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Als ich die Bibliothek am nächsten Tag gleich nach der letzten Unterrichtsstunde betrat, war es so still, dass ich Angst davor hatte die Tür zu laut zufallen zu lassen. Vor etwa 24 Stunden war ich hier noch reingekommen, mit der Befürchtung schon zu spät dran zu sein um mich für einen Job zu bewerben. Doch gleich nachdem ich mich vorgestellt hatte, bekam ich die Zusage, auf die ich gehofft hatte. Es schienen sich wohl nicht so viele Leute für diese Stelle interessiert zu haben.

Ich entdeckte nur wenige Schüler dabei, wie sie die Regale nach Büchern durchstöberten oder verteilt an den Tischen saßen und in ihre Notebooks vertieft waren. Die erste Person, die nach einem Mitarbeiter aussah, war zwar ebenfalls ein Schüler, jedoch stand er zusammen mit einem Karton voll Bücher vor einer riesigen Lade und sortierte abwechselnd Bücher ein und aus. Ich war mir sicher ihn am Schulgelände schon einmal gesehen zu haben. Er hatte sein Haar mit einem dünnen Haargummi zusammengebunden, jedoch hing ein Großteil der dunklen Strähnen an allen Seiten hinunter. Außerdem trug er einen der Hoodies der Wildwood High, die nur den Mitgliedern des Basketball-, Schwimm-, oder Leichtathletik-Teams zu Verfügung gestellt wurden. Seiner war rot, deswegen tippte ich auf Basketball. Die des Schwimmteams waren blau und die der Leichtathletiker grün. Ich hatte irgendwo in meinem Kleiderschrank auch noch einen davon verstaut, den ich bekommen hatte, als ich noch im Team war.

Mit einem etwas lauteren Räuspern versuchte ich mich bemerkbar zu machen und ging einige Schritte auf ihn zu. Als er sich nicht direkt umdrehte, schob ich meine Lesebrille zurecht und tippte ihm mit dem Zeigefinger auf die Schulter. Abrupt ließ er einige Bücher auf den Boden fallen.

„Shit", fluchte er leise und zog sich ein Paar kabellose Kopfhörer aus den Ohren. Er fing sofort an die Bücher wieder aufzuheben und nach irgendwelchen Schäden zu untersuchen. Ich tat es ihm gleich, hob so viele Bücher wie möglich vom Boden auf und legte sie für ihn in die Schachtel.

"Es tut mir so leid!"

Der Junge hob seinen Blick von den Büchern und sah mich an. Ein kleines Schmunzeln stahl sich auf seine Lippen, bevor er eine abwinkende Bewegung machte. "Ach, solange nichts kaputt gegangen ist, war das halb so wild."

Er beförderte noch die restlichen paar Bücher an ihren Platz und deutet mir schlussendlich mitzukommen. Ich folgte ihm in einen nahe gelegenen Raum mit einer großen Glastür. Es war ein kleines Büro mit, in Vitrinen verschlossenen, Büchern und einem gigantischen Holztisch inmitten.

"Du bist bestimmt Allie, oder? Ich heiße Rhys Andriel."

Verwundert blickte ich ihn an und brauchte einige Sekunden um herauszufinden, wo ich diesen Namen schon gehört hatte.

"Andriel? Wie Coach Andriel?"

Marc Andriel war der Trainer des Basketball- Teams und einer der Sportlehrer an unserer Schule. Ich kannte seinen Namen jedoch nur, da die Sportteams oft gemeinsam Ausflüge unternahmen oder Schulveranstaltungen organisierten.

Lachend suchte er in einem Ordner nach einem Stück Papier und reichte mir dieses, nachdem er es aus den Ringen befreit hatte.

"Ja, genau der. Das ist mein Vater. Ohne ihn wäre ich niemals zu diesem Job gekommen.", erklärte er kurz und hielt mir einen schwarzen Kugelschreiber entgegen.

"Ich brauche nur schnell deine Unterschrift da drauf und dann kannst du eigentlich schon anfangen."

Ich überflog die wenigen Zeilen auf dem Papier. Es waren die üblichen Informationen zu lesen: Arbeitszeiten, Rechte, Gehalt und Vorschriften. Daraufhin setzte ich die Spitze des Stiftes auf den Vertrag und begann in krummen Linien A. Davis zu schreiben.

"Arbeitest du heute alleine hier?", fragte ich und schob das unterzeichnete Blatt über den Tisch. Er betrachtete meine Unterschrift und steckte den Vertrag zurück in den Ordner.

"Jetzt wohl nicht mehr.", sagte er grinsend und deutete mir mit einer kleinen Kopfbewegung erneut ihm zu folgen.

Rhys gab mir eine kurze Einschulung in meinen vorläufigen Aufgabenbereich, wobei er mir die einzelnen Abteile und Bereiche vorstellte. Außerdem erklärte er mir auf was ich besonders zu achten hatte, wie das Verhalten der Besucher oder das Einhalten der Hausordnung. Ab und zu schob er unter anderem auch die Namen der restlichen drei Mitarbeiter ein, von denen ich jedoch bislang nie gehört hatte. Schlussendlich hatte er noch etwas wie "Zu Beginn des Schuljahres müssen immer unbrauchbare und kaputte Bücher aussortiert werden" gesagt und mich meiner Arbeit überlassen.

Es war bereits dunkel draußen geworden, als ich gerade damit anfing das letzte Regal durchzuarbeiten und einige Gänge weiter das Klimpern eines Schlüsselbundes vernahm. Nur wenige Sekunden später tauchte Rhys in meinem Gang auf und blickte an dem Stapel an Büchern hinab, den ich neben mir erstellt hatte.

"Es ist 21 Uhr. Das heißt die Bibliothek wird jetzt für Besucher geschlossen. Somit dürfen wir eigentlich auch nach Hause gehen, aber wenn du noch ein paar extra Einheiten einlegen willst, kann ich dir gerne die Schlüssel hierlassen."

Ich nickte, als ich mir meine mit Staub bedeckten Hände an meiner dreckigen, blauen Jeans abwischte. "Ja, ich will das hier noch erledigen", sagte ich und fing gerade so den Schlüsselbund auf, den Rhys mir zugeworfen hatte.

Er hob kurz die Hand um mir zu zuwinken und entfernte sich dann immer weiter von mir. Ich widmete mich gerade wieder den restlichen Büchern, als seine Stimme erneut die Stille unterbrach: "Hey, sorry Mann, aber wir schließen schon."

Da ich eigentlich nicht vor hatte mich weiter von meiner Aufgabe abhalten zu lassen, drehte sich mein Kopf erst weg vom Regal, als auch eine zweite Stimme an mein Ohr gelangte. "Andriel! Dass ich dich noch zu Gesicht bekomme."

Und da sah ich ihn. Miles kam grinsend durch die Drehtür stolziert und zog sich eine durchnässte Kapuze vom Kopf. Sein dunkles Haar stand wild in alle Richtungen und als er sich aus einer weinroten Jacke schälte, perlten unzählige Regentropfen davon ab und landeten auf dem Boden.

Er und Rhys schlugen einander ein, als wären sie wieder vereinte Freunde.

"Das sollte wohl eher ich sagen. Ich dachte du würdest jetzt in Europa sein und die beste Zeit deines Lebens erleben", meinte Rhys und musterte seinen Gegenüber von Oben bis Unten. "Aber anscheinend stimmen die Gerüchte, dass du wieder zurückgekehrt bist."

Miles stieß ein leises Lachen aus und fuhr sich mit seiner Hand durchs Haar. "Ja, die scheinen wohl zu stimmen. Aber abgesehen davon... gehst du schon? Ich kann auch morgen vorbeikommen, wenn das besser für dich passt."

"Auf keinen Fall! Hol' dir ruhig was du brauchst. Unser Neuzuwachs Allie, dort drüben, hat sowieso noch vor ein wenig zu bleiben." Rhys Kopf schnellte in meine Richtung und noch bevor ich es schaffte mein Gesicht rechtzeitig abzuwenden, trafen Miles' Augen auf meine.

"Perfekt", antwortete dieser, jetzt noch breiter grinsend, und klopfte Rhys freundschaftlich auf die Schulter. Als ich beobachtet, wie sich Miles mir mit langen Schritten näherte, wurde ich noch unruhiger als zuvor, stopfte die restlichen Bücher einfach in die Ablage und verschwand hinter dem nächstgelegenen Bücherregal.

Eigentlich hatte ich gedacht, Miles gestern Vormittag zu sehen hatte mich innerlich aufgewühlt, doch diese Situation gerade übertraf mein Debakel von gestern. Trotzdem ließ ich diese Nervosität auf keinen Fall nach außen dringen.

Ich konnte mir dieses Verhalten selbst nicht zu erklären. Ich brauchte vor Miles keine Angst zu haben. Er hatte schon lange keine Macht mehr über mich oder mein Herz. Das Einzige, dem ich unbedingt aus dem Weg gehen wollte, war eine Konfrontation mit ihm. Denn im Gegensatz zu allem anderen was ich tat, würde diese Begegnung völlig unvorbereitet ablaufen. Ich wusste nicht, was er sagen würde, was er denken würde und wie er mich ansehen würde. Konnte er sich an unsere Begegnung damals erinnern? Wieso war er wieder hier? Wie dachte er inzwischen über mich? Hatte er vor wieder da weiter zu machen, wo wir in der Mittelstufe aufgehört hatten?

So viele Fragen, zu denen ich die Antwort eigentlich gar nicht wissen wollte. Doch ich brauchte sie und ich würde sie bekommen. Denn spätestens als Miles um die Ecke bog und mich völlig versteinert vor Shakespeare und Co. wiederfand, hatte ich keine Wahl mehr. Jetzt wegzulaufen wäre nur albern und hätte ihm bloß einen Grund dafür gegeben sich über mich lustig zu machen. Er war schließlich kein Serienmörder, der mich in seinem Garten vergraben wollte oder der Teufel der hinter meiner Seele her war.

Seine schmunzelnden Lippen öffneten sich um etwas zu sagen, doch ich fiel ihm ins Wort. "Kann ich dir irgendwie helfen?", fragte ich und war selbst verwundert, wie ich es schaffte eine so neutrale Tonlage zu behalten. Amüsiert wanderte sein Blick über meinen ganzen Körper und erneut verspürte ich den Drang einfach abzuhauen. Entweder ich wurde gerade wieder so rot wie ein Feuerlöscher oder er fand es witzig wie ich meine Kleidung zugerichtet hatte - was man ihm nicht verübeln konnte. Meine sonst so sauberen Klamotten waren übersät mit Staub und Dreck, während mein inzwischen graues T-Shirt nur zur Hälfte in meine Hose gesteckt war.

Er hingegen sah natürlich besser aus denn je. Trotz der nassen Jeans und den fleckigen Sneaker, passte sich sein komplettes Outfit perfekt an seinen fitten Körper an. Ein schwarzer, dünner, anliegender Pullover zeigte seinen definierten Bizeps, als er seine tropfende Jacke um eine Stuhllehne legte und die Arme vor der Brust verschränkte. "Das ist das Einzige, das ich bekomme, nachdem wir uns sechs Jahre lang nicht gesehen haben? Da enttäuschst du mich aber ein wenig, Alyssa."

Noch während er sprach ging ich an ihm vorbei und nahm wieder die Position ein, an der ich mich vor seinem Eintreffen befunden hatte. Sechs Jahre. Also hatte er unser Treffen in Paris vergessen? Oder war er betrunken gewesen?

Ich begann die Bücher von zuvor neu zu sortieren, konnte mich jedoch nicht richtig konzentrieren, da mir Miles natürlich gefolgt war. Als ich einen kurzen Blick auf ihn wagte, sah ich, dass er jede meiner Bewegungen aufmerksam beobachtet und hielt deswegen in meinem Tun inne. Ich drehte mich auf den Absätzen zu ihm und musste feststellen, dass er deutlich größer war als ich. Als Kinder waren wir immer gleich groß gewesen, während Maeve Schwierigkeiten damit hatte einen von uns einzuholen.

"Ich mach doch nur Witze."

Ich ließ mir seine Worte mehrmals durch den Kopf gehen und verschränkte nun ebenfalls die Arme, in der Hoffnung meine selbstsichere Maske irgendwie zu erhalten. Im selben Moment krallte ich meine Fingernägel in die Haut an meinen Oberarmen. Die Nervosität von vorhin kehrte zurück und ich verdrängte die Tatsache, dass mir plötzlich speiübel wurde.

"Wovon sprichst du?"

"Von Paris natürlich. Wovon sonst?" Er biss sich auf die Lippe um sich sein Grinsen zu verkneifen, was mich nach und nach zum Kochen brachte.

Miles konnte sich also an damals erinnern. Er konnte sich an mich erinnern. Das hieß, er wusste mit ziemlicher Sicherheit mehr über diesen Abend, als ich es tat.

Ich holte tief Luft, versuchte meinen Herzschlag zu verlangsamen und machte einen Schritt zurück.

"Hör mir mal zu, Miles. Tu mir einfach den Gefallen und vergiss was passiert ist. Lass mich einfach in Ruhe und tu was auch immer du hier in Wildwood tun willst, okay? Das Letzte, das ich gebrauchen kann ist, dass du für irgendein Drama in meinem Leben sorgst!" Am Ende des Satzes war meine Stimme viel zu laut. Erstaunt von meinem Ausbruch presste er nun seine Lippen zusammen. In dieser Stille fiel es mir von Sekunde zu Sekunde schwieriger seinem Blick standzuhalten.

"Ich habe nicht vor irgendwie-"

"Tu es einfach ", brachte ich gepresst hervor.

Ich versuchte jeden Tag zu vergessen, den ich nach dem Tod von Mom damit verbracht hatte mich in Schmerz und Selbstmitleid zu vergraben. Dieser Tag und all die dazugehörigen, verlorengegangenen Erinnerungen gehörten dazu. Außerdem hatte ich Maeve nie von dem Treffen erzählt und wenn zwischen Miles und mir wirklich mehr passiert war, als ich glauben wollte, würde ich mir das selbst nicht verzeihen.

Miles schien zu begreifen, dass ich jedes Wort ernst meinte und antworte daher mit einem deutlichen Nicken. "Okay... Ja okay."

Ich nickte ebenfalls und wollte mich erneut von ihm abwenden, da berührte er mich am Oberarm und hielt mir ein zerknittertes Stück Papier vors Gesicht. Ich nahm es entgegen und betrachtete es genauer. Es war eine Liste voll mit Büchern aus den verschiedensten Genres.

"Ich muss die alle haben bevor ich nächste Woche wieder in die Schule gehe. Kannst du mir vielleicht helfen sie zu finden?"

Seine Stimme war um einiges ruhiger, als ich es erwartet hatte.

"Klar. Ich versuch's", antwortete ich, mindestens genauso leise.

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Erste Eindrücke zu Rhys? Ich liebe den Namen einfach so. Außerdem gibt es einen Charakter aus einer Serie den ich für Rhys im Kopf habe und den ich liiiieeebe. Falls ihr wissen wollt wer es ist, dann schreibt mir in die Kommentare xD. Will es hier nur nicht direkt schreiben damit ich nicht irgendwem sein eigenes Bild von Rhys zerstöre.
Miles ist nun auch wieder back und Allie hat es - wie man wohl schwer übersieht - nicht immer leicht mit ihm und ihrer Situation.
Und keine Sorge! Es kommen noch genauere Informationen zum Tod von Allies Mutter und dazu was damals in Paris wirklich passiert ist. Aber das alles hat ja noch Zeit ;D

Und wie immer.. Wenn euch das Kapitel gefallen hat, dann teilt mir das doch gerne irgendwie mit uuund erzählt mir von euren Gedanken und Spekulationen, was die Charaktere und den Plot betrifft :) Mit da immer sehr erfreut daran eure Gedanken zu hören.

LG Ines <3

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