein klopfte es an der Tür des Krankenzimmers. Eine kleine Hand schob sich herein und dunkle Haare lugten hinter dem massiven Holz hervor. „Magnus!", stieß Alexander hervor und der Besucher lief eilig auf seinen Freund zu, packte seine Hände und lehnte sich an die Bettkante. Später erklärte Alexander sich seine Tränen ganz logisch mit der starken Erschöpfung durch den Schreck und die darauffolgende Notbehandlung. Dass er weinte, weil sein bester Freund ihn nicht enttäuscht hatte, konnte auf keinen Fall sein.

Schließlich saß Magnus neben Alexanders Knien auf dem Krankenhausbett (Maryse hatte versucht, ihn davon abzuhalten) und sie erzählten sich von ihren jeweiligen Weihnachtsfesten. Schließlich seufzte die Erwachsene, erklärte, dass sie sich am Automaten einen Kaffee besorgen würde, und drückte ihrem Sohn einen Kuss auf die Stirn, ehe sie das Zimmer verließ. Erleichtert atmeten beide auf, denn so fühlten sie sich miteinander am wohlsten, wenn niemand sie in ihrer Blase aus Zuneigung und Freundschaft beobachtete.

Lächelnd griff Magnus in einen Stoffbeutel, den er dabei hatte und zog einen rot und golden umwickelten, unförmigen Gegenstand hervor. Alexander staunte, als er das kleine Geschenk sah.

„Ich hab' gedacht, du hast bestimmt noch keine Geschenke ausgepackt und sie auch nicht mitgenommen, also kannst du das hier haben. Es ist zwar nicht vom Weihnachtsmann, sondern vom Christkind, aber vielleicht magst du es ja trotzdem."

Alexander runzelte lächelnd die Stirn. Ihm war natürlich total egal, wer das Geschenk gebracht hatte. Im Moment zählte nur, dass es Magnus war, der es ihm übergab. „Es ist eins von meinen, es war noch übrig, als deine Mama bei uns angerufen hat.", fügte Magnus hinzu und Alexander staunte noch mehr. Magnus wollte einfach so sein Geschenk mit ihm teilen?

Magnus lächelte seinem Freund aufmunternd zu. Auch wenn er sich zuvor schreckliche Sorgen um Alexander gemacht hatte und er so schnell wie möglich hatte dort sein wollen, um ihn zu trösten, gefiel es ihm, nun doch ein Weihnachtsfest gemeinsam mit ihm zu verbringen. Auch wenn es nicht so war wie in seiner Vorstellung.

„Was ist denn darin?", fragte Alexander und nahm Magnus ehrfürchtig das an ihn abgetretene Geschenk aus den Händen, zupfte vorsichtig am Geschenkband herum, ohne die Schleife zu lösen. Magnus lachte. „Keine Ahnung."

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