2|american diner

Maeve kam mit hastigen Schritten und einem aufgesetzten Lächeln auf unseren kleinen Tisch zu. Zwischen ihrem Oberkörper und ihrem linken Ellenbogen klemmte ein kleines Notizheft, in das sie vor wenigen Minuten noch unsere Bestellungen aufgeschrieben hatte. Oder zumindest so getan hatte als ob. Ich war mir sicher, dass sie in den 3 Jahren, in denen sie hier aushalf, unsere immer gleichbleibenden Getränke bereits im Kopf hatte. Währenddessen balancierte sie in ihrer rechten Hand ein rundes Tablet mit zwei, bis an den Rand gefüllten, Gläsern. Der Schaum meines Vanille- Smoothies drohte beinahe überzuschwappen, als sie vor unserem Sitzplatz zum Stehen kam; wohingegen die Eiswürfel des rot-braunen Softdrinks, den Nate sich bestellt hatte, das andere Glas zum Klirren brachten.

Ich spürte, wie ein anbahnendes Grinsen meine Mundwinkel zum Zucken brachte, weswegen ich meinen Blick für einige Sekunden durch den Raum schweifen ließ, anstatt sie weiterhin so abwartend zu beobachten.

Der schwarz-weiß karierte Boden, sowie die roten, ledernen Stühle und Bänke sorgten für diese klischeehafte Atmosphäre, die man erwartete, sobald man das Wort 'Diner' hörte. Maeve bettelte ihren Onkel schon seit über einem Jahr an, das altmodische Design umgestalten zu dürfen. Da er vor vielen Jahren den Laden übernommen hatte, wäre es keine Überraschung gewesen, hätte er der Bitte seiner Lieblingsnichte sofort zugesagt. Doch da dieser dafür ohnehin die Zeit fehlen würde, sah er keinen Grund über ihren Vorschlag nachzudenken.

Auf irgendeine Art und Weise hatte es dennoch etwas Fremdes an sich unsere ersten paar Stunden nach der Reise in einem American Diner zu verbringen. Ob eine Renovierung durch Maeves Hand daran etwas geändert hätte, wusste ich zwar nicht, bezweifelte ich aber.

Achtsam stellte sie beide Getränke vor uns ab und anstatt sich zum Gehen zuwenden, kniff sie ihre grünen Augen zusammen und starrte quasi durch mich hindurch.

"Und jetzt erklär mir, woher du eigentlich die Nerven hattest mich ein Jahr lang mit diesem Haufen an Soziopathen an unserer Schule allein zu lassen." Ihr zierlicher Körper fiel neben Nate auf die Sitzbank und er rückte ein Stück zur Seite, um ihr genügend Platz zu bieten.

Bei ihrem Anblick funkelten seine Augen ungewöhnlich wachsam auf. Zumindest wachsamer, als ich sie seit Tagen gesehen hatte.

"Ich werde es wieder gut machen. Versprochen", sagte ich mit einem Schmunzeln auf den Lippen und saugte an dem, aus meinem Glas ragenden, Strohhalm.

Das eisige Getränk fühlte sich belebend auf meiner Zunge an und erweckte endlich meine Sinne, aufgrund derer ich seit unserer Ankunft das Gefühl einer ungewöhnlichen Benommenheit nicht los wurde.

Maeves Augen wurden weicher, als sie meinen schlaflosen Blick sah und die Schuld, die langsam in mir hochkroch, zog sich von Sekunde zu Sekunde mehr zurück.

Ich wusste, dass sie nicht wirklich sauer auf mich war, dennoch konnte ich ihren Zorn mehr als nachvollziehen.

So sehr ich auch hasste das zuzugeben: Unsere Schule war ein architektonischer Traum. Mit der voll ausgestatteten Cafeteria, den riesigen Sportplätzen und der bis ins letzte Eck gefüllten Bibliothek. Ganz zu schweigen von den Lehrern. Ich hatte keine Ahnung, wie um Himmels Willen das Auswahlverfahren an unserer Schule aussah, wenn man dort als Lehrkraft arbeiten wollte. Was ich jedoch sagten konnte war, dass sie einen ziemlich guten Job machten.

Doch das eigentliche Problem an diesen Vorzügen war, dass so eine traumhafte Schule, unter anderem auch grauenhafte, verzogene Schüler und Schülerinnen anzog. Natürlich bestand der Großteil der Leute aus durchschnittlichen Teenagern, die einfach ihre Gelegenheit nutzten einen Abschluss an so einer großartigen Schule machen zu dürfen. Wie Maeve. Doch diese paar Ausnahmen, deren Eltern nicht wenige Male finanziell dazu beigetragen hatten die Schule immer auf dem neusten Stand zu halten, und die einem das Leben zur Hölle machen konnten ohne überhaupt einen Finger dafür zu rühren, schossen weit über das hinaus. Und unglücklicherweise war ein Teil dieser Ausnahmen im Freundeskreis von Paisley, Maeves Schwester, und somit eine ihrer wenigen Ansprechpersonen nach meiner Abreise, wiederzufinden.

"Das will ich ja wohl hoffen", brummte meine Freundin und strich sich eine gewellte Haarsträhne aus dem Gesicht, wobei sie die Gelegenheit nutzte um ein dünnes Haarband von ihrem Handgelenk zu lösen und ihren dunklen Long Bob, der an den Enden in ein goldenes Blond überging, zu einem kurzen Pferdeschwanz zusammen zu binden.

Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Nate jede von Maeves Bewegungen mitverfolgte. Ich warf ihm ein wissendes Grinsen zu, das er nach kurzer Zeit erwiderte, indem er mich finster musterte und ein leises Schnauben ausstieß. Es erweckte Neugierde in mir dabei zuzusehen, wie sehr mein Bruder die Anwesenheit von Maeve genoss, obwohl sie ihm lange vor unserer Abreise klar gemacht hatte, dass sie seine Gefühle nicht erwiderte.

"Sicher, dass du keinen Ärger bekommst, wenn du dich während der Arbeit einfach zu uns setzt?" Obwohl diese Frage eindeutig an Maeve gerichtet war, wandte mein Bruder erst seinen Blick von mir ab, als er nach seiner Cola griff, sich kurz räusperte und dann das halbe Glas mit einem Zug leer trank.

Und wie er noch in sie verschossen war.

"Ach, quatsch." Maeve machte eine abwinkende Bewegung. "Das geht klar. Mein Onkel ist da nicht so streng."

"Aber auch nur bei dir", warf ich dazwischen und erntete dadurch ein amüsiertes Grunzen von meinem Bruder. Meine Schuhspitze flog gegen sein Schienbein und er stieß ein noch lauteres Lachen aus.

Nathan war derjenige, der mein tragisches Gejammer tagtäglich auf sich nehmen musste, als mal einen Sommer lang für Mr. Warner gearbeitet hatte.
Als ich 15 war gab es eine Zeit, in der die Krankheit meiner Mom so ausgeprägt war, wie noch nie davor. Der Gedanke ihr nicht helfen zu können, zu wissen, dass sie sich im selben Gebäude wie ich befand und innerlich an unsagbaren Schmerzen litt, während sie ihren Kindern die sorglose Mutter vorspielte, hatte mich beinahe um den Verstand gebracht.

Ich hatte etwas gebraucht, das meinen Kopf beschäftigt hielt. Dass das schlechte Gewissen verdrängen würde, das rund um die Uhr meine Brust zusammengezogen hatte.

Deswegen hatte mein grober Tagesablauf nach kurzer Zeit so ausgesehen: Schule, Training mit dem Leichtathletikteam, lernen mit Maeve und bis spät abends arbeiten im Diner. Und wenn man Maeves kinderleichte Aufgaben mit meinen damaligen Leistungen verglich, wobei ich jeden Tag meine viel zu dicke Uniform durchgeschwitzt und damit gekämpft hatte, keine Schweißtropfen ins Essen tropfen zu lassen, durfte ich es mir ja wohl erlauben diesbezüglich die familiäre Beziehung zwischen ihr und ihrem Chef zu erwähnen.

Mal im Ernst. Sie durfte sich sogar ihre Arbeitszeiten aussuchen und wurde nicht zu verrückt vielen Überstunden angeheuert, wenn sie sich Mal verspätete.

Nate hingegen hatte, mit seinen damals 14 Jahren, schon von Beginn an genügend Beschäftigung gefunden, um sich nicht mit solchen Gedanken herumschlagen zu müssen. Während er uns weiß gemacht hatte jeden Tag bis zum Sonnenuntergang in der Schule zu sein, um einen zusätzlichen Förderunterricht zu besuchen, hatte er sich dem großen Bruder eines früheren Kumpels angeschlossen, der ihn ziemlich schnell zu ziemlich falschen Leuten gelockt hatte. Es hatte nur wenige Wochen gebraucht bis Dad davon Wind bekam. Doch etwas dagegen zu unternehmen war ihm nicht mal in den Sinn gekommen. Erst als Nate eines Tages, um genau zu sein dem Tag nach Moms Tod, vollkommen zusammengeschlagen und mit zerrissenen Klamotten, betrunken um 4 Uhr morgens durch unsere Haustür gestolpert war, hatte mein Bruder den Kontakt zu diesen Leuten abgebrochen.

Trotzdem waren die fehlende Reaktion und das offensichtliche Desinteresse unseres Vaters, der Erste von vielen Schritten gewesen, die dazu führten, dass sie sich voneinander distanzierten. Danach waren immer mehr Streits, Lügen und Tage voll gegenseitigem Anschweigen gefolgt. Und die ganze Zeit über war ich irgendwie zwischen ihnen gehangen. Auch wenn ich immer ein klein wenig mehr zu meinem Bruder hielt. Und müsste ich jemals die Wahl treffen mich zwischen Nate und Dad zu entscheiden, dann würde ich nicht lange damit zögern meinen Bruder zu wählen.

"Wie läuft es eigentlich daheim mit deiner Mom und Paisley?", fragte ich vorsichtig und wechselte dadurch das Thema so plötzlich, dass Maeve mich überrascht anstarrte.

Sie hatte das ganze Jahr über kein einziges Wort über ihre Familie verloren, während ich ihr fast täglich von meinen Erlebnissen und Erfahrungen in Frankreich erzählt hatte. Es fühlte sich bereits so an, als wäre sie sogar dabei gewesen, weil sie von allem Bescheid wusste.

Naja. Von fast Allem.

Deswegen war es endlich an der Zeit, dass auch sie mit der Sprache rausrückte.

"Es läuft okay."

Ihre Augen fixierten meinen Milchshake und als sie das Glas ohne mit der Wimper zu zucken, zu sich zog, hob ich nur fragend eine Augenbraue. Doch nicht wegen des Glases.

"Was soll das heißen 'Es läuft okay'? Okay ist, was du antwortest, wenn es dir dreckig geht und du nicht willst, dass irgendjemand Bescheid weiß, Maeve."

Noch bevor sie das Ende des Strohhalms an ihre Lippen führen konnte, entriss ich ihr das Getränk, schnell genug, um sie erneut zu überraschen, aber ohne auch nur einen Tropfen zu verschütten. Nun traf ihr Blick auf meinen und ich konnte klar erkennen, wie sie innerlich mit sich rang. Sie wurde nervös.

"Ich weiß echt nicht wie ich es am besten sagen soll, Allie", versicherte sie mir und versuchte sich dadurch eindeutig aus dieser Situation zu retten. Doch sie bewirkte genau das Gegenteil. Je größer sie dieses Geheimnis wirken ließ, desto mehr verlangte mein Inneres danach es zu hören.

Ich zog meine Schultern zurück und strich mir mein Haar hinter die Ohren. Auch mein Bruder wurde nach dieser andauernden Stille hellhörig und wandte nun seine Aufmerksamkeit deutlich auf Maeve.

"Ich habe echt nicht das Bedürfnisse dir weiter auf die Nerven zu gehen, indem ich immer wieder nachfrage, aber du weißt, wenn ich damit weitermache wirst du es mir früher oder später sowieso sagen."

Und das meinte ich auch genauso. Maeve tat sich unheimlich schwer dabei mir etwas zu verheimlichen.

Um noch eine Schippe drauf zu legen, neigte ich meinen Kopf ein wenig zur Seite und setzte ein zuckersüßes, aber überzeugtes Lächeln auf.

"Na gut", gab sie schlussendlich nach und seufzte ergeben. "Aber du musst wissen, dass ich keinerlei Einfluss darauf hatte. Außerdem wollte ich dir die Heimreise nicht versauen. Du hast dich so gefreut einen Neustart zu beginnen, da wollte ich die Chancen dafür nicht niedrig setzen. Ich schwöre dir, Allie. Er stand eines Tages einfach vor der Haustür und meine Mom hat mich auch nicht vorgewarnt! Er war einfach da!"

"Maeve", unterbrach ich sie und griff nach ihrer Hand, die bereits nervös mit den Fingernägeln gegen die Tischplatte klopfte. Meine Finger legten sich um ihre und ihr Kopf hob sich. Sie zog ihre Unterlippe zwischen ihre Zähne und kaute nervös darauf rum, wodurch nun auch ich begann ein kleines Gefühl von Besorgnis zu entwickeln. Sie übertrieb nicht. Es war ihr vollkommen ernst. Und obwohl sich in meinem tiefsten Inneren schon die Befürchtung auftat zu wissen, von wem sie hier sprach, versuchte ich mich zurückzuhalten und fragte trotzdem: "Von wem sprichst du? Wer war plötzlich da?"

Sie ließ sich Zeit mit ihrer Antwort. Viel zu viel Zeit. Als gäbe es tausend verschiedene Wege den Namen auszusprechen, der ihr auf der Zunge lag.

"Mein Bruder", sprach sie es endlich aus und noch im selben Moment wünschte ich mir, sie hätte es nicht getan.

Scheiße.

Ich wusste nicht, ob mein Herz in dieser Sekunde aussetzte oder begann zehn Mal schneller zu schlagen. Auf jeden Fall war es kein angenehmes Gefühl, dass sich durch meinen Oberkörper zog.

"Allie?", fragte Nate nach einer Weile und ich blickte, wie frisch erwacht, zwischen den beiden hin und her.

Jegliche Farbe schien aus meinem Gesicht zu weichen, denn Maeves Ausdruck wechselte von angespannt zu erwartungsvoll zu besorgt. Ohne einen Ton von mir zu geben nahm ich meinen Milkshake in die Hand und trank einen großen und langen Schluck davon. Als ich nicht den Anschein machte irgendetwas antworten zu wollen, setzte Maeve ihre Erklärung fort: "Miles ist wieder hier. Er wohnt jetzt in Wildwood... also.... bei Mom, Paisley und mir."

Als ich das Glas mit eisigen Fingern abstellte und tief durchatmete, landete es etwas fester als beabsichtigt auf der Tischoberfläche und verteilte somit einige Spritzer auf dem glatten Holz.

"Ist doch okay...", gab ich etwas gebrochen von mir, räusperte mich um meine Stimme wieder zu finden und log Maeve damit direkt ins Gesicht.

"Ja?"

"Natürlich."

Nate atmete kurz ein, um wohlmöglich auf meinen plötzlichen Stimmungswechsel einzugehen, da wurde Maeve von ihrem besagten Chef zum Tresen gerufen, der mit unserem Essen in den Händen darauf wartete, dass seine Nichte wieder mit ihrer Arbeit fortfuhr. Der Druck, der sich in meiner Brust angestaut hatte, löste sich langsam, als ich Maeve dabei betrachtete, wie sie sich seufzend erhob und von uns entfernte. Auch Nate bemühte sich nicht darum weiterhin auf unser Gespräch einzugehen, wofür ich ihm unglaublich dankbar war.

Eigentlich war meine Reaktion viel zu überdramatisiert gewesen. Aus den Augen von Nate und Maeve kannte ich Miles nur aus unserer Kindheit. Eine Kindheit, in der er es sich zur Aufgabe gemacht hatte meine Grundschulzeit zur Hölle werden zu lassen, indem er mir zuerst das Herz gebrochen und mich von jenem Tag an pausenlos bloßgestellt hatte. Doch nur ein Blick in meinen Kopf hätte gereicht, um meinen innerlichen Aufruhr ansatzweise nachvollziehen zu können. Denn, dass Miles ein Teil des Geheimnisses war, das ich seit unserer Reise in Frankreich mit mir rumtrug, wusste außer mir niemand.

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Ich möchte schon mal im Vorhinein sagen, dass es einige Momente geben wird wo ihr euch vielleicht denkt "Wieso denkt sie so?" "Sie übertreibt total" oder "Zwischen ihnen war doch garnichts schlimmes" oder wo ihr einfach manche Situationen oder Handlungen von Allie oder Miles nicht nachvollziehen könnt, aber falls ihr das nicht bereits verstanden habt: Es ist mehr passiert als das im Prolog vorkommt und als das im nächsten Kapitel erzählt wird.
Aber dazu komme ich erst etwas später.
Was ich nur klarstellen will ist: Ihr werdet noch deutlich mehr über die Vergangenheit der einzelnen Charaktere erfahren :D

Wenn euch das Kapitel gefallen hat, I teilt mir das doch gerne mit und erzählt mir von euren Gedanken und Spekulationen, was die Charaktere und den Plot betrifft :)

LG Ines

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