Begegnung
Alexander
„Alexander?"
Mein leise in den großen Raum herein gerufener Name lässt mich aufblicken. Seit wann nennt sie mich so? Seit wann bleibt sie am Eingang stehen und schaut suchend nach mir? Ich winke ihr zu, sodass sie herüberkommt und sortiere noch ein paar Aufgabenblätter und Testbögen auf meinem Pult, verschließe die Schublade mit den vorgefertigten Klausuren für den Chemiekurs der zehnten Klasse, und lächle sie an. Unsicher fummelt Lydia am Saum ihres Oberteils herum, blickt mir dabei kaum in die Augen.
Erst als ich an die vergangene Nacht im Pandemonium und unsere Gespräche auf dem Nachhauseweg denke, kann ich mir ihre Nervosität erklären und werde meinerseits unsicher. Vorsichtig lehne ich mich vor und drücke ihr einen keuschen Kuss auf die Wange. „Wir können dann.", erkläre ich und will ihre Hand greifen, als sich mein verehrter Kollege zu Wort meldet.
„Wow, ihr zwei seht aus wie ein altes Ehepaar, das in getrennten Zimmern schläft und ewig keinen Sex mehr hatte. Wie alt seid ihr nochmal?", feixt Lorenzo und ich spüre, wie mir das Blut in den Kopf schießt, balle meine Hände zu Fäusten. Es geht ihn immerhin überhaupt nichts an, dass er mit seiner Aussage zu ungefähr sechzig Prozent richtig liegt. Lydias Blick liegt noch auf mir, sie löst mit ihren Fingern meine Faust und verschränkt sie miteinander. Automatisch atme ich auf. Er ist es nicht wert. Umso mehr überrascht es mich, als Lydia spricht, die solche Bemerkungen sonst erhobenen Hauptes ignoriert. Man streite nicht mit Menschen, die weniger intelligent sind als man selbst, ist ihre Devise.
„Du hättest es lieber, wenn wir rumknutschen und uns die Kleider vom Leib reißen würden?", fragt sie zuckersüß nach. „Da muss ich dich enttäuschen, mein Lieber, das hier ist immerhin ein Schulgelände. Aber komm' doch gleich heute Abend bei uns vorbei."
Verblüfft starre ich sie an. Was will sie denn damit bezwecken? Sie tut, als wolle sie sich nun zum Gehen wenden, schaut zu mir hoch und legt die freie Hand beruhigend auf meiner Brust ab. „Ach, tut mir Leid, Tiger. Hab' ganz vergessen, dass du nicht gerne teilst." Dann verlässt sie hüftschwingend das Lehrerzimmer, zieht mich noch immer an ihrer Hand hinter sich her.
Auf dem Flur bleibe ich verblüfft stehen und zwinge über unsere verbundenen Hände auch sie zum Anhalten. Was war das für ein untypisches Verhalten für sie? Hat sie das für mich gemacht, damit nicht ich mich mit Lorenzo anlegen muss? Und wenn ja, wieso ist sie nicht noch böse von der vergangenen Nacht?
Ich hatte darauf bestanden, Magnus heim zu bringen, der vollkommen betrunken nur noch auf sein Bett geplumpst war. „Wir hätten ihn besser mitnehmen und bei mir schlafen lassen sollen.", habe ich bemerkt, als wir ihn alleine ließen. „Nicht, dass er sich beim Schlafen übergeben muss und dann..." Lydia hat die Augen verdreht und mich unterbrochen. „Er hat zu viel getrunken, selber Schuld. Und er wird nicht dran sterben, er ist schon groß und vernünftig genug, um auf sich aufzupassen." Nach ihren Worten bin ich nur noch unsicherer geworden und habe mir gewünscht, ich hätte sie heimgeschickt und neben ihm geschlafen, um auf ihn aufpassen zu können. Doch da ist der Moment der Entscheidung bereits vorüber gewesen und den Heimweg über haben wir darüber eisern geschwiegen.
Als ich Lydia nach Abschminkzeug gefragt habe, wegen der lustigen schwarzen Streifen, die Magnus mir verpasst hatte, hat sie wieder wütend geschnaubt. „Wieso wolltest du, dass er dich schminkt? Das ist doch lächerlich für einen Mann." Verwundert und ärgerlich zugleich habe ich sie angesehen. „Aber Magnus sah heute doch toll aus, findest du nicht?" Und so hatte der erneute Streit darüber begonnen, wieso ich Magnus angeblich immer über sie stellen würde. Insgeheim muss ich Lydia Recht geben und habe ein schlechtes Gewissen ihr gegenüber, weil es nicht in Ordnung ist, die Beziehung zu ihr aufrecht zu erhalten, obwohl Magnus mir so viel wichtiger ist. Und gleichzeitig nehme ich ihr den Vorwurf übel, der von ihrer Warte – ohne Kenntnis über meine Gefühle für Magnus – darin besteht, dass ich mir zu viele Sorgen um meinen besten Freund machen würde. Denn das übersteigt eindeutig ihren Einflussbereich.
Dennoch hat sie Lorenzo soeben abgefertigt, womöglich mir zuliebe. Lydia wirbelt herum, als ich stehen bleibe und grinst mich an. „Was ist? Willst du den Idioten etwa doch mit nach Hause nehmen?" Ich lache. Und wundere mich gleichzeitig darüber: Lydia macht sonst keine Scherze.
Ich schüttele lächelnd den Kopf und folge einer Eingebung, als ich sie an der Hand zu mir heranziehe und unsere Lippen vereine.
Jedes Mal, wenn sie mich von der Schule abholt, habe ich den Camille-Vorfall im Kopf, der sich auf keinen Fall wiederholen darf, und den Tipp, den Magnus mir gegeben hat. „Es ist doch klar, dass deine Schülerinnen sich in dich verlieben. Du bist jung und gutaussehend. Frag doch Lydia, ob sie dich nach deinem Feierabend von der Schule abholt, das macht sie bestimmt. Dann gibst du ihr dabei ab und zu einen Kuss und sobald es nur ein Schüler sieht, werden sie es sowieso rumerzählen, dass du vergeben bist." Und auch, wenn ich jetzt an die viel zu aufdringliche Schülerin aus der Zeit meines Referendariats und Magnus' Worte denken muss, fühlt es sich anders an als sonst, ein bisschen so, als würde ich sie wirklich küssen wollen.
Ihre Lippen sind wärmer als gewohnt, und sobald ich sie mit meinen berühre, bewegen sie sich sanft. Meine Augen schließen sich entspannt und ich ziehe sie am Nacken leicht zu mir heran. Selbstverständlich habe ich sie schon häufiger geküsst, schließlich bin ich ganz offiziell mit ihr zusammen und das seit zwei Jahren. Und doch kann ich mich an kein einziges Mal erinnern, bei dem es sich auch nur annähernd so angefühlt hat. Sie riecht auch anders, bilde ich mir ein. Nach Frühlingsblüten. Und Kirsch-Streuselkuchen.
Erschrocken öffne ich meine Augen und ziehe mich von ihr zurück. Staune darüber, dass sie einfach an Ort und Stelle verharrt, mit geschlossenen Augen. „Wow.", stößt sie hervor, runzelt die Stirn und lässt ihre Lider aufflattern, schaut mich an. Und auch wenn es nicht der beste Kuss meines Lebens war, muss ich ihr in Gedanken zustimmen: Wow.
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