Kapitel 12 ~Eisige Kälte auf der Haut~
Ich hatte mich schon lange nicht mehr so niedergeschlagen gefühlt wie an diesem Abend. Die 20 Treppen bis in den ersten Stock und in mein Zimmer kamen mir wie eine Ewigkeit vor. Meine Gelenke waren träge und ich konnte einfach nicht aufhören zu weinen. Ich machte mir erst gar nicht die Mühe, meine Sachen auszuziehen, oder irgendetwas für die Schule zu tun. Ich legte mich mit meiner Jacke und all den anderen Sachen in mein Bett, zog die Decke bis zu meinem Kinn und wollte einfach nur schlafen. Es war kurz nach sechs Uhr und zu meinem Glück draußen schon dunkel, so musste ich keine Vorhänge zuziehen.
Für einen kurzen Moment musste ich wohl eingeschlafen sein, denn laut meiner Uhr war es bald sieben Uhr, als es leise an meiner Zimmertür klopfte. Sofort dachte ich an Leo und unsere kleine Auseinandersetzung, über die wir noch immer nicht richtig geredet hatten, doch stattdessen steckte Jeremy seinen Kopf zur Tür herein. Seine Miene war leicht besorgt, ich konnte aber nicht deuten, ob es an mir lag, oder ob ihm etwas anderes am Herzen lag.
Ich ließ ein leises Grummeln von mir, um ihm zu signalisieren, dass er hereinkommen durfte. Der Fußboden knarzte einige Male, dann ließ er sich neben mir in meinem Bett nieder.
,,Mum will, dass du nach unten kommst. Wir haben eine Familienbesprechung.", seine Arme stütze er an seinen Knien ab und schaute mich eindringlich an.
,,Gebt mir fünf Minuten.", flüsterte ich, weil ich zu mehr im Moment nicht fähig war. Verwirrt blickte ich zu Jeremy, als er sich nach einigen Sekunden noch immer nicht bewegte. Sein Blick lag starr und eindringlich auf mir und bereitete mir einen leichten Schauer.
,,Bitte!", flehte ich ihn daher an, was anscheinend wirkte, da er sich endlich erhob und schnellen Schrittes mein Zimmer verließ.
Erschöpft atmete ich einmal aus und ließ mich noch tiefer im meine Matratze sinken. Vielleicht sollte ich sie ignorieren und einfach weiterschlafen? Wie lange würde es dauern, die Stufen nach unten zu steigen? Was war so wichtig? Warum genau heute? Konnten sie mich nicht einfach in Ruhe lassen? Ich wollte niemanden sehen, aber trotzdem steckte da diese Neugierde in mir, die meine Hände kribbeln ließ. Müde rappelte ich mich auf und blieb erst einmal auf dem Bett sitzen. Es verstrichen ein paar Minuten, in denen ich einfach meinem Atem lauschte. Ich beschloss meine fünf Minuten komplett auszunutzen, bevor ich mich aufrappelte und nach unten ging.
Im Esszimmer angekommen, saßen bereits alle um den Tisch und schienen nur auf mich zu warten. Natürlich, auf wen sollten sie sonst warten? Hope war ja nicht hier. Ich ließ mich auf meinen freien Platz nieder und bedankte mich für die heiße Schokolade, welche dampfend vor mir stand. Ich umfasste die blaue Tasse, welche mein Liebling war und meine Hände wurden sofort aufgewärmt. Dann starrte ich in die Runde und bemerkte kritische Blicke, die auf mir ruhten. Ich musste bestimmt schrecklich aussehen. Meine Haare zerzaust, das Make-up verschmiert und meine Augen verheult. Ganz zu schweigen von meiner Jacke und meinen Schuhen, welche ich immer noch anhatte.
Ich nahm einen großen Schluck um von mir abzulenken, doch das half irgendwie auch nicht. Auf keinen Fall würde ich dieses Gespräch beginnen. Die Stille machte mich krank und ich merkte, wie meine Augen schon wieder drohten zuzufallen.
Als meine Mutter dann endlich begann zu sprechen, fühlte ich ein Zerreißen der Luft, so laut rauschte ihr Stimme in meinen Ohren.
,,Euer Vater und ich haben euch etwas zu sagen.", man merkte ihr an, dass sie absolut keine Ahnung hatte, wie sie dieses Gespräch beginnen sollte, geschweige denn zu Ende führen sollte.
,,Ähmm, vielleicht habt ihr ja schon bemerkt, dass im Eingangsbereich einige Sachen aus den Kommoden fehlen und auch einige Bilder nicht mehr an den Wänden hängen."
Mum hatte ihre Stimme wieder gesenkt, machte mehrere Pausen zwischen ihren Worten und zog es allgemein unglaublich in die Länge.
Ich vermied ihren Blick, konnte aber merken, wie die Jungs gespannt auf das warteten, was sie zu sagen hatte und nickten immer wieder.
Sie hatten absolut keine Ahnung, was auf sie zukommt. Und das machte mich für einen kurzen Moment wütend. Wütend, weil sie nie da sind und absolut nicht mitbekommen, was zu Hause alles passiert. Und ich war wütend, weil sie sich gar nicht für unser Familienleben interessierten. Dann musste ich aber daran denken, dass nicht einmal ich genau Bescheid wusste, was los ist. Konnte ich überhaupt auf sie wütend sein? Vermutlich nicht.
,,Und ja, euer Vater und ich streiten sehr viel. Es ist einfach nicht mehr so wie früher."
Ich lachte kurz auf, eher war es ein ausatmen und verdrehte meine Augen. Dann schloss ich sie komplett. Tränen sammelten sich und ich hatte Mühe sie hinunterzukämpfen. Es war einfach zum heulen.
Ich konnte mir schon genau ausmalen, was sie als nächstes sagen wird. Plötzlich hörte ich mein Herz ganz laut klopfen, mein Körper zitterte und trieb mir erneut einen Tränenschwall in die Augen.
,,Ich will es kurz machen.", sie atmete laut ein, bevor sie ihren Satz beendete.
,,Wir werden uns scheiden lassen."
Die Welt stand still. Selbst das Ticken der schwarzen Wanduhr verstummte komplett und ließ mich alleine in dieser furchtbaren Leere zurück. Ich kann nicht sagen, wie die anderen reagiert haben. Die Erinnerung daran fehlt mir komplett.
,,Es tut mir leid, aber es ist so. Meine Sachen sind schon gepackt. Ich ziehe morgen aus."
,,Morgen?", fast hätte ich meine Stimme nicht wieder erkannt, so kalt klang sie und brachte somit alles zum Ausdruck, was ich zu sagen hatte und was ich von der ganzen Geschichte hielt.
,,Ja morgen. Wir wollten die Sache so schnell wie möglich erledigen. Die Papiere sind schon unterschrieben.", sie klang wieder etwas mutiger, so als wäre es das Richtige. Doch das war es nicht.
Jedes Wort fühlte sich an wie ein Peitschenhieb und mit jedem Weiteren Wort trieb sie diese noch tiefer in mein Fleisch.
Irgendwie hatte ich es geschafft aufzusstehen, auch wenn meine Sicht komplett verschwommen war. Sofort merkte ich, wie sich auch die anderen erhoben. Sie waren auf alles gefasst und sie wussten, zu was ich fähig war. Nur konnten sie noch nicht genau einschätzen, wie ich reagieren würde.
Ich auch nicht. Ich wusste es am Wenigsten.
,,Die Sache?", Fassungslosigkeit überkam mich. Ihre Ehe. Unser Haus. Wir. Es war für sie alles nur eine Sache?
,,Mach es ihnen doch nicht so schwer Ana!", flehte Ben.
Das war der Punkt, an dem ich glaube meine Beherrschung verloren zu haben. Mir war es mittlerweile egal, dass ich weinte, als gäbe es kein Ende. Denn so war es auch. Dieses ganze Leid nahm einfach kein Ende.
Und so konnte ich nicht anders als Ben anzustarren. Ihn mit meinen Blicken zu durchlöchern.
,,Du stehst als hinter ihnen? Findest du das gut?", ich zeigte mit dem Finger auf ihn, sah meine Eltern an und entfernte mich dann rückwärts Richtung Haustür. Meine Mutter trat einen Schritt vor und streckte die Hand nach mir aus.
,,Schatz.", das war alles, was sie sagen konnte, da hatte ich ihr schon mit einem einzigen Kopfschütteln das Wort abgeschnitten.
,,Nein! Hör auf damit! Du tust so, als wäre alles in Ordnung. Als wäre das alles nicht so schlimm. Aber das ist es!
,,Ja, das ist es auch.", sie faltete ihre Hände und ging noch einen Schritt auf mich zu. Alle anderen hatten sich etwas weiter hinten aufgestellt und beobachteten uns schweigsam und bedrückt.
,,Ja. Und hast du dabei an uns gedacht? Hast du an all das hier gedacht?", ich breitete meine Arme aus und sah mich im Haus um.
,,Nein, hast du nicht! Hast du an Hope gedacht? Nein, denn sonst wüsstest du, dass sie das umbringt!"
Sie schüttelte ihren Kopf.
,,Doch! Es bringt sie um.", ich schrie mittlerweile so laut, dass es vermutlich auch unsere Nachbarn hören konnten. Aber es war mir egal.
,,Ihr gebt ihr damit einen Grund, nicht mehr weiterleben zu wollen. Ja, sie will nicht mehr leben. Wozu auch. Ohne eine Familie!"
,,Das stimmt doch nicht. Wir sind doch trotzdem noch eine Familie.", schaltete sich plötzlich auch mein Vater ein und stellte sich hinter meine Mutter.
,,Nein. Eben nicht. Wir sind nichts mehr. Dann gibt es keine Familie mehr. Und das kann ich nicht ertragen.", ich hatte genug, ich wollte nicht mehr. Ich musste einfach weg.
Ich griff nach der Haustürklinke und drückte sie hinunter, als ich Mums Hand auf meiner Schulter spürte.
,,Es tut mir leid Ana.", wiederholte sie noch einmal und ich merkte, dass es wirklich von Herzen kam. An meinen Gefühlen ihr gegenüber änderte das im Moment trotzdem nichts.
,,Dafür ist es jetzt zu spät.", meine Stimme glich einem schluchzen, mehr Kraft hatte ich einfach nicht mehr.
Unsere Augen trafen sich und ich gab ihr einige Sekunden, bevor ich ihre Hand mit einem einfachen Schulterzucken verbannte.
,,Wenn du jetzt gehst, dann geh. Aber dann komm nie wieder. Dann bist du für mich gestorben!", ich zischte, spukte ihr die Worte entgegen, so fremd wurde sie mir plötzlich.
Sie zog stark die Luft ein, der Schock fuhr ihr in Mark und Bein.
Unwiderruflich hatte ich damit einen Keil zwischen unsere enge Verbindung getrieben. Ich hatte Worte ausgesprochen, die man von einer Tochter nie hören wollte. Und ich habe es trotzdem getan. Egal welche Folgen das haben sollte.
Es trennten mich maximal zwei Meter von der frischen Luft vor unserer Haustür. Freiheit.
Ich ließ die leeren und geschockten Augenpaare hinter mir, schloss die Tür und lief los. Niemand lief mir hinterher. Sie ließen mich einfach ziehen. Ich spürte die Kälte auf meiner Haut, auf meinen nassen Wangen. Wie Eis schmiegte sie sich um mich und umhüllte meinen Körper geborgen.
An das nächste, an das ich mich klar erinnern kann, war der Wald welcher dunkel und einladend vor mir lag. Ich hatte keine Ahnung welcher Wald das war. In der Nähe unseres Hauses gab es keinen Einzigen. Ich ließ mich an einer kleinen Lichtung zu Boden gleiten und schrie. Ich schrei wie schon lange nicht mehr. Ich ließ meinen Schmerz und meiner Wut auf die ganze Welt einfach freien Lauf.
Davon, wie ich wieder nach Hause gekommen bin, habe ich keine Ahnung. Meine Erinnerungen sind wie Fetzen, kleine Stückchen, die man zerrissen hatte.
Als ich meine Matratze unter meinem Rücken spürte, wünschte ich mich sofort wieder zurück in den Wald, in welchen ich mich aus irgendeinem Grund wohl fühlte. Zumindest für diesen Moment. Für diesen gestrigen Abend.
Jegliches Zeitgefühl hatte ich verloren. Ein Blick aus dem Fenster verriet mir aber, dass es noch immer Nacht war. Oder war es schon wieder Nacht? So sehr ich es auch versuchte, ich konnte mich einfach nicht erinnern. Ich hätte meinen Kopf nur ein paar Zentimeter drehen müssen, dann hätte ich die Anzeige auf meinem Wecker erkennen können. Und ich schaffte es trotzdem nicht. Meine Muskeln bewegten sich keinen Millimeter. Alles was sie erlaubten war das schließen meiner Augenlider und das gleichmäßig, langsame Heben und Senken meines Brustkorbes. Und mit diesen schlief ich tatsächlich gefühlte Stunden später wieder ein.
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