Kapitel 4 ~Wer ist David?~

,,Warum ist er damals weggegangen?"

Ich hatte mich mittlerweile wieder beruhigt und saß jetzt mit Ben gemeinsam am Ufersteg und ließ meine Zehen im angenehm kalten Wasser baumeln. Ich vermied es ihn anzusehen. Dann müsste ich wieder daran denken, dass er Justin noch wenige Minuten zuvor geschlagen und getreten hatte. Ich wollte aber nicht daran denken. Nicht an Justin und nicht an diese Party. Am liebsten würde ich an gar nichts denken.

,,Ich glaube niemand hat je den richtigen Grund erfahren. Nicht einmal wir, obwohl wir seine Freunde sind,... waren. Wir wissen nicht, ob er zurückkommt. Wann er zurückkommt. Selbst wenn er zurückkommt, ich glaube er ist nicht mehr der Selbe.", ich konnte fühlen, dass ihm das sehr zum Nachdenken brachte. Sein Kopf war starr nach vorne gerichtet während er mit mir sprach.

,,Habt ihr euch den verabschieden können?"

Ben schüttelte den Kopf.
,,Er ist einfach gegangen. Ich erinnere mich noch genau an diesen letzten Tag. Es war ein Mittwoch oder Donnerstag, eigentlich ungewöhnlich für eine Abreise. Ich habe noch mitbekommen, wie er während der Stunde einen Anruf bekommen hatte. Kaum fünf Minuten später kam er aufgebracht zurück, packte seine Sachen und ging ohne ein Wort zu sagen."

,,Und dann?"

Er atmete einmal tief ein und zuckte dann mit den Schultern.

,,Nichts. Wir haben ihn nie wieder gesehen. Er reagierte nicht auf unsere Anrufe. Sein Haus stand leer. Alles was mit ihm zu tun hatte, schien plötzlich zu verschwinden. Außer wir. Wir Freunde sind irgendwie geblieben. Die nächsten paar Wochen nach seinem Verschwinden waren schwer. Die Schüler starrten uns komisch an. Die Lehrer vermieden uns. Und ich hatte immer das Gefühl, sie wussten ganz genau, warum er weg ist.", er knetete seine Hände und sah zum Himmel hinauf.

,,Und was ist mit deinen Freunden? Ich meine letztens in der Schule schien es, als ob alles vergessen wurde, was ja heute nicht der Fall war."

,,Es ist ein Jahr her, Ana. Natürlich versucht man zu vergessen. Manche kamen nicht darüber hinweg und seilten sich von der Gruppe ab. Andere suchten sich neue Freunde, manche blieben komplett alleine. Schon wenige Wochen später waren wir nicht mehr wie früher. Auch ich habe andere Freunde gefunden."

,,Wie viele wart ihr den eigentlich? Als David noch hier war."

,,Sechs. Wie du dir denken kannst, waren die drei Jungs, darunter Justin, auch in unserer Gruppe. Natürlich hatten wir viele Mitläufer, die alle versucht haben, irgendwie dazuzugehören. Aber im Grunde waren es nur wir sechs.", ich konnte den Nachdruck in seiner Stimme deutlich hören und konnte mich dadurch genau in seine Lage versetzten.

Ich würde genauso fühlen, wenn ich meine Freundin oder ein Familienmitglied verlieren würde.
Zum erstan Mal hob ich meinen Kopf und sah ihn an. Seine Geschichte berührte mich zwar unheimlich und machte micht traurig. Aber nie könnte ich die richtigen Worte finden, die ihn trösten könnten.

,,Das tut mir echt leid...", brachte ich deshalb nur heraus, was Ben schmunzeln ließ.

,,Keine Sorge. Ich glaube, ich habe das alles ganz gut verkraften können. Es war eine schöne Zeit, als er noch hier war. Aber ich kann nichts daran ändern, dass er weg ist."

Es war bereits dunkel, was Ben veranlasste, dass er aufstand. Auch ich zog meine Schuhe wieder an, wollte aber noch nicht aufstehen.
Eine kleine Lampe zu meiner linken sorgte für gerade genügend Licht, um Ben's Gesicht zu erkennen.

,,Erzählst du mir den Rest der Geschichte?", fragte ich ihn nachdenklich.

,,Ein ander Mal.", antwortete er und streckte mir im Gegenzug seine Hand entgegen. Dankend nahm ich sie und er half mir auf die Beine.

,,Wohin gehen wir?", fragte ich, als er einen anderen Weg einschlug als vorhin.

,,Nachhause. Du kannst heute gerne bei mir schlafen", er sah mich von der Seite an.

Von der Weite sah ich Julias Auto auf der Auffahrt des Hauses stehen, also musste sie noch auf der Party sein. Dort würde sie vermutlich auch noch länger bleiben. Ich brauche mir also keine Sorgen um sie machen.

Nachdenklich sah ich Ben ins Gesicht, nickte aber dann, was ihn dazu brachte, dass er mich bei der Hand nahm.

Den restlichen Weg liefen wir zu Fuß bis zu seinem Haus, welches nur wenige Straßen weit entfernt lag.
Es war ein großes Haus in weiß. Eine gemütliche Terrasse zierte die Vorderseite.
Ben holte einen Schlüssel aus seiner Hosentasche und sperrte damit die Haustür auf.
Ich staunte nicht schlecht, als ich vor ihm das Haus betreten durfte. Auch die Innenwände waren in weiß gehalten, ebenso die meisten Möbeln, welche die Räume angenehm wirken ließen. Ben nahm mir meine Jacke ab und ich stelle meine Schuhe neben seine auf den Boden. Danach folgte ich ihm in den Wohnbereich, wo er sofort in der Küche verschwand.

Ich steckte meine Hände in die hinteren Hosentaschen, so wie ich es immer machte, wenn ich eine Neue Umgebung auskundschaftete.
Als erstes entdeckte ich die vielen Fotos, die an den Wänden und auf der Kommode im Wohnzimmer stand.

,,Willst du etwas essen? Wir haben leckeres Eis zu Hause.", strahlte er über beide Ohren.
Ich lachte. ,,Wow, super gesunde Ernährung!", ich streckte ihm beide Daumen entgegen. ,,Aber ich hätte trotzdem gerne Eins.", fügte ich noch schnell hinzu, als ich Bens enttäuschten Blick bemerkte. Kaum hatte ich das ausgesprochen, steckte er den Kopf in den Gefrierschrank, um das Eis zu suchen. Die große Uhr über einer der vielen Türen zeigte mir, dass es bereits nach Mitternacht war.

Ich nutzte die Gelegenheit, in der Ben in der Küche beschäftigt war, und sah mir seine Fotos genauer an. Ich weiß, eigentlich hatte man kein Recht in fremden Sachen zu schnüffeln, aber ich war eben interessiert.
Auf den Meisten war er mit seiner Familie zu sehen. Andere zeigten ihn mit Freunden oder in der Schule. Eines fand ich besonders niedlich. Ben hatte eine Schultasche auf dem Rücken und eine riesen Schultüte in den Händen. Er strahlte über das ganze Gesicht.

,,Hier.", Ben hielt mir eine Schale Eis hin und drückte mir einen Löffel in die Hand.
,,Da siehst du aber süß aus.", gab ich als Antwort und schob mir den ersten Löffel in den Mund.
Er verdrehte die Augen und brachte mich somit zum lachen.
,,Hör bloß auf damit.", forderte er mich auf.
,,Aber sieht mal, da hattest du noch richtig helle Haare.", nervte ich ihn weiter und wuschelte ihm durch seine bereits dunkler gewordenen Haare.
,,Okey, Ana. Es reicht. Komm jetzt!", er drehte sich um und lief vor mir die Stufen hoch in den ersten Stock.
Auch sein Zimmer war modern und schön ausgestattet. Was hatte man auch anderes erwartet...
Frustriert ließ ich mich auf sein Bett plumpsen. Warum konnte ich nicht so ein großes Zimmer haben? Ben setzte sich auf seinen Schreibtischstuhl und wir aßen schweigend unser Eis.
Schon die ganze Zeit überlegte ich, wie ich meine Frage am besten formulierte, welche mich beschäftigt seit dem wir uns auf den Weg zu seinem Haus gemacht haben.
Als ich mein Eis aufgegessen hatte, stellte ich meine leere Schale auf seinen Nachttisch und schob beide Hände unter meine Oberschenkel.

,,Warum bin ich hier? Ich meine, Justin durfte mich nicht einmal umarmen, aber du nimmst mich gleich mit zu dir nach Hause?", ich legte den Kopf schief.
Ben schaute von seinem Eis auf und stoppte für einen kurzen Moment mit dem Essen. Dann schob er sich den nächsten Löffel in den Mund und zeigte dann damit auf mich.
,,Zu meiner Verteidigung: Justin ist ein Arsch.", er löffelte weiter.
Ich schüttelte den Kopf.
,,Das hat nichts damit zu tun. Ich verstehe es nicht, Ben. Was wollte David von mir. Und warum macht ihr irgendein Versprechen, wenn ihr es eh nicht halten könnt?", ich zeigte mit der Hand auf ihn.
,,Ich möchte es echt verstehen. Es lässt mir sonst keine Ruhe.", ich ließ mich nach hinten fallen und beobachtete ihn von dort aus.

Ben stelle sein Eis weg, rieb sich die Hände und lehnte sich dann nach vorne.
,,Weißt du, David war nie richtig an beliebten oder auffallenden Mädchen interessiert. Ja, auch Jungs reden über Mädchen, aber er hatte meist nie etwas beizutragen oder verneinte, wenn wir ihn wieder mal mir irgendeiner Cheerleaderin verkuppeln wollten. Für uns war klar, er musste auf einen anderen Typ Mädchen stehen. Eben eher auf die ruhigen, schüchternen Mädchen. Anfangs haben wir ihn immer damit aufgezogen und als er das erste Mal von dir gesprochen hat und dann immer öfters, da haben wir uns über ihn lustig gemacht. Aber irgendwann begann er sich zu behaupten. Jeder von uns war mal in irgendein Mädchen verknallt. Wir konnten ja nicht wissen, dass er es so ernst meinte. Eines Tages hat er uns dann geschworen, er würde uns verletzten, wenn wir jemals versuchen dir zu Schaden oder dir ihn wegnehmen. Daraufhin haben auch wir geschworen, dass wir das nicht tun werden.", er streckte seine Hände aus.
,,Ende. Mehr gibt's da nicht zu sagen."

,,Wie? Was hat das dann mit deinem Ausraster auf sich?", ich zog die Stirn in Falten.
,,Manche haben das eben bis heute Ernst genommen, manche dafür wohl zu wenig Ernst. Es hat mich eben genervt, dass er dieses Versprechen so missbrauchte. Ich meine, du bist noch immer hier und David lebt hoffentlich auch noch irgendwo. Die Regel steht also noch. Und da ich dir weder Schaden noch dir ihm wegnehmen will, hab ich dich mitgenommen.", er nahm sein Eis wieder, lehnte sich entspannt zurück und aß weiter.

,,Du warst zu hart zu ihm. Justin hat mir weder weh getan, noch hat er sonst irgendetwas gemacht, was eure Regel gebrochen hätte.", mein strafender Blick traf auf ihn und er wusste keine Antwort darauf.

Ich atmete einmal hörbar aus und setze mich wieder aufrecht hin.
,,Weißt du was Ben?", fragte ich dann leicht fröhlich.
,,Was?", fragte er und kratze den letzten Rest aus seiner Schale.
Unauffällig schnappte ich mir ein Kissen und warf es in seine Richtung.
,,Ihr Jungs seid alle Idioten. Und Angsthasen dazu!"
,,Ey!", rief er, als ihn das Kissen direkt im Gesicht traf und es ihm seinen leeren Becher aus der Hand schleuderte.
Ich brach in Gelächter aus und stand vom Bett auf.
,,Also, wo kann ich dann heute schlafen?", netterweise hob ich das Kissen wieder auf und legte es auf sein Bett zurück.
,,Komm, ich zeig dir das Gästezimmer.", forderte mich Ben auf und ich folgte ihm auf den Flur hinaus. Er blieb bei der nächsten Tür stehen und öffnete sie.
,,Nebenan ist ein Bad. Kleidung ist leider keine da, aber es gibt einen Bademantel. Falls du den dann anziehen willst."
Ich grinste und betrat nach ihm das Zimmer.
,,Falls du was braucht, dann komm einfach rüber.", er verschwand und schloss die Tür hinter sich
,,Aber bitte komm nicht.", er streckte noch einmal seinen Kopf zur Tür herein und lächelte mich an. Ich schüttelte lachend meinen Kopf und machte mit meiner Hand eine wegwerfende Geste.
,,Ja, verschwinde jetzt.", meinte ich und verschwand dann selber im Bad.

Ich hatte das Gefühl, dass man mit Ben sehr viel Spaß haben konnte. Auch wenn unsere erste Begegnung nicht so toll gelaufen war und auch sonst alle Aufeinandertreffen etwas außer Kontrolle geraten waren, was mein Gedächtnis dazu veranlasste mir zu raten, das lieber zu lassen, fing ich an ihn zu mögen. Er geriet nicht gleich außer Kontrolle und war nicht sofort auf alles und jeden sauer. Nur bei ernsten Angelegenheiten schien er leicht reizbar zu sein.

Kaum 15 Minuten später stand ich fertig geduscht vor dem großen Gästebett. Ich machte das Licht aus, legte mich ins Bett und sah noch einmal auf mein Handy. Julia hatte sich noch immer nicht gemeldet. Wahrscheinlich war sie noch immer am feiern, überlegte ich, legte mein Handy auf das Nachtkästchen zu meiner Rechten und versucht einzuschlafen.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top