14| Flüche ohne Ende
Die Anspannung zog sich wie Blei durch Nevilles Körper, als er einen Korridor nach dem anderen passierte. Es war ruhig auf den Gängen, nur seine zügigen Schritte und seine keuchenden Atemzüge halten an den Wänden zurück. Neville biss sich so fest auf die Unterlippe, dass er irgendwann meinte, Blut zu schmecken.
Dabei schickte er ein stilles Gebet an alle Geister Hogwarts ab - auf das er jetzt bloß nicht aufgehalten werden würde.
Während er den letzten Korridor passierte, der zu dem Treppenhaus führte, kamen in ihm die schlimmsten Vorstellungen auf. In der ersten Stunde hatte er das schlimmste Fach überhaupt - Verteidigung gegen die dunklen Künste, ausgerechnet bei Amycus Carrow. Und genau an diesem Morgen würde er zu spät dran sein.
Nachdem er Trevor zur Vorsorge bei Hagrid zurückgelassen hatte, war er zum Schloss gesprintet, hatte seine Tasche mitsamt Aufsatz und Feder aufgeworfen und sich endlich auf den Weg zum Klassenraum gemacht. Dass sein Herzschlag inzwischen mit dem eines Suchers beim Fangen des Schnatzes mithalten könnte, war Nebensache; auch dass sein Kopf bereits rot wie ein Knallrümpfiger Kröter war, störte ihn nicht.
In wenigen Sekunden war da, dann hätte er ganz andere Sorgen.
Nachdem er im richtigen Stockwerk angekommen war, passierte Neville einen langen Korridor. Obwohl keine der Fackeln brannte, war er leuchtend hell, so dass man bei genauem Blick jedes Detail in den zahlreichen Gemälden entdecken konnte, wenn man nur Hinschauen würde. Doch heute blieb ihm nicht einmal Zeit dazu, seine Lieblingshexen zu grüßen.
Mit rasselndem Atem kam Neville vor einer dunklen Holztür zu stehen. Während ein Teil von ihm sich sträubte, anzuklopfen, musste der andere die Tat vollbringen. Wie üblich verschloss Amycus, genau wie alle anderen Lehrer, die Tür während des Unterrichts. Das war nur eine der neuen Regeln, die von Snape zum ‚Schutze des Lehrlings und des Lehrkörpers' aufgestellt wurden.
In Wirklichkeit diente sie dazu, zu spät kommende Schüler auszusperren, um diese mit Nachsitzen zu bestrafen. Dennoch wurden meistens die Türen geöffnet, so dass eine mildere Strafe ausfiel. Und darauf hoffte Neville.
Er klopfte, erst etwas zögerlich, dann mit voller Kraft, so dass es einen tiefen Ton gab. Schließlich senkte Neville die Hand und ballte sie wieder zu einer Faust zusammen. Während sein Puls zuvor wegen des Laufens raste, so hüpfte sein Herz jetzt vor Angst.
Würde er wieder bestraft werden?
Plötzlich klickte das Türschloss und die Tür schwang nach vorne auf. Neville rettete sich mit einen Schritt zur Seite vor einer gebrochenen Nase.
Dann hielt er still.
Amycus Carrow lähmte ihn praktisch mit seinem stechenden Blick, so dass Neville kein Wort herausbekam. Der Todesser nahm beinahe den ganzen Türrahmen ein, so dass er nur einen kurzen Blick auf den gefüllten Klassenraum bekam. Drinnen war es totenstill, aber Amycus war alles andere als sprachlos.
„Longbottom... Was für ein Vergnügen" Amycusˋ Stimme hallte an den Wänden des Ganges wieder. „Sie sind zu spät", blaffte er dann. Neville zuckte zusammen.
„Ich- Meine Kr- Ich meine, ähm , ich habe verschlafen", sagte er. Gleichzeitig könnte er sich selber ohrfeigen - beinahe hätte er sich verplappert! Denn es war ihm und auch Hagrid wichtig, dass die Todesser nichts von Trevors Versorgung erfuhren.
„Eine lange Nacht, hab ich recht?", fragte Amycus mit einem spottenden Lächeln. Neville nickte angespannt. Er konnte nur hoffen, dass mit der Nacht das Nachsitzen gemeint war.
„Ich denke, Sie wissen, was diese Verspätung heißt: Nachsitzen", sagte der Carrow.
„Ja, Sir"
Amycus ließ seinen Blick abwertend von oben nach unten gleiten, bis er Neville mit einem Nicken in den Klassenraum bat.
„Freitagabend, das heißt übermorgen, kommen Sie in mein Büro. Dasselbe wie letztes Mal", informierte ihn der Todesser und drehte ihm den Rücken zu. Sein dunkler Umhang wehte wie ein Vorhang hinter ihm her, als er sich an die Tafel begab.
Neville zögerte ebenfalls nicht länger und trat ein. Sofort viel sein Blick auf den Rest der Klasse, der sich aus Gryffindors und Slytherins zusammensetzte.
Selbst wenn die Decke des Zimmers hoch und die Fenster geöffnet waren, fühlte sich der Raum jedoch düster und stickig an.
Er ignorierte die stechenden Blicke von Crabbe und Goyle, die in der ersten Reihe saßen,m und setzte sich rasch in die vorletzte Reihe neben Lavender Brown. Die Hexe war zuvor noch über ihr Pergament gebeugt, als Neville sich setzte, legte sie ihren Federkiel aber zur Seite.
„Hab gehört, da lief gestern Abend noch was", murmelte sie. Verwundert sah Neville sie an - meinte sie etwa das mit ihm und Luna?! Sein Herzschlag verdoppelte sich plötzlich, er befürchtete das Schlimmste. Lavender gluckste.
„Peeves hat davon ein ganzes Lied beim Frühstück gesungen, hast du das etwa nicht gehört? Übrigens, wieso bist du eigentlich zu spät? Klar, ist eine Stunde, die wir alle verpassen wollen, aber heute sind nicht einmal Bestrafungen..." - „Miss Brown! Haben Sie uns etwas mitzuteilen?", unterbrach Amycus sie mit strengem Blick. Die Hexe schüttelte hektisch den Kopf, so dass ihren Locken umherflogen. Währenddessen wagte Neville kaum zu atmen.
„Dann halten Sie Ihren verdammten Mund, oder Sie sind als nächstes dran"
Nun wagte er auch einen Blick nach vorne. Der Todesser stand neben einer gigantischen schwarzen Tafel, die seit diesem Schuljahr den Raum zierte. Er hielt einen Stab in der Hand und deuteten damit nun auf die Schüler. Auf irgendeine Weise wirkte er dennoch klein - das musste an dem leeren Raum liegen.
Snapes Bilder von letztem Jahr, die Verfluchte oder Opfer von Flüchen zeigten, waren als einzige hier geblieben, der Rest der magischen Artefakten und Gegenstände war weggeräumt worden. Stattdessen befanden sich Zeichnungen des Dunklen Mals und Plakate dunkle Zauberformeln und -Flüchen an der Wand. Es war wie eine Manifestation der Dunklen Künste selbst, beinahe wie Amycus' Büro selbst.
Die Zauberlehrlinge schienen das einzig lebendige in diesem Raum zu sein, doch ihre betrübte Stimmung zerstörte auch diese Illusion.
Doch Nevilles Fokus lag sofort auf der Überschrift, die das Tafelbild zierte: Der Impreriusfluch.
Lavender wurde blass und nickte eilig.
„Dasselbe gilt für Sie, Longbottom", sagte Amycus nun mit Blick auf Neville. Er versuchte jedoch, sich nichts anmerken zu lassen - Angst würde dem Todesser nichts weiteres als eine Schwäche offenbaren.
So nickte er und beugte sich mitsamt Feder übers Pergament, um mitzuschreiben. Doch als Amycus sich dem Unterricht zuwandte, fing Lavender wieder an.
„Sag bitte, was ist da dran? Ich meine, irgendwie hab ich es immer geahnt, aber..." - „Verdammt, Lavender, lass uns das lieber nach der Stunde klären!", bat Neville, dem der Schweiß langsam den Nacken runterlief. Er machte sich gleichzeitig höllische Sorgen.
Was auch immer sie ihm zu sagen hatte, sie sollte es nicht in Anwesenheit eines Todessers tun. Nicht auszudenken, ob er und Luna sich noch mehr in Gefahr brachten, wenn die falsche Seite davon erfuhr. Vorausgesetzt, sie wussten es nicht bereits.
Lavender zog eine Schnute, wandte sich dann aber von ihm ab. Gerade als Neville Merlin dafür danken wollte, fand Amycus' Blick plötzlich wieder seinen.
„Habe ich nicht gerade etwas gesagt?" Der Todesser wirkte bedrohlich, als er langsam in den hinteren Teil des Raumes schritt. Nur noch wenige Meter trennten ihn von Nevilles und Lavenders Tisch. Ihnen blieb keine Zeit für eine Reaktion, Amycus machte sein Versprechen war.
„Aufstehen und an die Tafel. Sie beide, bitte"
Neville spürte Lavenders Blick auf sich, als wäre sie unsicher, was sie machen sollte. Er jedoch konnte sich nicht rühren, denn er begriff Amycus' Drohung erst jetzt.
‚Sonst sind Sie als Nächstes dran' - das musste auf den Unterricht bezogen gewesen sein.
Eine einzige Frage beherrschte ihn nun und sorgte dafür, dass seine Sicht kurz verschwamm und er sich erschöpft wie nach einer schlaflosen Nacht fühlte.
Was, wenn er zum zweiten Mal diesen Tages einen unverzeihlichen Fluch zu spüren bekam?
Das Knarzen der Bodendielen riss in aus seiner Starre, Lavender war aufgestanden und musterte ihn etwas besorgt. Neville ballte seine Hände zu Fäusten und stand auf. Der Weg vorbei an den Tischen kam im doppelt so lang vor wie sonst, die beklemmenden Blicke seiner Klassenkameraden schien seinen Gang noch zu verlangsamen.
Dennoch war er viel zu schnell an seinem Ziel angekommen.
Er fühlte sich klein in diesem Raum, allen anwesenden wie ein Tier ausgeliefert. Sein Blick war auf die gegenüberliegende Wand gerichtet. Neville stand seitlich zur Klasse, Amycus und Lavender auf der gegenüberliegenden Seite. Das Fenster war halb geöffnet, so dass er durch die Spalten der Bretter Sonnenlicht erblickte. Dieselbe lachende Sonne, die ihn wärmte, als er Todesqualen litt.
Schließlich begann Amycus mit seiner Lektion.
„Der Imperiusfluch ist - meiner Meinung nach - ein kniffliger Fluch. Ich weiß, dass Sie in der vierten Klasse etwas zu seiner Abwehr gelernt haben. Aber darum soll es heute nicht gehen"
Er machte eine Pause, doch die dramatische Wirkung blieb bei Neville aus. In seinem Kopf herrschten gleichzeitig Leere und Chaos.
„Heute beschäftigen wir uns mit der Anwendung des Fluches. Es ist Ihnen verboten, sich zu wehren. Longbottom, Sie beginnen"
Neville blickte verdutzt auf - er sollte Lavender verfluchen? Daran hatte er nicht einmal gedacht! Sein Blick fiel auf die Hexe, die ihn mit großen Augen ansah - sie hatte wahrlich Angst.
Doch was sollte er tun - einer Strafe entgehen und versuchen, Lavender zu verfluchen oder stattdessen... Neville blieb keine Zeit, den Gedanken zu Ende zu bringen - er hatte sich entschieden. Er würde handeln.
„Das werde ich nicht tun, Sir"
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top