Nyra
Die junge Frau lag friedlich im großen Bett, das einen beachtlichen Teil des kleinen Zimmers ausmachte. Ihre dunkle Haut schimmerte warm im Schein der Kerzen, die sie stets brennen ließ - nicht, dass sie sich vor der Dunkelheit fürchtete; es war eher das in der Dunkelheit, dass sie fürchtete. Im Moment jedoch war es draußen erstaunlich hell; die dicke Schneeschicht spiegelte das Mondlicht geradezu und verlieh dem Wald vor ihrer Hütte einen trügerisch ruhigen Anschein. Denn auf den zweiten Blick hätte man etwas weiteres sehen können - eine Kreatur, ungefähr hüfthoch, mit vier Beinen und blassblauer, ledriger Haut, stapfte durch den Schnee.
Zielstrebig hinterließ sie ihre seltsamen Spuren, auf dem Weg zu der kleinen, verschlafen aussehenden Hütte. Aus einem Fenster drang ein orangener Schein, der auf wärmendes Feuer hindeutete; wenn es nur irgendwie möglich wäre, dort einzudringen! Neugierig sprang das Wesen auf das Fensterbrett, um hineinschauen zu können. Es sah umwerfend aus. Ein dunkler Holzboden, von grob gewebten Teppichen bedeckt, ein klobiger Schrank, Tisch mit zugehörigem Stuhl und schließlich ein sehr einladend aussehendes Bett. An den Wänden prangten Geweihe, gerocknete Pflanzen und Kräuter, Gemälde, einfache Skizzen und allerlei Objekte, die man wohl auf einem Waldboden finden würde. Doch das Bett, dieses himmlische Bett, war wahrlich das Herz des kleinen Zimmers. Und unter all den mit Federn gestopften Leinendecken, Strickwerken und Tierfellen lag ein Mensch. Sie wirkte so fein, beinahe zerbrechlich, wenn sie schlief - ganz anders als dann, wenn man sie draußen sah, im Gemüsegarten oder auf dem Weg zum Markt.
Kurz rang es mit sich. Dann kam es zu einer Entscheidung - behutsam hob es eine verhornte Tatze und tippte gegen das eiskalte Glas. Nichts geschah. Es schabte, klopfte und gab schließlich einen leisen Laut von sich. Es klang nicht wirklich wie irgendein anderes Tier im Wald, aber andererseits auch nicht fremd. Wie ein keckerndes, trillerndes und vor allem forderndes Zwitschern.
Und so erwachte Nyra. Erst war sie sich nicht so sicher, was sie geweckt hatte - doch dann fiel ihr Blick auf das ... Etwas vor ihrem Fenster. Andere hätten vielleicht geschrien oder sich zumindest erschrocken, doch Nyra kannte den Wald und die Lebewesen darin wie ihren Handrücken. Sie hatte ein solches Geschöpf zwar noch nie gesehen, aber es war auch nicht viel seltsamer als der Rest. Neugierig stieg sie aus dem Bett, setzte ihre nackten Füße auf den kalten Boden und spürte die kühle Luft, nun, da die Decken sie nicht mehr schützten. Das Wesen legte den Kopf schief und sah sie auffordernd an. Nyra betrachtete es ebenfalls; den kräftigen Schnabel, die starken Hinterbeine und die steinähnlichen Auswüchse auf beiden Seiten des Schädels. Es hatte kein Fell.
War ihm kalt? Wie konnte es diese Temperaturen überhaupt überleben? Kurzerhand entschloss sie sich dazu, es hereinzulassen. Es schien weder Klauen, Zähne oder Giftstachel zu haben und machte insgesamt einen eher drolligen Eindruck, konnte ihr also sicher nicht gefährlich werden. Nyra öffnete das Fenster und es sprang herein.
Ein wenig Schnee rieselte auf den Zimmerboden als es sich schüttelte, umsah und dann zu Nyra blickte - für einen winzigen Augenblick, bevor es aus dem Raum trottete. "He! Hier geblieben!", die junge Frau, immer noch nur im Nachthemd, folgte dem wunderlichen Gast - der gerade in die Küche lief. "Du hast Hunger, hm?", Nyra lächelte, als das Wesen an den Schränken kratzte, als wisse es, was sich dahinter verbirgt. Belustigt griff sie nach einer der Gemüseknollen aus ihrem Garten. "Was frisst du? Früchte?", ohne eine Antwort zu erwarten reichte sie ihm die Knolle.
So ging es weiter. Alle paar Nächte gab das Wesen seinen seltsamen Laut von sich und Nyra öffnete das Fenster, um es herein zulassen. Jedes mal fraß es das, was sie ihm gerade anbot und rollte sich danach vor dem Kamin zusammen, nur um dann am nächsten Morgen verschwunden zu sein. Es schien Türen und Fenster von innen auch selbst öffnen zu können.
Bis Nyra es eines Morgens aus ihrem Zimmer kam, in der Erwartung, wieder allein zu sein, und in ihrer Küche plötzlich eine junge Frau stand. Recht klein, zierlich, mit blasser Haut, hellem Haar und einer Hand voll Beeren aus Nyras Küche. "Ich wollte mich persönlich bedanken, weißt du. Ich meine, jetzt wo der Frühling wiederkommt schaffe ich es wohl allein, aber den Winter hätte ich ohne dein Zutun wohl kaum überstanden", sagte sie, aß einige Beeren und schaute ihr Gegenüber neugierig an. Ihre Stimme war hell, klar und klang seltsam vertraut, obwohl Nyra sich sicher war, die Fremde noch nie gesehen zu haben. Dann schlich sich ein wissendes Lächeln auf ihr Gesicht - sie wusste, woher sie diese Stimme kannte. "Du bist ein Wandler, nicht wahr?"
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