Pimpernel und Adalgrim
Pim holte tief Luft und seufzte zufrieden. Es fühlte sich unbeschreiblich gut an, endlich wieder das in den Lungen zu haben, was dorthin gehörte: Waldluft. Getränkt von dem Duft feuchten Mooses und erfüllt von den Geräuschen knarzender Rinde, schwer vom markanten Geruch der Wildschweine, die nicht allzu weit entfernt zu sein schienen. Sie machte sich darüber keine Sorgen, die Tiere waren in diesem Teil des Waldes eher scheu, außerdem hatten sie zur Zeit keine Junge und deshalb auch nichts zu verteidigen - denn es war Herbst, auch wenn das hier nicht sonderlich auffiel. Ihr Weg war komplett vom Moos bewachsen, ab und zu betüpfelt mit der roten Kappe eines Fliegenpilzes, die Bäume waren immer noch grün, da es sich um Nadelhölzer handelte. Ihre kahlen, dunklen Stämme streckten sich dem verhangegen Himmel entgegen, empor gesprossen aus dem brusthohen Nebel, der hier den ganzen Tag über hing.
Notker hielt auf einmal inne, den Kopf hoch erhoben; sein Ohren drehten sich in verschiedene Richtungen, bei dem Versuch, auszumachen, ob er etwas hören konnte. Pim klopfte dem großen Wallach beruhigend den Hals. Er konnte doch nicht die Wildschweine erst jetzt entdeckt haben? Und selbst wenn, die hatten ihn doch noch nie so sehr gestört - denn gerade atmete er schwer und gab eine hervorragende Impersonation eines jungen Hengstes. Misstrauisch legte Pim ihre rechte Hand auf den Griff ihres Schwertes und trieb ihr Pferd mit den Schenkeln zum Weitergehen an. Seine Schritte waren federnd; er stakste dahin, wie ein Reh, das einen Wolf gerochen hatte. Doch gerade als Pim seine Unruhe als einen grundlosen Spuk abtun wollte, so wie Tiere sich nunmal ab und zu vor reiner Luft erschrecken, machte Notker einen Satz zur Seite und tänzelte rückwärts. Aus dem Dickicht links von ihnen war ein Reiter herausgebrochen, wäre beinahe direkt in sie hinein gerannt. Der schmale Apfelschimmel war bis zur Brust mit dunklem Matsch befleckt, sein Maul schäumte, er atmete schwer. Der Reiter sah nicht viel besser aus, er war von Tannennadeln und kleinen Ästen bedeckt, die er wohl im Galopp mitgerissen hatte. Der Junge schaute Pim entgeistert an. Sie schaute zurück.
Nach einigen Augenblicken ohne Worte, in denen nur der Atem des weißen Pferdes zu hören gewesen war, brach die Stille. "Kennst du dich hier aus?", fragte der Junge, der etwa in ihrem Alter war, mit gehetzter Stimme. "Äh ... Ja. Ja, natürlich, ich kenne mich hier bestens aus", erwiderte sie verwirrt und blinzelte den Fremden überrascht an. "Perfekt. Bring mich bitte so weit weg von der nächsten Stadt wie möglich, ja?"
Nach etwa einer halben Stunde, in der sie einfach nur schweigend nebeneinander her geritten waren, entschloss sich Pim, dass sie so nicht weitermachen konnten - diese Begegnung war das seltsamste, was ihr seit einiger Zeit passiert war. Und das wollte etwas heißen, denn sie hatte ganz und gar keine langweiliges Leben. Also sammelte sie sich etwas und stellte sich dann mit einer, zu ihrer Überraschung, festen Stimme vor: "Mein Name lautet Pimpernel Tuk. Darf ich deinen erfahren?" Ihr Gegenüber schien erneut erstaunt darüber zu sein, dass sie da war. Er brauchte einen Moment, bevor er antwortete. "Ich bin Adalgrim." "Adalgrim ... ?", fragte sie und fischte nach einem Nachnamen, doch er blieb still. Sie seufzte. "Nun gut, Adalgrim, wovor bist du auf der Flucht?", bei diesen Worten schaute er auf und blickte sie mit misstrauisch zusammen gekniffenen Augen an. "Ach komm schon, es ist nicht schwer zu erknenn, dass du vor etwas auf der Flucht bist! Es reitet nicht jeden Tag ein atemloser Fremder in mich hinein", sie zwinkerte, in dem Versuch, irgendetwas aus ihm herauszukitzeln, oder zumindest eine Unterhaltung beginnen zu können. "Das ist unwichtig." Wieder nichts.
Nach einer weiteren Ewigkeit in der nichts als der ferne Ruf eines Uhus vernhemen zu war, gelangte das bemerkenswerte Gespann an eine Weggabelung. Hier musste Pim eine Entscheidung treffen: Sie konnte Adalgrim nun entweder wirklich ins Herzen des Waldes bringen um ihn dann dort zurückzulassen, wie er es gewünscht hatte, oder sie konnte ihn zu ihrer kleinen Hütte bringen und vielleicht eine gute Geschichte aus ihm herausholen. Sie entschied sich für letzteres. "Hier entlang!", verkündete sie und betrat einen Pfad, der zunehmend schmaler wurde, bis sie schließlich hintereinander reiten mussten, da er nicht genug Platz für zwei Pferde nebeneinander bot. "Also, du kommst wohl aus Thirn Torum, hm? Und ja, ich kann deinen verwirrten Blick praktisch sehen, ohne mich umdrehen zu müssen. Es ist wirklich nicht schwer zu erraten, weißt du", sie hatte darauf keine Antwort erwartet, und doch erhielt sie eine. "Woran erkennst du das?" Überrauscht zog Pim eine Augenbraue hoch. "Du trägst einen steifen Mantel in waldgrün und weiß - also entweder Militär oder ein hoher Rang am Königshofe. Vadars Hof, diesen Farben nach zu urteilen. Deine Schulterkennzeichnung hättest du aber gar nicht abreißen müssen; anderen hätte die zwar sicher deinen exakten Stand verraten, ich habe aber keine Ahnung von so etwas", sie zählte das alles nacheinander auf, klang dabei sehr überzeugt - und lag auch richtig. "Gut zu hören, dass du auch nicht von allem eine Ahnung hast." Pim lächelte erfreut, als sie das hörte. Er taute also doch langsam auf. "Wenn du aus der Stadt kommst, kannst mir doch sicherlich auch einige Neuigkeiten verraten, oder? Nur die wenigsten Briefraben schaffen es bis zu meiner Hütte." Das stimmte. Außerdem war es teuer, sie soweit fliegen zu lassen, weshalb sie so oder so nur die wichtigsten Informationen erhielt. Die letzte hatte einen anbahnenden Krieg angekündigt und ihr damit mächtig den Nachmittag verdorben. Doch eigentlich musste sie das nicht groß kümmern, sie unterlag keiner Dienstpflicht und konnte somit nicht eingezogen werden - außerdem lebte sie soweit von Thirn Torum entfernt, dass sie von der Schlacht nicht betroffen wäre. Hoffte sie zumindest. "Weißt du etwas vom Auserwählten? Er ist doch der derzeitige Prinz, nicht wahr?", hakte sie nach, als sie auf ihre letzte Frage keine Antwort erhielt. "Nein. Keine Ahnung", Adalgrim klang nun erneut kühler. Mist, hatte sie ihn jetzt wieder verschreckt? Vielleicht sollte sie einfach noch etwas weiter reden. Sie traf nicht allzu oft auf andere Menschen, weshalb sie diese Gelegenheit eines Austausch sehr genoss. "Seine Aufgabe ist es, den Drachenkönig zu besiegen, richtig? Wie soll er das schaffen? Unser Königreich hat keine dieser feuerspeienden Biester. Wenn die gegnerische Armee nun ein ganzes Dutzend davon besitzt, so wie es heißt, steckt dieser Kerl wohl in einigen Schwierigkeiten."
"Das tut er wohl", murmelte der Junge hinter ihr so leise, das Pim es kaum verstand. "Wie auch immer, hier sind wir!", sie machte eine ausladende Geste auf die Lichtung vor ihnen zu, die sich erst jetzt, nach der letzten Kurve, offenbart hatte. Auf ihr stand eine kleine, eher schäbig wirkende Hütte; neben dieser ein kleiner Unterstand und ein Zaun, der die Weide von vier Schafen begrenzte. "Ich dachte mir, dass du vielleicht etwas Kraft bei mir sammeln willst, bevor du dich auf deine Abenteuer begibst", sie schaute ihn erwartungsvoll an und war überrascht, als er langsam nickte und dann die Spur eines Lächelns seine Lippen umspielte. Pim fühlte sich also bestätigt und ließ Notker auf die Wiese trotten. Sie stieg herunter, band ihn an einen Querpfosten und nahm den Fellsattel von seinem Rücken. Sie wieß Adalgrim an, dasselbe mit seinem Reittier zu tun und war gerade dabei, die Raufe mit Heu zu füllen, als das raue Krähen eines Rabens sie aufschauen ließ. Der große, pechschwarze Vogel kreiste kurz über ihrem Haus, dann landete er auf dem Pfosten, an dem die Pferde angebunden waren. Erfreut band Pim die Nachricht von seinem Bein ab und wedelte mit ihr in den Luft. "Nur das wichtigste", meinte sie und Adalgrim schenkte ihr einen amüsierten Blick, bevor er sich wieder daran machte, sein Pferd zu versorgen. Langsam rollte Pimpernel das Papier aus und laß rasch, was darauf stand. Dann warf sie einen Blick auf die Skizze darunter. Dann einen auf den Jungen, der gerade die Hufe seines Pferdes auskratzte. Skizze. Adalgrim. Skizze.
Der Königssohn war aus dem Palast verschwunden und wurde dringend gesucht. Und außerdem stand er in ihrem Garten.
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