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Kurz vor Beginn der Mittelstufe das Herz rausgerissen zu bekommen, war für ein 11-jähriges Mädchen ein Ereignis der nicht so zauberhaften Art. Zumindest, wenn man zu diesem Zeitpunkt noch denkt bereits die große Liebe gefunden zu haben. Das hatte ich gedacht, bevor Miles und ich an Maeves 12. Geburtstag unser erstes - wenn auch ziemlich einseitiges - Gespräch hatten. Ich war schon mehrere Male zuvor im Haus von Mr und Mrs Wyatt gewesen, doch Miles lief mir dabei nie über den Weg. Erst als zu Maeves großem Tag diese riesige Party geschmissen wurde. Das altmodische Wohnzimmer war übersäht mit Ballons, Luftschlangen und silber-pinkem Konfetti, das über den riesigen Tisch und an manchen Stellen sogar über dem Boden verteilt lag.

Ich saß alleine an einem kleinen Tisch und beobachtete wie meine beste Freundin von ihren Großeltern alle möglichen Sachen geschenkt bekam, da bemerkte ich im Augenwinkel, wie eine Gestalt auf mich zumarschiert kam und sich neben mich setzte. Eine schmächtige Silhouette mit dunklem, zerzaustem Haar. Ich musste keinen Blickkontakt aufbauen, um mir selbst zu versichern, dass da gerade er neben mir Platz genommen hatte. Der 13 jährige Miles begann zu sprechen noch bevor ich meinen Kopf überhaupt in seine Richtung drehen konnte: "Hey..Alicia...Oder..Alyssa? Ich bin nicht so gut mit Namen. Eigentlich will ich dir nur sagen, dass ich dich nicht so...cool finde wie du mich. Also..hör bitte damit auf, weil...du verschwendest nur deine Zeit."

Plötzlich war da nichts mehr.

Abgesehen von Stille.

Noch mehr Stille. Nur noch Stille.

Dann Schritte, die sich rasch von mir entfernten.

Ich wusste nicht, ob die ganzen Menschen im Raum wirklich in ihren Konversationen innegehalten hatten, oder ob mein Kopf einfach jegliche Geräusche ausblendete.

Mein Herz begann zu rasen. Ich hielt, seit der Sekunde, in der er mich beim falschen Namen genannt hatte, die Luft tief in meinen Lungenflügeln fest und ließ sie stockend entweichen, als ich die Blicke der Menschen um mich herum auf meiner Haut brennen spürte.

Ich warf beinahe meinen Stuhl um, als ich von meinem Sitzplatz aufsprang und aus dem Raum eilte. Wie ein kleines Mädchen, das ich damals noch war, plumpste ich auf eine der Holztreppen vor der Eingangstür und fing an laut zu schluchzen.

Inzwischen wusste ich, dass der Grund, wieso ich damals geweint hatte, nicht war, dass Miles meine banalen Gefühle nicht erwidert hatte, sondern, wie gedemütigt ich mich durch diese wenigen, unsinnigen Worte gefühlt hatte, die aus seinem Mund gekommen waren.

Wir hatten nie auch nur ein Wort gewechselt. Wieso wollte er mich so unbedingt loshaben?

All die Momente danach, die ich mit Miles verband, verwandelten meinen ganzen Frust und all die Trauer und Scham, die mich so oft versuchten zu zerquetschen, einfach nur zu reinem Hass und stechender Abscheu.

Ich warf einen Blick auf mein Telefon, das neben meinem Bett auf einer winzigen Ablagefläche lag, die gerade mal groß genug war um ein Smartphone auf zwei gestapelte Bücher zu legen.

5:53 Uhr morgens. In weniger als 7 Minuten würde mein Wecker anfangen meine komplette Logic-Playlist durchzuspielen.
Für gewöhnlich nutzte ich jede einzelne Minute aus, die mir noch übrig blieb, um zu schlafen, doch da ich inzwischen seit mehr als einer Stunde das Farbspiel des Sonnenaufgang an meiner weißen Wand mitverfolgte, sorgten diese restlichen Minuten für keinen wesentlichen Unterschied mehr, der meinen ohnehin schon vorhandenen Schlafmangel betraf. Während ich die Decke von meinen Beinen schlug und mich langsam dazu aufraffte aus meinem Bett zu steigen, durchfuhr meinen Kopf ein zarter Schmerz, der mich daran erinnerte, wie erschöpft mein Körper noch war und das er mir liebend gerne zu spüren gab, dass ihm die 8 Stunden Schlaf fehlten, aus denen letzte Nacht lediglich 4 geworden waren. Der dumme Grund dafür war natürlich Miles gewesen. Seine Präsenz hatte sowohl in meinem Kopf, als auch in jeder meiner Muskelfasern, seine Spuren hinterlassen.

Obwohl es genau genommen Maeve war, die mir die schlechte Nachricht vor ein paar Tagen überbracht hatte, kam ich nicht daran vorbei ihrem Bruder die Schuld an meiner momentanen Schlafstörung zu geben. Immerhin war er derjenige, der jeden Abend durch meinen Kopf wanderte, nicht Maeve. Und die Tatsache, dass heute der Tag war, an dem er mir wohl oder übel wieder unter die Augen treten würde, machte es keinesfalls einfacher mich zu meinem ersten Schultag zu überwinden.

Gleich nachdem Maeve mir im Diner mitgeteilt hatte, wer vor kurzem wieder zurück nach Wildwood gekehrt war und dazu auch noch ein verpasstes Schuljahr an unserer High School nachholen würde, hatte ich es irgendwie geschafft weitere Unterhaltungen über dieses Thema auszuweichen und brachte Nate stattdessen dazu Maeve alles über unsere Reise zu erzählen, was sie nicht bereits von mir gehört hatte. Ich hatte in diesem Moment noch nicht gewusst, wie genau ich mit dieser neuen und mindestens genauso überraschenden Information umgehen sollte und hatte daher etwas Zeit gebraucht um mir mit der Sache im klaren zu werden, vor allem, da ich auf geistiger Ebene ohnehin noch nicht zu 100 Prozent wieder angekommen gewesen war. Das war ich ehrlicherweise jetzt auch noch nicht.

Doch am wichtigsten: Wie sorgte ich dafür, dass niemand - schon gar nicht Maeve oder Nate - davon erfuhr, was damals in Paris passiert war und was Miles damit zu tun hatte.

Und ich dachte, als wir die Grenze von New Jersey passierten, die mühsamste Angelegenheit würde sein etwas zusammenzuhalten, das bereits vor Moms Tod zerbrochen war. Meine Familie.

Aber eines nach dem Anderen.

Ich lief in unser Badezimmer und putzte mir die Zähne. Währenddessen drehte ich den roten Hebel unserer Dusche und wartete darauf, dass sich der Raum mit Dampf füllte, bevor ich unter den heißen Wasserstrahl stieg, die Augen schloss und mein Gesicht direkt gegen den Duschkopf hielt, der an der Decke montiert war. Ich unterdrückte ein Stöhnen, als sich nicht nur meine Muskeln unter meiner erwärmten Haut entspannten, sondern auch mein Gehirn endlich Platz für positivere Gedanken machte.

Dieses Schuljahr würde ich endlich die Chance dazu haben mich mit meinen wahren Interessen zu beschäftigen und den ersten Schritt in Richtung berufliche Aussichten zu machen, indem ich eine Entscheidung traf, die ich schon hätte treffen sollen, als es mir Mom geraten hatte. Sosehr es meinem Vater auch missfallen würde, ich wollte und würde endlich das Laufteam hinschmeißen und mir stattdessen einen Nachmittagsjob suchen.

Schon seit meinem 10. Lebensjahr war Leichtathletik ein wichtiger Bestandteil meines Alltags gewesen. Nein. Wenn man es genau nahm, dann war es das schon vor meiner Geburt. Denn unsere Mom war eine ausgezeichnete Läuferin und Weitspringerin gewesen. Nach ihrem Abschluss an der University of Michigan hatte sie damit begonnen ihre Leidenschaft zu ihrem Beruf zu machen. Sie hatte unzählige Meisterschaften gewonnen. Hatte eine Goldmedaille nach der anderen gesammelt. Eines Abends bekam sie die Nachricht die Möglichkeit zu haben, bei den Olympischen Spielen teilzunehmen. Dies geschah in derselben Woche, in der sie die Diagnose für ihre Krankheit bekommen hatte und sie somit ihre gesamte weitere Sportkarriere in den Sand setzen musste. Die Ärzte hatten ihr klipp und klar zu verstehen gegeben, dass sie mit jedem weiteren Training ein immer tieferes Loch in ihrem eigenen Grab geschaufelt hätte.

Aus diesem Grund tat ich das Einzige, das für mich als Tochter, die wusste, dass sie in den folgenden Jahren ihre Mutter verlieren würde, richtig erschienen war: Ich fing an selbst an einem Lauf - Training teilzunehmen. Eine Zeit lang war ich darin sogar ziemlich gut gewesen, bis ich realisiert hatte, dass je länger ich mich selbst dazu drängte diesen Sport auszuüben, desto weniger Spaß hatte ich daran. Deswegen war es nun an der Zeit genau das zu tun, was meine Mom wirklich von mir gewollt hatte: mich meinen Leidenschaften zu widmen.

Noch heute Nachmittag würde ich einen Abstecher bei unserer Schulbibliothek machen und mich für die freie Stelle bewerben, die mittlerweile seit 3 Monaten auf unserer Schulhomepage ausgeschrieben war.

Nach einigen Minuten verlor das Wasser, das sich seinen Weg über meinen Körper bahnte, an Wärme. Ich stieg tropfend aus der Dusche, trocknete mein nasses Haar mit einem Handtuch und föhnte es anschließend, was mich bestimmt 10 Minuten meiner Zeit kostete. In einer schwarzen Jeans und einem dünnen, dunkelroten Pullover verließ ich das Bad und schlenderte gähnend in unsere Küche, wo ich eine halb volle Pizzaschachtel auffand.

Nates Definition von ausgewogener Ernährung.

Angewidert verzog ich das Gesicht, als ich in den Karton blickte und der Geruch von kalter Käsepizza am frühen Morgen, zu meiner Nase gelangte, die ich noch mit Zeigefinger und Daumen zu verschließen versuchte. Ich packte den Deckel wieder auf die Verpackung und beförderte das ganze Teil mit einer Handbewegung in den Müll unter der Spüle.

"Nate!", rief ich laut genug, sodass es meinen Bruder aus seinem Zimmer locken könnte. Ich hatte ihm noch gestern Abend versprochen ihn bis zum Bahnhof mitzunehmen, sobald ich mich auf den Weg machte um Maeve für die Schule abzuholen. Doch in 15 Minuten musste wir los um noch genügend Pufferzeit für einen möglichen Stau zu haben.

Nach etwa 5 Minuten die Tageszeitung durchblättern und weiteren zwei versuchen ihn mithilfe meiner Stimme zu locken, wollte ich mich schlicht und einfach nicht mehr drauf verlassen, dass Nate hier jede Sekunde angetanzt kommen würde. Seufzend schnappte ich mir meinen Rucksack und meine Autoschlüssel. Dann stapfte ich in meinen grauen Sneakers ins Obergeschoss und positionierte mich vor seiner Zimmertür. Als ich für einige wenige Sekunden lauschte und nichts zu hören bekam, griff ich nach seinem Tür Knauf, drehte ihn und trat in sein Zimmer. Sein leeres Zimmer.

Was zum...?

Mit den Fingern fischte ich in meiner Tasche nach meinem Handy und textete Nate, als ich es herausgezogen hatte.

Sehe ich dich nicht oder bist du entführt worden?

Ich warf noch einen Blick unter seine zerknüllte Bettdecke - nur um sicher zu gehen - und machte mich dann allein auf den Weg zu meinem Auto. Solange Nate noch keinen eigenen Wagen hatte, konnte ich meinen Platz in unserer Garage noch genießen. Seitdem Moms Wagen versteigert und der dafür eingenommene Geldbetrag an eine Stiftung gespendet wurde, die Krankenhäusern hilft schwerkranke Kinder zu behandeln, stand mein kleiner, gebrauchter Jeep neben Dads weiß strahlenden Mercedes, der jeden Tag aufs Neue wie ein Neuwagen glänzte. Ich hielt einfach nichts von brandneuen Schlitten, die mehr kosteten als eine kleines Apartment zu kaufen. Was für mich zählte war, dass mir mein Wagen gefiel und ich ihn mir ohne weiteres leisten konnte. Und das traf beides auf mein schwarz lackiertes Fahrzeug zu.

Ich saß bereits hinter dem Steuer und wollte den Motor starten, als mein Beifahrersitz anfing leise zu vibrieren. Nate hatte geantwortet.

Sorry! Ich musste noch was erledigen und bin früher raus. Wollte dich nicht wecken.

Verwundert zog ich meine Augenbrauen zusammen und checkte den Absender der Nachricht. Es war Nate. Der Nate, der sich bewusst nur an zwei Tagen pro Woche den Wecker stellte.

Hätte ich nicht die Reste deines Mitternachtssnacks entsorgen müssen, würde ich denken jemand hätte dir gegen den Kopf geschlagen. Schön zu sehen, dass irgendwo in dir doch noch Verantwortung steckt, Bruderherz.


Selbst schuld, wenn du nicht wertschätzt, dass ich dir dein Frühstück zurecht lege.

Ich wusste, dass Nate und ich uns noch stundenlang solche Nachrichten schicken könnten. Mit einem Grinsen im Gesicht tippte ich gerade meine letzte Nachricht, als noch ein Text auf meinem Bildschirm erschien.

Die Jugend verbringt zu viel Zeit am Smartphone und ich möchte natürlich nicht diesem Klischee entsprechen. Bis Freitag, Lis.

Lis.

So hatte er mich immer genannt als er noch ein Kleinkind war und mich weder Alyssa, noch Allie, nennen wollte. Seitdem wir uns nur noch in den Ferien und an den Wochenenden sahen, hatte er sich diese Angewohnheit wieder zugelegt. Nate hatte ein halbes Jahr vor unserer Abreise in ein Internat gewechselt, das zu einer Sportschule gehörte. Unsere Eltern dachten es wäre das Beste für ihn, da er dort sowohl seinem Hobby nachgehen konnte, als auch besser unter Kontrolle gehalten wurde, als Mom und Dad es geschafft hätten. In gewisser Hinsicht stimmte das alles auch, jedoch war er schwer für mich zu wissen, dass mein Bruder mit dem Auto eine Stunde von uns entfernt zur Schule ging, während ich ihn hier gebraucht hätte. Andererseits war ihm dadurch erspart geblieben Mom beim Sterben und Dad beim Zusammenbrechen zuzusehen.

Mein Herz wurde schwerer als ich mich emotional nach damals zurückversetzen ließ und erst als ich vor Maeves Haus zum Stehen kam, bemerkte ich wie meine Hände das Lenkrad fester als gewöhnlich umklammerten und jegliches Blut aus meinen Fingerspitzen gewichen war. Ich öffnete ein Fenster und holte tief Luft um mich in jeder Art und Weise wieder ruhig zu stimmen. So etwas wie einen Nervenzusammenbruch konnte ich jetzt gar nicht gebrauchen. Vor allem nicht als mein Blick sich auf die Haustür legte und jemand über die Schwelle trat. Es war nicht Maeve, auch nicht ihre Schwester Paisley. Ich konnte Paisley bei Gott nicht ausstehen, trotzdem hätte ich in diesem Moment alles dafür getan, um sie mit dieser Person zu ersetzen.

Er sah noch genauso aus, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Er sah noch genauso gut aus. Nur sein dunkles Haar war ein wenig länger geworden und ich beobachtete ihn dabei, wie er es mit seiner Hand nach hinten streichen musste, da seine leichten Wellen ihm zum Verhängnis wurden. Er trug eine hellgraue Jogginghose und einen schwarzen Hoodie, der seine breiten Schultern kaum schmächtiger wirken ließ. Als seine Schwester neben ihm aus dem Haus kam, wirkte sie so zart und hilflos neben ihm, dass Maeves Persönlichkeit dieser Situation wohl eine gewaltige Wendung verpasste hätte.

Meine Augen hatten ihn fixiert und für jede weitere Sekunde, die verstrich, erhöhte mein Puls sein Tempo. Ich hatte Angst davor, dass er direkten Blickkontakt zu mir herstellen könnte, trotzdem war da irgendwas in mir, dass genau das hoffte.

Maeve hing sich ihren knallgelben Rucksack um die Schulter und näherte sich meinem Wagen. Ich wollte meine Aufmerksamkeit auf sie umlenken, da sich ihr Bruder einige Schritte zurück ins Haus bewegt hatte, doch gerade als ich dachte, er würde endlich die Tür schließen, trafen seine dunkelbraunen Augen auf meine und ein schmales Schmunzeln umspielte seine Lippen, als er realisierte wie sehr ich ihn angestarrt hatte. Und an genau diesem Blick erkannte ich, dass er mit meinem Anblick längst nicht mehr nur unsere Kindheit verband.

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Kennt das Gefühl jemand wenn man kurz vorm Wecker aufwacht und sich total drüber ärgert weil es die paar Minuten nicht mehr wert sind weiter zu schlafen, aber man unglaublich müde ist? xD

Wenn euch das Kapitel gefallen hat, I teilt mir das doch gerne mit und erzählt mir von euren Gedanken und Spekulationen, was die Charaktere und den Plot betrifft :)

LG Ines

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