03 - Aufbäumen
[Kapitel 3] – Aufbäumen
Donnerstag, 19:23 Uhr
Das Treffen mit Jimin ist jetzt vier Tage her. Yoongi hat heute zum ersten Mal seitdem wieder Spätschicht und ist ein bisschen aufgeregt, weil er ihn wahrscheinlich gleich im Sea Life wiedersehen wird. Schließlich kommt Jimin jeden Abend dort hin, oder? Der minthaarige Junge ist sich nicht sicher, weil er ihn vorher nicht so bewusst wahrgenommen hat. Wenn Jimin da war und sich die Möglichkeit ergeben hat, hat Yoongi ihn ein bisschen beobachtet, aber sich dabei nicht genug dafür interessiert, um zu bemerken, wie häufig er wirklich da ist. Wenn der Schwarzhaarige nicht da ist, wird Yoongi zum Starbucks gehen und einen Milchshake trinken. Er hat Schokokaramell noch nicht ausprobiert. Dann kann er Jimin dort treffen. Bisher hat er sich nicht getraut, einfach so hinzugehen. Diesmal wurde er nicht eingeladen.
Yoongi hätte ihm auch gerne geschrieben, um zu fragen, ob sie sich heute sehen werden. Oder um zu fragen, was er gestern gemacht hat oder ob er Silber schöner findet als Mintgrün oder ob er sich morgens, wenn er aufwacht, glücklich fühlt. Aber als sie sich voneinander verabschiedet haben, hat Yoongi es nicht geschafft, nach Jimins Nummer zu fragen. Oder nach seinem Instagram-Account. Oder seinem Facebookprofil. Benutzte man heutzutage überhaupt noch Facebook? Yoongi wusste es nicht. Er hatte sich weder bei Instagram noch bei Facebook jemals angemeldet, aber jetzt hätte er sich dort registriert. Für Jimin. Stattdessen hatte er von dem Abend, neben seinen eigenen Erinnerungen, nur den Becher aufgehoben, der mit der Nummer von diesem Jungkook beschrieben war. Aber ihn anzuschreiben und zu fragen, ob er zufällig wüsste, wie er Jimin erreichen könne, kam ihm falsch vor, weil Jungkook sich wahrscheinlich eine ganz andere Art von Nachricht von dem minthaarigen Jungen erhoffte.
Yoongi hatte probiert nach Jimins Nummer zu fragen, wirklich, als sie sich auf der kleinen Straße zwischen Starbucks und Strand gegenüberstanden. Er hatte den Gedanken schon fest im Griff, quasi den Geschmack bereits auf den Lippen, als Jimin ihn wieder mit diesem besonderen Lächeln angesehen hat. Der darauffolgende Looping in seinem Kopf brachte Yoongi völlig durcheinander. Schließlich sagte er: „Ich mag deinen schiefen Schneidezahn."
Er hat sich sofort umgedreht und ist gegangen, ohne die Reaktion oder gar eine Antwort abzuwarten. Seine eigene Aussage war ihm so unangenehm, dass für einen kurzen Moment der desinteressierte Ausdruck in seinem Gesicht verrutscht und er beinah rot geworden ist. Rot. Das war ihm noch nie passiert. Vielleicht ist er auch deswegen heute Abend ein bisschen nervös und kann sich nicht mal durch den Anblick der vielen Fische um ihn herum beruhigen, welche seelenruhig ihre Bahnen ziehen, als sei ihre Welt noch nie erschüttert wurden. Yoongi ist sich nicht sicher, ob seine Welt durch das Auftreten von Park Jimin erschüttert wurde. Zumindest fühlt es sich an wie ein Beben.
Er ist gerade unter Wasser, deswegen ist die Lautstärke in seinem Kopf angenehm gedämmt und er kann sich fokussiert auf seine Aufregung konzentrieren. Ein paar Beleuchtungen innerhalb des großen Beckens sind ausgefallen und müssen getauscht werden. Außerdem hat Yoongi Futter dabei, um die verbleibenden Besucher ein bisschen extra zu unterhalten. Er schwimmt über den Glastunnel und winkt den Gästen zu, die ihn dabei beobachten. Ihre Gesichter sind dem Angestellten nicht bekannt. Die meisten davon sind wahrscheinlich Touristen, lediglich auf der Durchreise. Mit dem Futter lockt Yoongi viele Fische nah an die großen Glasscheiben heran und schwimmt dann selbst schnell außer Sichtweise, damit von den Besuchern besonders großartige Fotos von der Artenvielfalt des Aquariums geschossen werden können. Viele Leute wollen den Dienst des Tauchers in Anspruch nehmen und posieren daraufhin in den unterschiedlichsten Stellungen im Innenraum des Tunnels. Die Fische lassen sich von dem Blitzlichtgewitter nicht stören, sondern kümmern sich lediglich um ihre eigene Nahrungsaufnahme. Wenn Yoongi nicht arbeiten müsste, hätte er genauso viel Desinteresse wie die Fische für dieses Verhalten übrig. Er findet es seltsam. Aber gute Fotos seien gut für das Geschäft, hat ihm sein Chef erläutert. Die werden dann auf den sozialen Netzwerken mit allen Freunden und entfernten Bekannten geteilt. Bessere Werbung gebe es nicht und diese sei auch noch kostenlos.
Also spielt Yoongi eine Weile mit. Schwimmt vor die Glasscheiben, lockt die Fische mit der nächsten Ladung Futter an und verschwindet dann schnell wieder. Dann wirken die Fotos natürlicher, wurde ihm gesagt. Ihm soll es Recht sein, er findet ohnehin nicht, dass er ein besonders gutes Motiv darstellt. Jimin hingegen, getaucht in rotes Licht der untergehenden Sonne, das hätte fotografiert werden müssen. Oder Jimin, wie seine Lippen angestrahlt von der kühlen Beleuchtung des Aquariums in blauen Wellen schimmern. Auch das hätte fotografiert werden müssen. Und nicht diese gestellten Besucherfotos, an denen absolut nichts Natürlich wirkt, egal wie krampfhaft sie sich darum bemühen. Vielleicht sollte Yoongi selbst ein paar Werbebilder für das Aquarium machen. Von Jimin. Und von blauroten, vollen Lippen und einem schiefen Schneidezahn.
Schließlich unterbricht er die Bespaßung der Besucher, um seiner eigentlichen Aufgabe nachzugehen und die defekten Lichter zu reparieren. Zufrieden bemerkt Yoongi, dass die ersten Gäste bereits ihr Handy gezückt haben und dabei sind einen neuen Post auf Instagram oder sonstigen sozialen Medien zu verfassen. Sein Chef wird zufrieden sein, wenn er die neuen Bilder bemerkt. Er freut sich immer über kostenlose Werbung. Dann lächelt er so einnehmend, dass sein Mund ungefähr 80% seines Gesichtes ausmacht. In den Momenten versteht Yoongi, dass er von den meisten Angestellten J-Hope genannt wird. Für ihn wird er aber wohl immer Mr. Jung bleiben. Mr. Jung verabschiedet sich von Yoongi, wenn er das Aquarium verlässt.
Der Taucher muss sich jetzt ein wenig beeilen. Er hat getrödelt und möchte Jimin nicht verpassen, sollte er tatsächlich heute Abend hier sein. In dem großen Becken ist er weit entfernt von den Leuchtquallen. Dabei weiß Yoongi gar nicht, ob Jimin jeden Abend an dem gleichen Platz sitzt.
Die Lampen sind schnell gewechselt und er fühlt sich fast ein bisschen wehmütig, als er das Becken wieder verlassen muss. Die Lautstärke seiner Gedanken nimmt in dem Moment wieder zu, als er mit dem Kopf die Wasseroberfläche durchbricht und Yoongi seufzt. Er müsste sich schon lange daran gewöhnt haben, aber im allerersten Moment fühlt es sich immer wieder aufs Neue befremdlich an. Also würden die Gedanken gar nicht alle ihm selbst gehören, eine fremde Achterbahn in seinem Kopf fahren. Im zweiten Moment wird es dann besser. Lautstark, aber immerhin vertraut.
Das Umziehen geht flott. Yoongi verzichtet darauf, jetzt noch in seine Arbeitsklamotten zu steigen, sondern schlüpft sofort in seine Freizeitkleidung. Er hat sich heute Mittag fünfmal umgezogen, bevor er an die Arbeit gegangen ist, weil er sich gefragt hat, was Jimin an ihm gefallen könnte. Schlussendlich hat er sich für sein weißes Rolling Stones Shirt und eine schwarze Jeans entschieden. Nur eine Antwort auf seine Frage, die hat er nicht gefunden.
„Schließt du heute ab?", fragt ihn eine Kollegin, die in der Cafeteria arbeitet und schon ihre Handtasche aufbruchsbereit in der Hand hält. Es ist kurz nach neun Uhr. Yoongi war wirklich lange unter Wasser.
„Klar", antwortet er kurzangebunden. Hoffentlich wurde Jimin nicht von einem der anderen Angestellten bereits nach draußen gebracht, weil die offiziellen Öffnungszeiten vorbei sein.
„Super, vielen Dank. Ich bin dann weg. Bis morgen", erwidert seine Kollegin.
Yoongi hebt die Hand zum Gruß und beugt sich nach unten, um in seine Sneaker zu schlüpfen.
„Achso und dein Freund wartet vor dem Aquarium mit den Quallen auf dich. Ich hab ihn drauf aufmerksam gemacht, dass wir jetzt schließen, aber er meinte, dass er auf dich wartet. Hab ihn also drin gelassen", dreht sie sich kurz vor der Tür noch einmal zu dem minthaarigen Jungen um.
„Okay", sagt Yoongi, nur für den winzigen Hauch einer Sekunde irritiert, dann plötzlich aufgeregt. Sein Freund vor den Leuchtquallen. Jimin ist also tatsächlich hier. Und er muss ihn gesehen haben, als er im großen Becken tauchen war, sonst wüsste er nicht, dass Yoongi heute Abend arbeitet. Vielleicht hätte er doch ein anderes T-Shirt anziehen sollen. Wie gut ist eigentlich die Qualität seiner Handykamera? Heute wird er nach seiner Handynummer fragen. Tell me ist Yoongis Lieblingslied von den Rolling Stones. Nach der Arbeit hat noch nie jemand auf ihn gewartet. Können blaue Wellen auf vollen Lippen einfangen werden? Vielleicht sollten sie zusammen tauchen gehen. Damit die Loopings in seinem Kopf aufhören. Vielleicht könnte Jimin auch wieder etwas für ihn singen.
Er ist so abgelenkt, dass er weder bemerkt, wie seine Kollegin die Umkleidekabine endgültig verlässt, noch, dass er seine Schuhe bereits vollständig angezogen hat. Okay, Konzentration. Oder zumindest der Versuch, sich zu konzentrieren. Yoongi greift nach seinem Schlüssel, Handy und Portemonnaie, steckt alles in die Hosentaschen. Heute wird er nach seiner Handynummer fragen. Unbedingt. Dann beeilt er sich, damit der Straßenmusiker nicht noch länger auf ihn warten muss.
Es ist fast wie ein Déjà-vu, als er auf den schwarzhaarigen Jungen zugeht, der weichgezeichnet vor dem Aquarium mit den Leuchtquallen sitzt und in seine unsauberen Notizen vertieft ist, so konzentriert, dass er den Neuankömmling gar nicht bemerkt. Yoongi hält an, um ihn noch einen Moment lang ungestört zu betrachten. Es ist ein friedvolles Bild. Und Yoongi wird plötzlich klar, dass Park Jimin keine Welten erschüttert. Er biegt sie wieder gerade.
„Hey", sagt er letztendlich, ganz leise und vorsichtig, beißt sich fest auf die Lippe, damit ihm nicht wieder ein unangemessener Kommentar entweicht. Beinah hätte er Jimin gefragt, ob er ihn fotografieren darf. Dabei hatte Yoongi wirklich überhaupt gar keine Ahnung vom Fotografieren.
Jimin blickt sofort auf und lächelt so offenherzig und irgendwie erleichtert, als hätte er schon viel länger auf ihn gewartet, als nur die restlichen paar Minuten. Als er beginnt zu sprechen, ist seine Stimme so sanft und zäh wie Honig: „Hallo Yoongi. Ich hoffe es ist okay, dass ich hier bin und dich von deinem Feierabend abhalte. Ich war noch nicht fertig mit Lernen, als deine Kollegin mir gesagt hat, dass ich die offiziellen Öffnungszeiten schon wieder verpasst hab. Aber ich hab gesehen, dass du heute arbeitest und deswegen hab ich gesagt, dass ich ein Freund von dir bin und auf dich warte. Hab kurz überlegt, ob ich auch so ein Fisch-Selfie von mir machen soll, als ich erkannt hab, dass du der Taucher bist, hab mich dann aber doch dagegen entschieden. Du sahst irgendwie nicht so aus, als würde dir das richtig Spaß machen und ich wollte dich nicht noch länger quälen. Das Aquarium ist übrigens echt toll, wenn wirklich niemand mehr hier ist. Noch toller als ohnehin schon. Ich liebe die Atmosphäre, die dunklen, stillen Gänge, die ganz unbewegt irgendwie doch durch das Wasser bewegt werden. Es ist auch ein bisschen gruselig, aber trotzdem wunderschön." Er sieht aus, als würde er eigentlich noch weiterreden wollen, stockt aber kurz, scheint zu überlegen und verstummt dann endgültig. Yoongi nutzt die Chance, um näher auf ihn zuzugehen und sich auf den Platz neben ihn sinken zu lassen. Die Bank ist groß genug, dass er mit einigem Abstand zu Jimin Platz nehmen kann und er lässt sich Zeit mit seiner Antwort. Der Straßenmusiker betrachtet ihn neugierig, aber wartet geduldig. Seine Blicke sind Yoongi nicht unangenehm. Sie drängen ihn nicht.
„Bist du jeden Abend hier?", fragt der Angestellte nach einigen Momenten der Stille.
„Nein, nicht jeden, aber oft genug, dass sich die Monatskarte auch lohnt. Ich komm ja meistens zum Lernen her, gesehen hab ich hier schon alles doppelt und dreifach, ach was, wahrscheinlich schon x-fach. Aber manchmal ist an der Universität nicht so viel zu tun und die Dozenten verschonen uns mit endlosen Semesteraufgaben, dann bin ich nicht täglich hier. Im Moment ist es eigentlich auch relativ entspannt, zum Glück", grinst Jimin. Dann macht er eine kurze Pause und das ist ungewöhnlich. Normalerweise braucht der schwarzhaarige Junge keine Luft, um seine Sätze aneinanderzureihen. „Diese Woche war ich trotzdem jeden Tag hier."
Und irgendwas schwingt in diesen Worten mit. Irgendwas, dass Yoongi gerade noch nicht greifen kann, aber das ihm bedeutsam vorkommt. Vielleicht liegt das an der vorherigen Pause, die eigentlich gar nicht nötig gewesen wäre, aber trotzdem gemacht wurde. Vielleicht liegt es auch an dem auffordernden Blick, mit dem Jimin ihn mal wieder betrachtet, während er geduldig auf eine Reaktion wartet. Als würde er erwarten, dass Yoongi begreift, was er eigentlich damit sagen möchte.
„Soll ich dir etwas zeigen, was du hier noch nicht gesehen hast?", antwortet der Minthaarige. Es ist nicht die Antwort, die Jimin sich erhofft hat. Eigentlich ist es gar keine Antwort. Jimin grinst und nickt trotzdem, weiß sofort, worauf sein Gegenüber anspielt.
„Nimmst du mich mit hinter die Kulissen? Geht das so einfach? Ist das erlaubt? Ich will nicht, dass du Ärger wegen mir bekommst. Immerhin arbeitest du schon wieder länger, wegen mir. Aber wenn das geht, dann wow, sehr gerne."
„Musst du heute nicht arbeiten?", fragt Yoongi.
„Nein", erwidert der Schwarzhaarige, „ich muss nie arbeiten, ich will nur. Ich liebe es zu singen. Aber ich werde es auch lieben hinter die Kulissen zu sehen. Wenn ich Glück hab, sehe ich dabei ja auch ein bisschen mehr als nur deinen Arbeitsplatz."
Und wieder ist da diese unnötige Pause zwischen den Worten und der bedeutungsschwere Blick, den Yoongi nicht ganz erfassen, nicht ganz begreifen kann. Will Jimin ihm etwas sagen, ohne etwas zu sagen? Wenn ja, warum sagt er das dann nicht einfach? Bei diesem Gedanken ermahnt sich Yoongi selbst innerlich lautstark. Er weiß am besten, dass es eben nicht einfach ist, manche Dinge einfach zu sagen. Manchmal ist das am schwersten.
Und weil ihm die passende Erwiderung darauf nicht einfällt, steht er auf, wartet kurz, dass Jimin seine Notizen in dem schwarzen Wellenrucksack verstaut und bereit ist ihm zu folgen.
Yoongi muss nicht überlegen, er weiß instinktiv, welcher Teil des Aquariums Jimin am Besten gefallen wird. Also führt er ihn sofort in die Aufzuchtstation. Die Wasserschildkröten sind vor einigen Tagen geschlüpft und daher noch zu klein, um im Becken mit ihren großen Artgenossen zu schwimmen. Sie werden hinter den Tribünen großgezogen, zumindest ein bisschen.
Jimins Augen leuchten auf, als er sich in dem Raum mit den vielen kleinen und großen Aquarien umsieht. Ein paar davon stehen immer leer, so auch heute, aber in den meisten sind ganz winzige, bunte Fische zu sehen. Während Yoongi die Tür hinter ihnen schließt, hat der andere Junge die kleinen Schildkröten schon ausfindig gemacht und ist vorsichtig davor stehengeblieben. Er beginnt gleich darauf zu sprechen: „Oh Gott, sind die niedlich und noch so winzig. Wie alt sind die? Sie sehen so aus, als wären sie gerade erst geschlüpft. Ich liebe Wasserschildkröten, sie sind unglaublich anmutig, oder? An Land natürlich nicht so, aber wenn sie in ihrem natürlichen Element sind, dann schon. Vielleicht mag ich sie deswegen so gerne. Wenn sie an Land sind, werden sie von den anderen Tierarten sicher unterschätzt, weil sie sich so unbedarft und ungeschickt fortbewegen. Und dann sind sie im Wasser – boom. Dann können alle anderen nur noch staunen und sich darüber ärgern, dass sie die Schildkröten unterschätzt haben. Darf man die Kleinen anfassen?"
Yoongi hat den Redeschwall dazu genutzt, um zu Jimin ans Aquarium zu treten. Er entfernt gerade den Glasdeckel und legt ihn behutsam zur Seite, bevor er ganz vorsichtig nach einem der Jungtiere greift.
„Du musst deine Hände schon öffnen", sagt er zu Jimin, der seine bisherigen Bewegungen aufmerksam mitverfolgt hat, und jetzt schnell eine kleine Kuhle mit seinen offenen Handflächen formt.
„Wir haben sie vor zwei Tagen das erste Mal gefüttert. Schildkröten brauchen nach dem Schlüpfen etwas Zeit, bevor sie feste Nahrung zu sich nehmen können. Sie sind jetzt ungefähr zwei Wochen alt", ergänzt Yoongi, während er Jimin dabei beobachtet, wie er nur noch Augen für das kleine Lebewesen auf seiner Hand ist. Diesmal ist er es, dem die Worte fehlen.
„Ich mag Kaiserpfauenfische", redet der Angestellte weiter.
Der Schwarzhaarige lacht ihn fröhlich an: „Ich hab es mir fast gedacht. Wegen deiner Haarfarbe."
Sie unterhalten sich noch eine ganze Weile über die verschiedenen Jungtiere, bis es bereits viel zu spät geworden ist und Yoongi immer öfter blinzeln muss, weil der Tag anstrengend war und er langsam müde wird.
„Lass uns heimgehen", sagt Jimin sanft zu ihm, als er das nächste Gähnen nicht mehr unterdrücken kann. „Vielen Dank, dass du mir das gezeigt hast. Es ist unglaublich." Auf dem Weg nach draußen schläft das Gespräch zwischen den beiden Jungen ein. Yoongi muss sich sehr darauf konzentrieren, dass wirklich alle Türen abgeschlossen sind, als er das Gebäude verlässt, denn Jimins Gegenwart und sein Lächeln machen Konzentration zu einer ganz anderen Art von Herausforderung. Gleichzeitig hält er, wie an einem Anker, an dem Gedanken fest, dass er heute ganz bestimmt nach seiner Handynummer fragen wird. Aber Yoongi will den Schwarzhaarigen Jungen auch unbedingt fotografieren. Seinen Blick, als er die Schildkrötenbabys auf seinen Handflächen balanciert hat. So sanft, behutsam, weich. Yoongi fragt sich, ob Jimin ihn auf die gleiche Art berühren würde. Es müssen alle Türen abgeschlossen sein und die Alarmanlage aktiviert werden. Du musst nach seiner Handynummer fragen, ermahnt sich Yoongi innerlich streng. Er hätte so gerne ein Foto von den blauroten Lippen.
Die frische Luft kühlt seine hitzigen Gedankengänge nur bedingt ab und Yoongi ist noch dabei tief durchzuatmen und sich wirklich festzuhalten, damit sein Kopf nicht den nächsten Looping dreht, da setzt Jimin schon wieder zum Sprechen an:
„Gibst du mir deine Handynummer? Ich hab leider gerade keinen Kaffeebecher zur Hand, sonst hätte ich dir meine auch aufgeschrieben und mitgegeben, aber ja. Jetzt muss es halt auf die altmodische Art und Weise gehen. Ich hoffe, dass ist auch okay für dich." Sein Schmunzeln verrät, dass er seine Nummer wahrscheinlich niemals auf einem Kaffeebecher schreiben würde. Der schniefe Schneidezahn, der sich bei jedem breiten Grinsen ein bisschen in die volle Unterlippe gräbt, wird Yoongis Untergang sein.
Sein Blick klebt noch ganz fest daran, als er sich kurz räuspert und dann automatisiert damit beginnt, seine Handynummer aufzusagen. Der Schwarzhaarige ist schnell darin, sein Handy zu zücken, um die diktierten Zahlen einzutippen. Kurz darauf spürt Yoongi sein eigenes Telefon in der Hosentasche vibrieren und Jimin grinst ihn zufrieden an.
„Hab dich grade angeklingelt, damit du meine Nummer auch hast. Geht schneller, als wenn ich sie dir auch noch diktieren muss."
„Danke", antwortet Yoongi genauso automatisch und zwingt sich jetzt dazu, auf seinen eigenen Bildschirm zu gucken und nicht mehr auf diesen verdammten Zahn. Als er die fremde Nummer einspeichert, entsteht wiederum ein kurzer Moment der Stille zwischen ihnen.
„Hast du ihm eigentlich geschrieben?", fragt Jimin dann, aber sein Blick bleibt gesenkt auf sein Handy, als wäre er immer noch unheimlich beschäftigt damit, Yoongis Nummer darin einzuspeichern.
„Wem?", die Antwort erfolgt stockend, weil seine Gedanken immer noch Loopings drehen und er gerade wirklich abgelenkt ist.
„Na Jungkook natürlich. Oder bekommst du öfter Kaffeebecher mit irgendwelchen Handynummern darauf zugesteckt?"
„Nein", antwortet Yoongi schon viel weniger verzögert. Zum Glück ist dieser Zahn endlich verschwunden. Also wenn man von Glück reden kann, denn Jimins Gesichtsausdruck ist ein bisschen ernster als sonst, verschlossener.
„Gut. Also das ist gut. Beides. Ich freu mich..., dass du ihm nicht geschrieben hast." Eigentlich würde Jimin gerne noch fragen, warum Yoongi ihm nicht geschrieben hat. Er weiß schließlich, was für eine Wirkung Jungkook normalerweise auf die Menschen in seiner Umgebung hat. Wahrscheinlich ist es dem Hasenzahn noch nicht oft so ergangen, dass er seine Handynummer Jemandem gegeben und daraufhin keine Reaktion erhalten hat. Seine dunkelbraunen Haare, die ihm locker in die Stirn fallen und dabei kaum die strahlenden, riesigen Augen verdecken, sein unbedarftes Grinsen, die kantigen Gesichtszüge und sein (wirklich nicht zu verachtender) muskulöser Körperbau sorgen normalerweise dafür, dass die Kundschaft, egal ob männlich oder weiblich, in verlegenes Kichern ausbricht, wenn er sie keck anzwinkert und ein bisschen mit ihnen flirtet. Vielleicht ist Yoongi einfach nicht empfänglich für Jungkooks bezirzenden Charme. Vielleicht ist Yoongi einfach nicht empfänglich für männlichen Charme. Das macht die folgende Frage noch schwieriger, also beißt sich Jimin kurz nachdenklich auf die Unterlippe. Er hat keine Ahnung, was er dem Minthaarigen damit antut. Dann holt er tief Luft und stellt die Frage schließlich doch: „Musst du Sonntagmorgen arbeiten?"
„Nein", reagiert Yoongi diesmal sofort.
Jimin zögert daraufhin, als müsste er vielleicht nicht seine Gedanken zusammenkratzen, aber zumindest noch ein bisschen Mut.
„Möchtest du dann Samstagabend mit mir ausgehen? Also nicht nur mit mir, mein Mitbewohner ist auch dabei, der, der so seltsam ist. Vielleicht erinnerst du dich daran, dass ich dir das erzählt hab, als wir am Strand saßen. Jedenfalls hat er mich überredet, dass wir am Samstagabend tanzen gehen."
Yoongi verzieht das Gesicht ganz intuitiv. Er hasst Tanzen. Er hasst die noch lautere Menschenmasse und den ohrenbetäubenden Bass. In seinem Kopf ist es laut genug, ohne dass er es von außen noch bekräftigen muss. Jimin lässt ihm allerdings gar nicht die Chance, nicht nur nonverbal auf seinen Vorschlag zu reagieren, sondern spricht einfach weiter: „Das ist so ein Silent Disco-Ding. Ich war selbst noch nie auf so ner Party, aber ich hab gehört, dass es ganz lustig sein soll. Weil man ja nichts hört, außer der eigenen Musik, die man über die Kopfhörer selbst auswählen kann. Und alle tanzen verschieden und niemand kann beurteilen, ob du im Takt bist oder ob du dich richtig bewegst, weil jeder sich anders bewegt, weil jeder was anderes hört und ja. Ich stells mir einfach ein bisschen ulkig vor, wenn alle zu eigener Musik tanzen. Ulkig, aber auch befreiend, falls du verstehst, was ich damit sagen will. Also sag bitte nicht einfach nein, sondern denk drüber nach. Sind ja noch zwei Tage, bis du dich entschieden haben musst. Und ich würde mich echt wahnsinnig darüber freuen, wenn du mitkommen würdest. Mein Mitbewohner im Übrigen auch. Ich hab ihm erzählt, dass deine Haare mintgrün sind. Er war direkt hellauf begeistert und will dich unbedingt kennenlernen, um mit dir über... Ach Mist, ich hab es schon wieder vergessen. Über irgendwas Mintfarbenes zu sprechen. Also denkst du darüber nach, ja? Bitte? Du kannst mir ja jetzt Schreiben, also melde dich, wenn du es dir überlegt hast."
Yoongi kommt nicht mehr dazu etwas zu sagen, denn Jimin umarmt ihm zum Abschied. Zieht ihn nur für die Länge eines Wimpernschlags an seinen Körper, sanft, aber bestimmt, und ist kurz darauf verschwunden.
Es ist das erste Mal, dass nicht nur Yoongis Gedanken einen Looping schlagen, sondern auch sein Herz.
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