15| Durch Dick und Dünn

Der warme Geruch von Würstchen, Kohl und Kartoffelbrei mischte sich mit dem Duft von Kürbissaft, als Neville die Große Halle betrat. Sein Magen gab ein Geräusch von sich, dass einen Hippogreif zum Angriff provoziert hätte.

Merlin sei Dank stand das Essen schon auf den Tischen, so dass er sich gleich einige Meter weiter auf eine Bank fallen ließ und sich tonnenweise Fleisch und Kartoffelbrei auf den Teller lud. Um ihn herum saßen viele Gryffindors, die schweigend ihr Mittagessen zu sich nahmen.

Doch auch wenn kaum einer redete, herrschte ein lauter Schwall von Geräuschen wie Geschirrklappern, Schmatzen oder Schritten im Saal. Auch heute war die Hallendecke nichts weiter als ein grauer, bewölkter Himmel - doch es störte Neville kein bisschen. Denn das Wetter passte zu seiner Stimmung.

Während er aß und dabei hin und wieder etwas Brei auf seinen Umhang fallen ließ, versuchte er, das Geschehene zu verarbeiten. In seiner letzten Doppelstunde Astronomie hatte er dazu keine Gelegenheit gehabt.

Neville schaufelte das Essen in sich hinein, doch je länger er drüber nachdachte, desto mehr verging ihm der Appetit. Anstatt weiter aus Frust Nahrung in sich zu stopfen, schob er nun angewidert den Teller von sich weg. Ihm war übel geworden.

Doch als er seinen Kopf in die Armbeuge legen wollte, um weit weg von der Welt das Gesicht zu verziehen, spürte er plötzlich einen spitzen Finger, der ihn an der Schulter berührte. Neville brummte zur Antwort und nahm dann wahr, wie sich zwei Menschen rechts und links von ihm setzten. Er ahnte bereits, um wen es sich handelte.

„Ist alles in Ordnung, Neville?", wollte Luna wissen. In ihrer Stimme klang leichte Sorge, die er sonst nicht von ihr gewohnt war. Mit einem Seufzen richtete er sich auf und sah beide nacheinander an.

„Nein, nichts ist in Ordnung. Absolut gar nichts", sagte er und biss sich auf die Lippe.
„Was ist passiert?", fragte Ginny.
Neville lachte auf. „Verdammt, wo soll ich anfangen? Bei dem Cruciatusfluch heute morgen oder lieber Verteidigung vorhin bei dem Carrow?"

Die beiden Mädchen guckten irritiert, vermutlich wegen seines harschen Tonfalls. Sofort spürte Neville sein schlechtes Gewissen aufkommen - erschöpft oder nicht, dass hatten sie nicht verdient.
„Tut mir leid, Leute. Heute war einfach ein wirklich beschissener Tag"

Während Ginny nachdenklich auf ihrer Unterlippe rumkaute, zeigte Luna sofort Mitgefühl. Etwas plump legte sie die Hand auf seine Schulter und Neville sah sie gespannt an.
„Du kannst mit uns drüber reden", sagte sie mit leiser Stimme. „Was auch immer es sein mag, ich stehe zu dir. Und Ginny sicher auch"

Die Gryffindor nickte kräftig. „Wir sind ein Team, verstehst du?", sagte sie.
Plötzlich spürte Neville eine Wärme in sich aufkommen. Bei diesen Worten würde er den beiden am liebsten in den Arm fallen, doch das ließ ihre Sitzposition nicht zu. Außerdem empfand er es als etwas unangenehm, mitten in der Großen Halle Zuneigung zu zeigen.
Gleichzeitig waren seine Sorgen immer noch nicht beseitigt.

„Danke. Echt, ihr seid - die besten Freunde, die ich je hatte"
Ein seltenes Lächeln erschien auf Ginnys Lippen, während Lunas Augen groß wurden. Neville spürte eine Hitze auf seinen Wangen und vermutete, wieder rot zu sein. Bald könnte er dem Wappen Gryffindors Konkurrenz machen.

„Magst du jetzt erzählen, was passiert ist?", fragte Ginny, die ihre Neugier nur schwer zügeln konnte. Doch Neville nahm es ihr nicht übel. In knappen Sätzen erzählte er von diesen Morgen, wie er mit Trevor losgegangen war, wie Pansy Parkinson und Gregory Goyle ihn angegriffen hatten und Trevor verwundeten, bis zu dem Moment, wo Hagrid ihm half. Bei Letzterem senkte er seine Stimme ein wenig, um die Geschichte vor neugierigen Ohren zu bewahren.

Währenddessen wurden die Mädchen immer schweigsamer. Selbst Neville fiel auf, dass er sie mit diesen Thema beschäftigte, so dass er überlegte, ihnen die zweite Geschichte zu ersparen.
„Wisst ihr... Mir geht es jetzt schon besser. Der Schmerz ist vorbei, nur noch dieses Gefühl - der Drang, etwas zu tun - ist da", sagte er, um die beiden abzulenken. Luna schien sofort darauf anzuspringen, nur Ginny runzelte die Stirn.

„War da nicht noch etwas mit dem Carrow, was du erzählen wolltest?", fragte sie nach. Neville legte den Kopf schief, aber Ginnys Miene blieb hart. So stieß er ein Seufzen aus, bevor er endlich anfing zu erzählen.

„Heute Morgen begann unsere Lektion über den Imperius-Fluch. Ausgerechnet Lavender und ich wurden für eine Demonstration ausgewählt, so dass wir-"
„Wurdest du mit Imperio belegt?", rief Luna erschrocken dazwischen, und Neville schüttelte den Kopf.
„Nein. Ich wünschte, es wäre so gekommen"

Er machte eine kurze Pause, doch niemand sagte etwas.
„Er wollte, dass ich Lavender verfluche. Und ich habe mich geweigert"
Die Große Halle mochte von Geräuschen erfüllt sein wie sie wollte, doch zwischen den drei Freunden herrschte Stille. Erst nach einem guten Augenblick traute sich Ginny, etwas zu fragen.

„Was ist dann passiert?"
Ihre Stimme war behutsam wie eine streichelnde Hand, doch das beklemmende Gefühl in Neville Magen wollte nicht loslassen.
„Er hat Lavender für meinen Ungehorsam bestraft. Sie selbst verflucht und ein Machtspielchen gespielt, wie nur ein Todesser es kann", erzählte er bitter.
„Hat er ihr etwas angetan?", fragte Ginny.

„Bis auf den Fluch meinst du? Nein. Immerhin ist sie ein Reinblut"
Er lachte auf. „Keine Ahnung, was in ihn gefahren war. Normalerweise hätte ich eine Strafe bekommen. Ihr versteht, einen Schlag oder noch eine Woche Nachsitzen..."
Neville seufzte und brach ab. Er wusste nicht, was er noch sagen sollte, die Ratlosigkeit war das einzige, was ihm noch blieb.
So kam es überraschend, dass ausgerechnet Luna eine Antwort parat hatte.

„Es ist offensichtlich, was er will. Indem er Leute in deinem Umfeld verletzt, möchte er nur dir schaden", erklärte sie mit einer Nüchternheit, die Neville beinahe so erschreckte wie die Tatsache, die sie ihm offenbarte. Ohne lange nachzudenken wusste er, dass sie recht hatte. Schweigen überkam ihn. Hieße das etwa, dass er verantwortlich für den Schmerz seiner Freunde war?

Sofort fühlte er Scham in sich aufsteigen. Hätte er Lavender doch einfach selbst verflucht, so hätte sie nie unter der Kontrolle des Todessers gestanden. Bei Merlin, vielleicht hätte er der Situation auch einfach entfliehen können, indem er sie gleich um Ruhe gebeten hätte! Und nun wusste Carrow auch noch, wie er Neville Schaden konnte!

Was war er doch für eine Niete...

Mochte seine Übelkeit sich einen Moment gelegt haben, so stieg sie nun mit doppelter Kraft wieder in Neville auf. Alleine der Anblick des dampfenden Essens verknotete seinen Magen, nicht mal einen Schluck Butterbier bekäme er jetzt herunter.

„Neville, geht's dir gut? Du bist fürchterlich blass", sagte Ginny und legte ihm die Hand auf die Schulter. Luna nahm ihre runter und musterte ihn dafür besorgt.
„Wenn dir irgendwelche türkisfarbenen oder gelbe Kringel ins Blickfeld kommen, musst du mir sofort Bescheid sagen", sagte sie. „Ich habe da so einen Verdacht, dass..."
„Ich denke nicht, dass irgendein Geisterwurm in meinem Kopf ist", unterbrach Neville sie und presste die Lippen aufeinander.

Luna sah ihn irritiert an. „Deswegen musst du ja auch Bescheid sagen. Wenn sie einmal Kontrolle über dich haben, gibt es kein Zurück mehr, zumindest nicht ohne einen bestimmten Trank! Und ich weiß nicht, ob Dad es schaffen würde, den hier nach Hogwarts zu bekommen"

Neville blinzelte überrascht und wusste nicht recht, was er sagen sollte. Und obwohl er Ginny den Rücken zugedreht hatte, konnte er ihr Schmunzeln praktisch spüren. Er brauchte einen Moment, um wieder Worte zu finden.

„Gut, dann - gebe ich dir Bescheid. Danke für die Warnung"
Luna nickte, als ihre Augen plötzlich aufleuchteten. „Wisst ihr was, ich glaube, ich schreibe ihm gleich einen Brief! Es ist ein ganz schönes Risiko, dass wir hier ohne Notfall-Medizin auskommen müssen"

Neville hatte gerade erst ihre Worte vernommen, da war sie auch schon aufgesprungen. Lunas blonden Haare wehten wie Flügel hinter ihr her, als sie, ohne einen Bissen zu sich genommen zu haben, aus der Großen Halle lief.

„Sollten wir nicht lieber hinterher?", fragte er zögernd. „Ist vielleicht keine gute Idee, alleine im Schloss rumzulaufen"
Er drehte sich zu Ginny um und erschrak, als er ihr Gesicht dicht vor seinem sah. „Mach dir keine Sorgen", sagte Ginny, „Sie hat ihre Galleone. Ich denke eher, wir sollten reden"
Nun war Neville verwirrt. „Wieso denn?"

Ginny fuhr sich mit der Hand durchs feuerrote Haar und seufzte. „Es ist nicht deine Schuld, dass Lavender verflucht wurde. Es ist alleine Carrow gewesen"
Neville verzog sein Gesicht gequält. „Ich weiß. Dennoch hätte ich es verhindern können. Wenn ich sie verflucht hätte, wäre es niemals so schlimm gekommen, vielleicht hätte sie sich sogar wehren können"

Er biss sich auf die Unterlippe.
„U-Und heute morgen da- ich weiß nicht. Ich weiß nicht, wie lange wir das noch aushalten können"

Sobald er es sich eingestanden hatte, war es, als brächte alles in ihm zusammen. Hinter seiner Wut kam unbändige Verzweiflung zum Vorschein, und Angst, ganz besonders Angst. Neville fürchtete sich, er hatte so viel zu verlieren.
Doch auch so viel zum Kämpfen.
Er legte seinen Kopf auf seine Hand und sah Ginny an, die ihn betrachtete.

„Denkst du denn, du bist der einzige, der Angst hat?", flüsterte sie zurück. Neville schüttelte, soweit es ging, den Kopf.
„Nein. Es ist nur - so viel auf einmal. Ich bin erst seit gut drei Monaten volljährig und schon fühlt es sich so an, als würde die ganze Welt sich auf mich stürzen", sagte er kleinlaut.
„Wir schaffen das, in Ordnung? Wir haben keine andere Wahl", versuchte Ginny ihn zu überzeugen. „Du bist schon so viel stärker geworden. Und jetzt hast du mich, und vor allem Luna!"

Neville schwieg. Ihre Wörter prasselten auf ihn ein und es dauerte einen Moment, bis er sie vernehmen konnte. Sie hatte vermutlich recht, er war stärker geworden. Er brauchte nur noch wenige Stunden um Zauber zu erlernen, anstatt Wochen. Und wusste sich zu behaupten. Dennoch...

„Das wäre das nächste Problem. Ich - weiß nicht, ob das eine gute Idee ist, eine Beziehung aufzubauen. Jetzt, wo die Todesser mich auf dem Kieker..." „Sag ja kein Wort mehr! Stopp!"
Ginny schrie beinahe auf, so dass Neville erschrak. Einige Slytherins, die an ihrem Tisch vorbeigegangen waren, zeigten sich ebenfalls erschrocken, bevor sie weiter trotteten. Doch Ginny war das herzlich egal.

„Wag es ja nicht, ein Feigling zu sein. Du hilfst niemanden, indem du dich von ihr fernhältst", zischte sie. Neville sah sie verdutzt an. Und dann verstand er auf einmal. Es war als leuchtete Lumos in ihm auf.
Der Grund, weshalb Ginny ihn und Luna so unterstützte. Weshalb sie sich gleichzeitig zurückgezogen hatte. Und zuletzt, weshalb sie ihm nun verbieten wollte, einen Schritt zurückzugehen.

Der Grund war Harry.

„Es ist, weil er Abstand wollte. Nicht wahr? Weil Harry dich um deinetwillen selbst verlassen hat, um dich zu beschützen", sagte Neville. Ginnys harte Miene bekam Risse, in ihren Augen glänzte plötzlicher Schmerz. Er selbst fühlte Trauer bei ihrem Anblick.
„Bei Merlin - Ginny, es tut mir so leid"

Dass sie sich nicht rührte machte nichts, denn es war Neville, der sich nach vorne lehnte und sie in den Arm nahm. Nun machte ihm diese Geste in der Öffentlichkeit auch nichts mehr aus. Ihm wurde gleich viel wärmer und es tat gut, diese seltene Nähe zu spüren. Ginny erwiderte die Umarmung kurz, bevor sie ihn auf die Schulter klopfte und er losließ.
„Weißt du, du kannst dich glücklich schätzen. In solchen Zeiten Liebe zu finden kann das größte Glück sein", sagte sie leise. Der Gryffindor stimmte ihr zu.

„Ich bin mir dennoch etwas unsicher", gestand er.
„Wieso schmunzelst du dann schon wieder, nur wenn du an sie denkst?"
„Tu ich nicht", meinte Neville und musste dann bei Ginnys zweideutigem Blick lachen.
„Ist ja gut. Ich hab an die Weihnachtsferien gedacht, dass wir uns da treffen, weißt du. Wenig Schule, da könnten wir..." - „Warum nicht heute Abend?", unterbrach Ginny ihn. Er legte den Kopf schief.

„Frag sie doch einfach mal. Esst gemeinsam hier und dann, keine Ahnung, unternimmt etwas mit ihr", schlug sie vor. Es überraschte Neville, wie schnell sie ihre schlechte Stimmung beiseite schaffen konnte. Er beschloss, mitzuspielen.
„Ja, in einem bewachten Schloss sollte das kein Problem sein"
Ginny zwinkerte. „Ich bin mir sicher, du findest einen Weg"

So kam auch Zuversicht in Neville auf.

Hey, ich hoffe, das Kapitel hat euch gefallen :)
Ich würde mich sehr über Feedback freuen.
Bis zum nächsten Mal ^•^

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