VI - Ihr küsst recht nach der Kunst
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Tenderness is a virtue.
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Als Manuela endlich ihr Zimmer betrat, schaffte sie es zum ersten Mal an diesem Abend tief Luft zu holen. Mit rasendem Herzen sank sie auf ihrem Stuhl am Schreibtisch nieder, legte die Unterlagen dort ab. Ihre Gedanken waren wirr, unendlich durcheinander und trotz der tiefen Atemzüge schien sie doch keine Luft zu bekommen. Ruckartig stand sie auf, was sie etwas taumeln ließ, doch sie hielt sich aufrecht. Auf ihrem Weg in ihr privates Zimmer knüpfte sie sich die weiße Bluse auf, deren Stoff sich für ihr Gefühl etwas zu sehr aufgeheizt hatte. Mit einer recht unsanften, ruppigen Bewegung zog sie die Bluse aus, warf sie unachtsam auf einen Sessel. Merklich schwer atmend stützte sie sich am Rahmen ihres Bettes ab, während sie das Korsette mit hektischen Bewegungen öffnete. Endlich frei von jeglichem Druck sank sie langsam zu Boden, die Augen geschlossen. Immer und immer wieder rief sie sich die Blicke ihrer ehemaligen Lehrerin ins Gedächtnis, wie sie sie angesehen hatte, wie ihr Blick ihren Bewegungen gefolgt war, wie sie ihre Hand gehalten hatte... Es war für sie psychische Folter immer wieder ihre Stimme in ihrem Kopf zu hören, die Wärme ihrer Hand an ihrer zu fühlen. „Elisabeth...", flüsterte sie leise. So lange hatte sie diesen Namen verflucht, dafür welchen Schmerz er ihr brachte und nun wiederholte sie ihn, weil sie von seinem melodischen Klang nicht genug bekommen konnte, genau so wenig wie von den azurblauen Augen, wie von der seichten wie dominanten Stimme. Ihr Herz schmerzte als alte Wunden begannen aufzureißen. „Hör auf", sagte sie zu sich selbst, „Hör auf. Du darfst sie nicht so sehen, nicht so...". Begehren. Begehren war das Wort, welches sie nicht mal zu sich selbst sagen konnte, nicht zu denken wagte. Vor acht Jahren hatte sie sich geschworen mit ihr abzuschließen, nie wieder eine Frau in ihre emotionale Nähe zu lassen, doch saß sie nun hier auf dem Boden, mit einem in ihrer Brust schmerzenden Herzen, mit einem nich klar denkendem Kopf, verzaubert von einer Frau deren Name sie seit acht Jahren nicht zu denken gewagt hatte. Sie fasste sich an die schmerzende Brust während heiße Tränen ihre Wangen entlang liefen und sie sich nach vorn krümmte. „Elisabeth...", hauchte sie erneut als sie zu schluchzen begann. Stark zu sein hatte sie sich geschworen, sich nicht ablenken zu lassen von einer Frau deren Liebe zu ihr Manuela schon längst als vergangen eingeschätzt hatte. Doch die Wahrheit war eine andere, nämlich jene, dass sie ihrer Lehrerin zu jedem Zeitpunkt aus der Hand fressen würde. „Du darfst mich nicht so lieben", hallte ihre verzweifelte Stimme in ihrem Kopf wider. Das hatte sie gesagt und sie hatte recht. Manuela wischte sich die Tränen von den Wangen, lehnte sich gegen ihr Bett, den Blick gen Decke gerichtet, die Brust rasant im Heben und Senken begriffen. Eine längst vergangene Flamme loderte in ihrem Inneren auf, sie konnte es fühlen, wie die Wärme ihren Körper zu verbrennen drohte. Langsam schloss sie ihre Augen, besann sich auf den verbotenen Kuss von vor acht Jahren: „Elisabeth..."
Es war eine Woche seit jenem Abend vergangen. Manuela war der Oberin bis auf die nötigen Interaktionen aus dem Weg gegangen, um sich zu sammeln, sich selbst auf kommende Interaktionen vorbereitend. Zum Glück war sie mit dem Schauspiel so sehr beschäftigt, dass bald schon ganz vergessen hatte, wie sehr sie die Anwesenheit des Fräuleins von Bernburg aus der Bahn geworfen hatte.
„Bourscheid, mit etwas mehr Gefühl, wenn ich bitten darf!" Es war nun schon der fünfte Versuch des Tages. Beide Mädchen, welche sonst hervorragend spielten, schienen plötzlich jede Affinität für die Schauspielerei verloren zu haben. „Nochmal!", dirigierte sie und machte eine scheuchende Bewegung mit der Hand. Ingrid von Bourscheid räusperte sich und Magdalena von Weidenberg hielt nervös ihren Rock fest. Manuela legte den Kopf schief. „Weidenberg, so steht eine Julia nicht da", tadelte sie und sah, wie die junge Frau aufschreckte und sich zurück in ihre Rolle begab. Bourscheid begann: „Oh, so vergönne teure Heil'ge nun, dass auch die Lippen wie die Hände tun. Voll Inbrunst beten sie dir: erhöre..." Manuela schüttelte frustriert den Kopf und massierte sich die Schläfen. „Spricht so eurer Meinung nach jemand der inbrünstig verliebt ist? Jemand der zum allerersten Mal dieses Gefühl spürt?", fragte sie und fuhr fort zu erklären, doch merkte sie bald, dass die Aufmerksamkeit der Mädchen nicht mehr auf ihr ruhte, sondern auf der Tür hinter ihr. Sie wandte sich schon bald etwas zu schwungvoll um, unerfreut über die Unterbrechung. Es war die Oberin, welche an den Türrahmen gelehnt der Vorstellung zugesehen hatte. Manuela drehte sich ihr zu und streckte eine offene Hand in ihre Richtung aus. „Frau Oberin Sie kommen genau zur rechten Zeit", mit einer bittenden Bewegung erbat sie das Fräulein von Bernburg in ihre Richtung. In ihrer Aufgebrachtheit über die Sturheit ihrer Schülerinnen hatte Meinhardis komplett vergessen, was sie sich geschworen hatte. „Wären Sie so freundlich mit mir diese Szene hier zu demonstrieren?" Sie deutete auf die Stelle im Heft. Bernburg schmunzelte leicht und nickte: „Natürlich". Ohne die Rollen vorher abgesprochen zu haben, begannen beide. Erst als die ersten Worte Bernburgs Lippen verließen verstand Manuela in aller Gänze, was sie getan hatte. „Nein, Pilger, lege nichts der Hand zuschulden für ihren sittsam-andachtsvollen Gruß. Der Heil'gen Rechte darf Berührung dulden, und Hand in Hand ist frommer Waller Kuss", begann Bernburg mit einer scheinbar unschuldigen und unerwartenden Tonlage. Manuela trat auf sie zu, nahm im Sprechen ihre Hände. „Hat nicht der Heil'ge Lippen wie der Waller?" „Ja, doch Gebet ist die Bestimmung aller." Eine künstlerische Pause folgte bevor Manuela mit leichter Stürmischkeit fortfuhr: „Oh, so vergönne teure Heil'ge nun, dass auch die Lippen wie die Hände tun. Voll Inbrunst beten sie dir: erhöre, dass Glaube nicht sich in Verzweiflung kehre." Die Blicke der beiden Frauen waren aneinandergeheftet, scheinbar aus rein schauspielerischen Gründen, doch fühlte Elisabeth wie ihr Herz stetig schneller zu schlagen begann. „Du weißt, ein Heil'ger pflegt sich nicht zu regen. Auch wenn er einer Bitte zugesteht." Mit dem Ende ihrer Zeile trat Manuela noch näher an sie heran und fuhr voll Inbrunst fort: „So reg dich, Holde, nicht, wie Heil'ge pflegen, derweil mein Mund dir nimmt, was er erfleht..." die Welt schien einen Moment still zu stehen während Manuela versuchte innerhalb von Bruchteilen von Sekunden eine Entscheidung zu treffen. Sie merkte wie Bernburg die Luft anhielt und nicht nur sie, auch die Mädchen folgten gebannt dem Geschehen. Elisabeth sah ihr in die Augen, ihr Herz im Begriff aus ihrer Brust zu springen. „Tu es nicht", dachte sie und war erleichtert als sie einen Kuss nur andeutete. Sie fühlte dem warmen Atem von Manuela an ihren leicht geöffneten Lippen. „...Nun hat dein Mund ihn aller Sünd' entbunden", fuhr sie scheinbar unbeirrt fort. Auch von Bernburg fing sich wieder. „So hat mein Mund zum Lohn sie für die Gunst?" Manuela tat schockiert, ließ ihre Hände los und griff sich mit einer an die Brust: „Zum Lohn für die Sünd? O Vorwurf, süß erfunden!", mit beiden Händen umschloss sie das Gesicht ihrer Gegenüber," Gebt sie zurück". Erneut deutete sie einen Kuss an. „Ihr küsst recht nach der Kunst", sprach die Oberin, bevor Manuela nickte und von ihr wegtrat. Sie wandte sich ihren Schülerinnen zu, welche mit großen Augen das Schauspiel verfolgt hatten, und nun begeistert in die Hände klatschten. „Man merkt sofort, dass Sie am Hoftheater waren, Fräulein von Meinhardis, wie wundervoll!", lobte Magdalena fröhlich und auch dem Fräulein von Bernburg wurden viele bewundernde Kommentare zu teil. „Wenn sie nur wüssten...", dachte Manuela. „Nun gut meine Damen, wir machen gleich weiter. Macht eine kurze Pause", mit einer entlassenden Geste standen die Mädchen von ihren Plätzen auf, knicksten und begannen dann miteinander zu reden und zu tuscheln. Manuela wandte sich um und sah gerade noch, wie Bernburg den Raum wieder verließ. Sofort lief Manuela hinterher, fast ein wenig zu schnell. Ihre Schüler sahen ihr gespannt nach und drehten sich dann kichernd zueinander.
„Elisabeth", sprach Manuela den Gang hinunter. Angesprochene blieb augenblicklich stehen und drehte sich um. Langsam lief die Jüngere auf sie zu. „Ich hoffe du verzeihst mir dieses unangebrachte Verhalten", Manuela sah sie beunruhigt an, doch begann ihr ganzer Körper sich zu entspannen als ein sanftes Lächeln auf den Lippen der Älteren auftauchte. „Ein Schauspiel ist ein Schauspiel, das weißt du. Nichts, was unangebracht gewesen wäre." Ihr fiel sichtlich ein Stein vom Herzen, was Elisabeth leicht amüsierte. Insgeheim war sie sehr froh, dass der Korridor an dieser Stelle schlecht beleuchtet war und es draußen ebenfalls sehr dunkel war, da sie fühlen konnte, wie ihre Wangen wärmer wurden bei dem Gedanken an das eben Passierte und als Manuela erneut nach ihrer Hand griff, befürchtete Elisabeth ihre Beine würden nachgeben. Wie schon am Abend in der Woche zuvor berührten Manuelas Lippen sanft den Handrücken der Oberin, welche leise die Luft einsog. „Manuela...", hauchte sie als sie zusah, wie sie zurück in den Bühnenraum ging und von drinnen ihre Stimme ertönte wie sie die Schülerinnen aufforderte an ihre Plätze zu gehen. Sie tastete kurz nach der Wand zu ihrer Linken, um Halt zu finden bevor sie weiter ihren Aufgaben nachging.
Beim Abendessen konnte Manuela nicht anders als immer wieder zu Elisabeth hinüberzusehen. Ihr Kopf war voll mit den Momenten des Schauspiels. Diese Nähe, diese Intensivität... Für einen kurzen Moment sahen sie einander an, ihre Blicke vereint. Nur die Mädchen, welche wesentlich unruhiger waren als sonst, verhinderten, dass beide sich noch länger anblickten.
Mit großer Eile betrat Elisabeth in ihr Büro, schloss die Tür hinter sich und lehnte sich gegen sie mit all ihrer körperlichen Kraft als fürchte sie jemand wolle hinein. Das erste Mal seit sie vor acht Jahren hier angefangen hatte zu arbeiten, hatte sie das Bedürfnis eine Tür abzuschließen, sie zu verriegeln. Sie atmete tief ein und trat dann weg von der Tür und hinter ihren Schreibtisch, welcher gefüllt war mit Papieren und Briefen. Die Lage war heikel. Durch die Hungerblockade war es schwer an genügend Lebensmittel für die Kinder zu kommen, doch sie gab nicht auf. Es musste eine Lösung geben und die würde sie finden. Jedoch, so sehr sie sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren versuchte, immer wieder kamen die vergangenen Momente mit Manuela in ihr aktives Gedächtnis zurück. Etwas frustriert lehnte sie sich in die gepolsterte Lehne zurück und schloss ihre Augen. Sofort fühlte sie ein leichtes Kribbeln auf ihrer rechten Hand, dort wo Manuela sie geküsst hatte. Mit ihren Händen umfasste sie die seitlichen Lehnen ihres Stuhles als sie sich die beiden Momente zuließ und sie wieder vor sich sah. Es war ganz anders als die Küsse, welche sie ihr vor acht Jahren auf die Hand gegeben hatte. Diese waren kontrolliert, langsam, elegant. Sie waren eine Geste der Wertschätzung, des Respekts. Sie holte tief Luft als sie den Moment wieder vor ihr sah, wo sie ihre Hand in Manuelas legte, ihre weiche, warme Haut berührte. Sie summte einen tiefen Ton als ihre Gedanken zu dem heutigen Nachmittag übergingen. Diese intensiv grünen Augen, wie in die ihren gesehen hatten, so voller Erwarten, voller Selbstkontrolle. Für einen Augenblick hatte sie sogar geglaubt etwas wie Hunger im Blick der Jüngeren gesehen zu haben. Der Blick war so intensiv gewesen, der Abstand zwischen ihnen so gering. Ihr Griff an den Lehnen verstärkte sich als sie, untypischer Weise, ihre Gedanken in gefährliche Gewässer tauchen ließ, sich vorstellte, wie es wohl gewesen wäre, hätte Manuela ihre Lippen verbunden. Sie fühlte erneut, wie sie mit ihren Händen ihr Gesicht umschloss, wie sie einander ansahen und obgleich der Unangebrachtheit gestand sie sich ein, dass sie in diesem Moment komplett verloren in diesem Grün war, sich beinahe vergessen hätte.
Elisabeth löste sich von ihren Gedanken, welche sie so sehr überrascht hatten, dass sie für einen Moment vergessen hatte, wo sie sich befand. Ihre Hand wanderte automatisch zu der Brosche des Stifts über ihrem Herzen. Hitzig schüttelte sie den Kopf als wolle sie die Gedanken verdrängen, gar verscheuchen. Plötzlich klopfte es an ihrer Tür und für eine kurzen Moment war sie davon übererzeugt einfach nicht zu reagieren, doch besann sie sich zurück auf ihre Pflichten, setzte sich gerade hin, faltete die Hände auf dem Tisch sich und sprach: „Herein".
Madame Adrienne Dumais trat ein, die blonden Haare ordentlich hochgesteckt, gekleidet in eine hellgelbe hochgeschlossene Bluse und einen schwarzen, langen Rock, welcher ihre Figur betonte. Über ihrer Brust schimmerte die Brosche des Stifts, ein aufwendig gefertigter Haarkamm hielt ihre Haare zusammen. Sie sank in einen tiefen und anmutigen Knicks vor dem Fräulein von Bernburg und erhob sich auch erst wieder als diese das gestattete. „Wie kann ich Ihnen helfen, Madame?", fragte die Oberin und sah, wie etwas in den Augen der Lehrerin aufblitzte. Sie trat etwas nach vorn. „Ich möchte mit Ihnen sprechen, Frau Oberin" „Und über was, bitte?" Elisabeth bemerkte die Angespanntheit der Frau vor ihr, was sie wiederum nervös werden ließ. „Es geht um das Fräulein von Meinhardis" Bernburg schloss kurz die Augen, war es ihr wirklich nicht möglich dieser Frau zu entkommen? Mit einer Geste der Rechten bedeutete sie Dumais fortzufahren. „Frau Oberin, ich möchte Sie gnädigst fragen was es mit Ihnen und dem Fräulein von Meinhardis auf sich hat". Ihr Blick sank zum Boden, und so tat es auch Elisabeths Herz. „Was wollen Sie ausdrücken?", fragte sie schroff und etwas schärfer als eigentlich erdacht. Der Blick der Lehrerin für Benehmen schoss hoch, in ihren Augen war plötzlich pure Verzweiflung zu erkennen. Mit langsamen Schritten trat sie um den Tisch herum, blieb direkt vor Elisabeth stehen, welche das Bedürfnis hatte zu fliehen. Sie spannte unangenehm fest ihren Unterkiefer an, während sie sich zu ihr drehte und nun gerade vor ihr saß. „Madame?", fragte sie nach und war überrascht als Adrienne vor ihr auf die Knie sank. „Bitte, tut nicht so als würden Sie nicht wissen, wovon ich spreche, zwingt mich nicht es auszusprechen, es würde mir das Herz brechen". Elisabeth sog scharf die Luft ein. Sie hatte geahnt, dass ihre Handlungen eines Tages Folgen haben würden und doch traf sie das Verhalten ihrer Gegenüber komplett unvorbereitet. „Ich befürchte, ich kann Ihnen nicht folgen", sprach sie schließlich kalt, wich dem flehenden Blick der Französin aus, welche zu ihr aufsah. „Ich habe das Schauspiel beobachtet", sprach sie mit einem Zittern in der Stimme, welches Elisabeth die Luft anhalten ließ. „Ich habe die Blicke gesehen, mit welchen Meinhardis Sie ansieht, wie Ihr sie anseht". Die Atmung der Oberin wurde rapider, Adrienne konnte es sehen an der zunehmenden Schnelligkeit, mit welcher sich ihre Brust gegen das Innere ihrer roten Bluse drückte, dort, wo das Korsett sie leicht nach oben schob. Elisabeth sah zur Seite, dem Blick der Lehrerin noch immer ausweichend. „Sie scheinen ein Schauspiel nur allzu sehr mit der Realität zu verwechseln, Madame Dumais", brachte sie scharf hervor, „Ganz abgesehen davon, ist es nicht längst Zeit für Ihre Abendrunde? Madame, ich will hoffen, Sie beginnen nicht Ihre Pflichten zu vernachlässigen", hängte sie an und umfasste mit all ihrer Kraft die Lehnen ihres Stuhles. Es war ihr als könne sie die Wärme von Dumais spüren, wie sie vor ihr kniete. Im Augenwinkel sah sie, wie sie den Blick senkte, jedoch nicht auf Uhr sah. „Wenn es nur Schauspiel ist, Frau Oberin, dann warum halten diese Blick an, wenn Sie den Gang betreten, wenn sie beim Abendessen an der hohen Tafel ihr seitliche Blicke zu Teil werden lassen?", ihre Stimme war ein wenig lauter geworden, verzweifelter.
Elisabeth hielt es nicht mehr aus, ihre Gedanken waren nun unbremsbar. Mit einem Ruck, welcher sie ins Taumeln brachte, stand sie auf und lief an Dumais vorbei zum Fenster, während sie mit leicht wütender Stimme ausrief: „Ihre Anschuldigungen sind unter meiner Würde! Ich bitte Sie nun mein Büro zu verlassen und ihrer Pflichten nachzukommen!" Einen Moment war es ruhig. Elisabeth nutzte diesen, um Luft zu holen, sich zu beruhigen, sich zu sammeln. Was war nur los? Konnten zwei Fehler der Vergangenheit sie wirklich so rasant und gleichzeitig einholen? Es schien ihr unerträglich warm in dem Raum und auch, wenn draußen der Novemberregen gegen das Fenster schlug, so öffnete sie es und begrüßte den ihr entgegenschlagenden kühlen Windhauch mit Erleichterung. „Unter Ihrer Würde?", hörte sie nun Adrienne wiederholen, ihre Stimme zitterte nun so stark, dass es nicht mehr nur Unbehagen, sondern viel mehr Angst war, warum sich die Ältere nicht umdrehte. Sie hörte das Rascheln ihres Rockes als Adrienne aufstand. „Wenn es so unter Ihrer Würde ist, dann warum lassen Sie diese intimen Handküsse zu?" Erneut stieg ihr die Hitze ins Gesicht. „Ich sagte, Madame, Sie sollen gehen!" „Sieh' mich an Elisabeth!", schrie Adrienne in einer so bebenden Tonlage, dass Elisabeth erstarrte und sich nur ganz langsam umdrehen konnte. Adrienne weinte, heiße Tränen liefen ihre Wangen hinab. „Ich versichere Ihnen, Dumais, dass Ihr Unmut vollkommen unbegründet ist", versuchte Elisabeth mehr sich selbst als Adrienne zu überzeugen, welche nun wieder auf sie zu kam. „Tu nicht so als wüsstest du von nichts, als hättest du alles vergessen", sprach sie und war nun fast bei ihr. „Adrienne, ich sagte Ihnen bereits, dass es Fehler war", versuchte sie streng von sich zu geben, ohne ihre Nervosität durch eine zitternde Stimme preiszugeben. Adrienne war nur noch eine halbe Armlänge entfernt von ihr, was Elisabeth veranlasste einen Schritt nach hinten zu tun, nach hinten zu tasten und sich am Fensterbrett Halt zu suchen.
Adrienne und Elisabeth sahen sich in die Augen, die Augen der einen verrieten Verzweiflung, Eifersucht, die der Anderen Nervosität, Unsicherheit. Langsam trat Adrienne noch näher, ihre Hände umschlossen sanft die Taille der Oberin, welche Luft holte, und ihren Kopf anhob, den Blickkontakt unterbrach, sich mit mehr Kraft gegen die Fensterbank drückte, während der kalte Wind von hinten gegen ihren Rücken peitschte. Plötzlich hörte sie wie Adrienne nah neben ihrem Ohr flüsterte: „Bedeutet dir ein Kuss auf die Hand wirklich mehr als ein Kuss der Lippen?" Sofort sah Elisabeth zur Seite, ihre Augen trafen wieder Adriennes, welche die Verdutztheit der Oberin ausnutzte und einen federleichten Kuss auf ihre Lippen hauchte. Noch bevor Elisabeth reagieren konnte, sank Adrienne in einen tiefen Knicks und verließ das Büro.
Mit dem Klicken der Tür sank Elisabeth auf den Boden. Ihr Kopf schmerzte, ihre Hände ebenso von dem krampfhaften Griff um die Fensterbank. Sie lehnte ihren Kopf gegen die Wand und verdeckte ihr Gesicht mit ihren Unterarmen. Musste denn wirklich alles auf einmal über sie hereinbrechen? Es war nur ein einziger Kuss gewesen. Ein Kuss von vor vier Jahren, kurz nachdem der Krieg begonnen hatte. Elisabeth war noch immer aufgewühlt gewesen von den Ereignissen rund um Manuela und oftmals suchte sie nachts eine unerträgliche Einsamkeit heim. Als es nun kam, dass die alte Oberin Adrienne aufgrund der deutsch-französischen Feindschaft aus dem Stift werfen wollte, hatte sie sie verteidigt, war für sie die Gefahr eingegangen selbst den Stift verlassen zu müssen. Die alte Oberin hatte zum Glück auf sie gehört und Adrienne hatte den Stift nicht verlassen müssen. Eines Abends war sie dann zu Elisabeth gekommen, um sich zu bedanken, sie hatten ein ausgiebiges Gespräch geführt, waren sich näher gekommen ohne es zu merken und schließlich in einem Augenblick aufkommender Einsamkeit, hatte Adrienne sie geküsst. Vielleicht auch mehrmals. Sie hatte damals nich sofort gemerkt, was sie getan hatten, aber sie hatte sofort gewusst, dass es eines Tages Konsequenzen haben würde und dieser Tag war gekommen.
Als Manuela kurz nach dem Abendessen ihre Abendrunde beendet hatte, tat sie sich schwer einfach in ihre Gemächer zu gehen, etwas an diesem Tag hing ihr nach. Es war der Blick Elisabeths als sie ihr Gesicht umfasst hatte, er war anders als wenige Momente zuvor. Er war so... erwartend gewesen. Für wenige Sekunden hatte sie überlegt den Kuss zu vollführen, ihrem inneren Begehren nachzugeben, doch hatte sie sich selbst ermahnt. Der letzte Kuss, den sie dieser Frau geschenkt hatte, hatte ihr Leben auf den Kopf gestellt, sie war nicht bereit dieses Risiko erneut einzugehen. Nicht jetzt.
Die Stimme einer Schülerin holte sie aus ihren Gedanken: „Fräulein von Meinhardis?" Sie wandte sich dem Mädchen zu, welches nicht in ihrem Schlafsaal war. „Was machst du hier draußen? Ihr solltet alle schlafen", gab sie etwas strenger als beabsichtigt von sich. „Madame Dumais ist noch nicht bei uns gewesen. Wir machen uns Sorgen". Manuela wandte sich ihr zu, runzelte die Stirn. Das war nicht das erste Mal, dass Adrienne ihre Schülerinnen vergaß, aber sonst würde sie immer kommen, wenn auch später, doch nun...Manuela sah auf die Uhr. „Ich werde der Oberin Bescheid geben. Geht selbstständig zu Bett. Ich möchte keinen Muchs von euch hören". Damit trat Manuela die Treppe hinauf und noch bevor sie oben angekommen war, wurde sie unsanft zur Seite gestoßen. „O, Pardon!", hörte sie Adrienne rufen, während sie Manuela festhielt, da diese zu stürzen drohte. „Es tut mir so leid, Manuela. Ich bin nur so spät dran". „In der Tat. Ich wollte gerade der Frau Oberin melden, dass du noch nicht da warst. Ich dachte, dir ist etwas passiert". Bei der Erwähnung der Oberin sah Manuela wie die Augen der Lehrerin aufleuchteten. „O, ich komme gerade von ihr, wir hatten noch etwas wichtiges zu besprechen", während sie sprach, fuhr sie sich spielerisch durch die Haare und lächelte abwesend. Manuela schluckte und konnte nur nicken. Dumais eilte die Treppen hinunter und Manuela stand starr im kalten Treppenhaus des Stiftes. Es war still, nur der Wind konnte von draußen heulen gehört werden und wie der Regen gegen die Fenster schlug. Manuelas Kopf schien leer, keine Gedanken, keine Emotionen, nichts. All das innere Chaos von vor wenigen Momenten war verschwunden. Langsam griff sie nach dem Geländer, drehte sich langsam in die Richtung in die Dumais verschwunden war. Ein Gefühl keimte in ihr. Ganz sanft und seicht nur, aber sie konnte fühlen, wie es sie von innen heraus verätzte: Eifersucht...
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