Kapitel 2 - Klein und pelzig
„Also", beginnt River und liest noch einmal konzentriert den Text. Nachdem wir uns über die Lasagne hergemacht haben, die meine Mutter uns im Backofen hinterlassen hat, hat sie mich gepackt und wir sind gemeinsam rüber zum Haus ihrer Eltern. Oder besser gesagt: in deren Garten. Hinter einer Wand aus Tannen haben wir uns vor Jahren eine kleine Hütte gebastelt, die mehr an ein Indianerzelt erinnert als an das ebenerdige Baumhaus, das es eigentlich sein soll. Unsere Väter wollten unser Projekt einmal begradigen, haben aber nie Zeit dafür gefunden. Also ist dieses eigenartige Konstrukt geblieben und wir haben den Namen angepasst: Hutti. Ein Mix aus Hütte und Tipi. Es ist bescheuert, ich weiß, aber damals fanden wir es cool.
Wir sitzen also in Hutti auf dem Boden, unter uns die super bequemen Sitzkissen, die Rivers Mutter uns vor einigen Wochen mitgebracht hat und machen uns bereit, uns im Zaubern zu versuchen. Zwischen uns steht eine große Schüssel Wasser. Da über uns gerade ein Sommergewitter tobt, ist es nicht möglich, draußen ein Feuer zu entzünden – sehr zu Rivers Missfallen. Wasser ist also ihre Zweitwahl. Unruhig nippe ich an meinem O-Saft. Vor jedem neuen Versuch werde ich ein wenig nervös. Ich kann mir nicht erklären warum das so ist. Ich spüre einfach etwas, das diese Unruhe in mir verursacht. Was genau das ist, kann ich nicht sagen, es ist einfach da. Irgendwie.
„Okay, ich brauche deine Hände."
Ich stelle mein Glas beiseite und lege meine Hände in ihre ausgestreckten. „Und jetzt schließ die Augen. Stell dir vor, dass das Wasser lebt."
Ich tue ihr den Gefallen. Gut, dass uns keiner sehen kann. Ich kichere leicht, werde dann aber vom Ernst der Situation erfasst. Meine beste Freundin hat die gruselige Eigenschaft, eine ernste Atmosphäre herbeizuführen, wenn ihr danach ist. Ich atme tief ein, beruhige mich und stelle mir vor, dass das Wasser lebt. Doch so sehr ich es auch versuche, es will nicht recht gelingen. Meine Gedanken schweifen ab. Vorhin habe ich auf meinem Smartphone einen Bericht gelesen, über richtig niedlichen Tiernachwuchs im Zoo. Das kleine flauschige Ding sah so unheimlich niedlich aus.
River beginnt, in einem eigenartigen Singsang die überirdisch klingenden Worte aus dem Buch vorzutragen. Ich muss ihr nachher unbedingt das Bild zeigen. Sie wird das Tier auch richtig niedlich finden.
Ruckartig werde ich aus meinen Gedanken gerissen, als plötzlich ein Orkan an Geräuschen aufbraust. Ich habe das schreckliche Gefühl, dass sich unsichtbare Fesseln um mich schließen und mich in eine gebeugte Haltung zwingen. Scheiße. Mein Herz beginnt zu rasen. Panisch versuche ich meine Augen zu öffnen, aber es gelingt mir nicht. Ich schnappe nach Luft, doch alles, was passiert, ist dass ich einen jämmerlichen Laut höre.
So schnell, wie der Spuk gekommen ist, ist er auch wieder vorbei. Gespenstische Ruhe erfüllt den Raum. Ich will gerade erleichtert ausatmen, da überrollt mich ein unvorstellbarer Schmerz. Das letzte, was ich höre, ist ein ängstliches Wimmern. Dann wird alles schwarz.
„Lia? Scheiße, Lia!"
Rivers Stimme klingt entsetzlich laut. Kann sie nicht leiser sein? Ich versuche mir die Ohren zuzuhalten, doch irgendwie will es mir nicht so recht gelingen.
„Scheiße, scheiße, scheiße!"
Warum dreht sie denn so am Rad? Sie klingt, als würde sie gleich losheulen.
„Lia? Bist du wach?"
Verärgert will ich ihr sagen, dass ich nicht taub bin. Doch alles, was ertönt, ist ein Knurren, das nach einem spielenden Hund im Stimmbruch klingt. Huch? Was ist denn das? Ich muss wohl etwas trinken.
Mühsam versuche ich mich aufzurappeln. Dummerweise geben meine Arme nach und ich knalle hin. Au, das tut weh. Langsam öffne ich meine Augen. Ich liege auf dem Boden, River kniet neben mir. Sie ist kalkweiß. Ich will sie fragen, was passiert ist, doch nur ein leises Winseln erklingt.
„Ruhig, Lia. Ich bin mir sicher, wir kriegen das wieder hin. Der Zauber müsste bald wieder nachlassen. Ich verstehe das nicht, wir wollten doch nur Wasser verformen." Nahezu panisch beginnt sie, vor und zurück zu wippen.
Nur Wasser verformen. Ja, und deshalb bin ich umgekippt. Die Lady hat sie manchmal nicht mehr alle. Das war das letzte Mal, dass ich an so einem Spuk teilgenommen habe. Erst der Vorhang, jetzt mein Schädel. Was kommt als nächstes? Sprengen wir ein Haus in die Luft oder setzen Hutti in Brand?
„Lia, bitte nicht durchdrehen, okay?"
Ich drehe doch gar nicht durch, verdammt! Sie ist diejenige, die sich aufführt, als wäre ich plötzlich ein totaler Freak. Vorsichtshalber versuche ich mein Gesicht abzutasten. Autsch, das war mein Ohr. Seit wann bin ich denn so grobmotorisch, dass ich mir ins Ohr haue, wenn ich mir an die Wange fassen will? Ich versuche es noch einmal. Und zack! Wieder voll ins Ohr. So langsam wird mir das zu bunt. Dann fasse ich mir eben an die andere Wange. Au! Grrr, warum hab ich mir denn jetzt auf die Nase geschlagen? Und was verflucht nochmal war der weiße Schatten, der da eben durch mein Blickfeld gehuscht ist?!
Ein leises Wimmern ertönt. Herrje, da leidet ein Tier. Warum sieht River mich immer noch so an, als läge ich mit Pest und Cholera im Sterben? Sind die Tränen in ihren Augen etwa echt? Entsetzt richte ich mich auf. Huch, warum ist sie denn auf einmal so viel größer als ich? Ist etwa dieses alberne Ritual daran schul... ES GIBT KEINE MAGIE!!!
Das Wimmern wird nahezu unerträglich laut.
„Lia, beruhige dich, bitte. Warte, ich nehme dich mit in mein Zimmer, dann kannst du es dir selbst ansehen."
Ansehen?! Was zur Hölle ist mit mir passiert? Es sollte doch nur Wasser geformt werden. Stattdessen kann ich nicht mehr sprechen, höre andauernd so ein armes leidendes Tier, das River anscheinend nicht hören kann und bin anscheinend geschrumpft. Wie sonst sollte sie so riesig geworden sein? Oder war sie es, die durch dieses alberne Experiment gewachsen ist? Denn so viel ist mir mittlerweile klar: Irgendetwas ist passiert. Sonst würde ich auf keinen Fall in ihre Hände passen.
Behutsam, als könne ich jeden Moment zerbrechen, trägt sie mich auf ihrem Arm (!!!) durch den Garten und hinein ins Haus. Rivers Eltern bewohnen die untere Etage, sie hat oben ihr Reich. Vor der Badezimmertür hält sie inne. „Du solltest wissen, du hast dich ein wenig ... verändert?"
Da meine Sprachfähigkeiten momentan wohl nicht mehr vorhanden sind, bedenke ich sie mit einem fragenden Blick.
„Nun ja", beginnt sie zögerlich und druckst ein wenig herum. „Du bist kleiner. Viel kleiner. Und irgendwie... pelzig. Aber auch super niedlich", schiebt sie hastig hinterher, als ich panisch meine Augen aufreiße. Sie hat mich doch nicht ernsthaft verwandelt?
Ich fühle mich am Rande einer Panikattacke, da öffnet sie endlich die Badezimmertür und trägt mich zum Spiegel. Mit ihr ist zum Glück alles normal. Abgesehen davon, dass ihre Schminke verlaufen ist und der Kajal Tränenspuren auf ihren unnatürlich blassen Wangen hinterlassen hat. Ich hingegen... Nun, klein und pelzig trifft es wirklich ausgezeichnet. Jetzt dämmert mir auch, warum dieses Tier immer dann gewimmert hat, wenn ich etwas sagen wollte. Jetzt möchte ich auch etwas sagen. Und zwar: Ich bringe denjenigen um, der dir diese Teufelswerke verkauft hat. Meine neue Gestalt entscheidet sich für die Kurzvariante: Ein tiefes und richtig böse klingendes Knurren. Oder besser gesagt ist es das, was ich gerne hören würde. Leider klinge ich genau wie Klein-Simba, der sich das erste Mal am Brüllen versucht.
Rivers Mundwinkel zucken leicht nach oben. „Du bist ja schon süß. Aber was machen wir jetzt?"
Ratlos starre ich mein kleines weiches flauschiges Ich im Spiegel an. Ich sehe genauso aus, wie das kleine Babytier, das ich auf dem Bild gesehen habe. Ein Mini-Polarfuchs mit eisblauen Augen und nachtschwarzem Fell. Oder sollte ich besser sagen: dunkelblau? Aber habe ich gerade eben nicht gelesen, dass das Sommerfell braun-beige ist? Warum bin ich dann blauschwarz? Und, viel wichtiger: Wann werde ich wieder ich selbst?
Eine Woche später...
Das unaufhörliche Tippgeräusch geht mir langsam auf die Nerven. Kann diese unsympathische Frau nicht einfach ihren beknackten Bleistift ruhig in der Hand halten? Ich dachte, sie wäre eine professionelle Psychologin. Macht River sie etwa nervös? Das kann ich beim besten Willen nicht verstehen. Meine beste Freundin hat sich heute sogar dazu herabgelassen, halbwegs unauffällige Kleidung zu tragen. Das bedeutet bei ihr: Faltenrock, Korsett und Bluse. Natürlich alles in schwarz oder sehr dunklen Tönen. Auf ihre Handschuhe verzichtet sie, seit... nun ja.
Beruhigend streicht River mir übers Fell. Ihre Hand ist so groß, dass sie mich fast erdrückt. „Entschuldige, Lia", murmelt sie und krault mich kurz hinter den Ohren. Man, tut das gut. Das ist ein richtig abgefahrenes Gefühl.
„Du nennst sie Lia? Wie deine Freundin?" Ich wende meinen Kopf gerade noch rechtzeitig um zu sehen, dass der Blick der Frau mitleidig auf River gerichtet ist. „Möchtest du mir die Geschichte erzählen?"
Ich spüre, wie River sich unter mir verspannt. Ich liege in ihren Armen, während sie in einem weißen Korbsessel sitzt. Direkt gegenüber der Psychologin, die ein Klemmbrett auf ihrem Schoß liegen hat, auf das sie noch immer unablässig mit der Radiergummiseite ihres Bleistifts tippt. Grr, macht mich dieses Geräusch verrückt.
„Ich wüsste nicht, was es da zu erzählen gibt."
„Deine Freundin ist verschwunden. Deine Eltern haben mir gesagt, wie nahe ihr euch standet. Hast du dir deshalb den Hund geholt und ihn Lia getauft? Vermisst du deine Freundin so sehr?"
Hund? Böse funkle ich die Frau an. Hat die einen an der Meise? Wir haben gegooglet und herausgefunden, dass ich ein Baby-Polarfuchs sein muss. Das einzig Ungewöhnliche an mir sind meine Farben. Ich habe dunkelblaues Fell und eisblaue Augen. Ich finde sie schön, auch wenn ich mich nach meiner eigentlichen Gestalt sehne. Wenigstens wachse ich. Kaum vorstellbar, wenn ich ewig so winzig bleiben würde wie ein Chihuahua.
„Sie ist ein Fuchs", korrigiert River die alte Schachtel missbilligend. Richtig, Hexe, gib's ihr. Verwandle sie in einen Frosch! Apropos Verwandlung. In ihrem tollen Buch steht natürlich nicht, wie man den Zauber wieder rückgängig macht. Eigentlich sollte ja auch nur Wasser geformt werden und nicht mein Körper. Um der ganzen Sache wenigstens etwas Positives abzugewinnen: River hatte die ganze Zeit über recht. Magie existiert. Dank meiner jetzigen Form bleibt mir nichts anderes übrig als das anzuerkennen.
„River, es ist wirklich besser, wenn du mit mir darüber redest. Du solltest nicht alles mit dir alleine ausfechten. Du trägst keine Schuld an ihrem Verschwinden."
„Keine Schuld?", braust sie sofort auf. „Natürlich! Hätte ich das nicht gewollt, wäre das alles nicht passiert. Haben Sie ihre Eltern gesehen? Sie sind am Boden zerstört! Sie vermissen ihre Tochter über alles!"
Ein schmerzverzerrtes Wimmern entfährt mir, als mein Herz sich krampfhaft zusammenzieht. Ich habe gesehen, wie meine Mutter zusammengebrochen ist. Auch meinem Vater geht es nicht besser. Der Polizist, der ihnen gesagt hat, dass es keine Spur von mir gibt, hat ihnen sämtliche Hoffnung genommen. Und noch immer tappen die Ermittler im Dunkeln. Sie glauben an eine Entführung, konnten jedoch noch keine Spuren finden. River hat ihnen gesagt, dass ich etwas bei mir zuhause vergessen habe und es nur holen wollte, aber nie mehr zurückgekehrt bin. Gestern haben wir versucht, ihnen zu sagen, dass ich noch da bin. River hat mich zu ihnen gebracht und ihnen gestanden, dass ich der Fuchs bin. Doch davon haben sie nichts hören wollen. Stattdessen haben sie meine beste Freundin in ihre Arme genommen und sie getröstet. Ihr Vater hat sogar durchgesetzt, dass sie mich ab morgen mit in die Schule nehmen darf, da sie sich nicht mehr von mir trennen mag. Solange ich den Unterricht nicht störe, werde ich geduldet.
„Was hast du gewollt, River?", fragt die Frau ungewohnt sanft.
„Na, unbedingt diesen Zaubertrick lernen. Ich mag doch das Zaubern so."
„Aber das macht dich doch nicht schuldig. Warum glaubst du das denn?"
„Hätte ich mein Buch nicht bei ihr vergessen, hätte sie es nicht holen müssen", kommt es trotzig von ihr.
Beruhigend lecke ich über ihre Hand. Das ist echt ungewohnt, aber mein tierischer Instinkt veranlasst diese Handlung einfach. Mittlerweile habe ich gelernt, mich nicht mehr dagegen zu wehren. Das ist, als würden meine menschlichen Impulse in tierische Verhaltensweisen umgemünzt werden.
„Mit was fütterst du deinen Fuchs?"
Was soll denn bitte diese alberne Frage? Wenn es nach Rivers Eltern ginge, müsste ich den ganzen Tag dieses stinkende Hundefutter essen. Ein Glück, dass meine Freundin ihr Essen mit mir teilt. Schon mal Chappi probiert? Absolut nicht mein Fall. Auch Pedigree und Whiskas schmecken scheußlich. Glaubt mir, ich habe sie schon durch.
„Lia isst natürlich mit mir."
Ja, dafür liebe ich meine Hexe. Auch wenn ich sie immer noch dafür verfluche, mich jemals zu dieser bescheuerten Aktion breitgeschlagen zu haben.
„Denkst du nicht, dass Lia glücklicher wäre, wenn sie als Tier angemessen leben kann?"
Wie bitte? Böse knurre ich die Frau an. Ihre Augenbrauen wandern nach oben. „Dein Fuchs scheint deine Stimmungen zu spüren", bemerkt sie knapp und notiert sich etwas.
„Ich habe genug von Ihren lächerlichen Fragen", knurrt River und steht auf. Begeistert schlecke ich ihr über die Hand. Das ist eine hervorragende Idee.
Die Psychologin setzt ein professionelles Lächeln auf und begleitet uns nach draußen, wo Rivers Vater schon auf uns wartet. Er wechselt kurz ein paar Worte mit der Geistestante, ehe er einen Arm um seine Tochter legt und uns nach draußen führt.
„Schaffst du es, morgen zur Schule zu gehen?", erkundigt er sich einfühlsam, als wir im Wagen sitzen. Ich muss blöderweise in eine Transportbox. Als ob ich draufgehen würde, wenn ich auf ihrem Schoß sitze.
„Lia ist ja bei mir", flüstert River kaum hörbar. Ich weiß nicht, ob ihr Vater das hört. Ich höre jetzt besser als vorher, aber das ist nichts verglichen mit meinem Geruchssinn. Der ist einfach spitze. Blöd nur, dass hier so Vieles stinkt. Mir ist früher nie aufgefallen, in was für einem Mief Menschen so leben. Lauter, für ihren Vater deutlich hörbar fügt sie hinzu: „Ich will das Mitleid der anderen nicht. Lia lebt, das weiß ich. Und sie wird wieder zurückkommen, wenn sie die Chance dazu hat."
Ihr Vater schweigt. Als Anwalt hat er wohl andere Erfahrungen gemacht.
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