V - Romeo und Julia
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Our lives may not have fit together, but ohhh did our souls know how to dance.
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Wie angekündigt fand noch in derselben Woche die zweite Lehrerkonferenz statt. Die erste, welche die Oberin von Bernburg persönlich leiten würde. In den vergangenen Tagen hatte Manuela sich mit dem Gedanken arrangiert dem Fräulein von Bernburg aufgrund ihrer Aufgaben mehrmals am Tag zu begegnen. Tatsächlich verlief die bisherige Zusammenarbeit reibungslos. Keine der beiden Frauen ließ sich etwaige Unannehmlichkeiten anmerken, im Gegenteil. Nach außen hin schienen beide Frauen eine völlig normale professionelle Beziehung zueinander zu führen.
Als Von Bernburg den Raum betrat und sich alle erhoben, fehlte Fräulein von Adelsheim, etwas, das der regelbewussten Frau gar nicht zumutbar schien. Manuela, welche neben Adrienne saß und sich nur mit Not von der Präsents Bernburgs losreißen konnte, wandte sich ihrer Freundin zu, doch auch diese schüttelte ratlos den Kopf. „Guten Tag, meine Damen. Fräulein von Adelsheim ist heute leider verhindert", machte das Fräulein von Bernburg bekannt als sie neben ihrem Platz zum Stehen kam, „Für die Zeit, die sie fehlt, würde ich gern jemand anderen mit ihren Aufgaben betrauen, damit alles weiter seinen Gang geht." Im Augenwinkel sah Manuela, wie Adrienne sich eine herausgelöste Strähne ihres goldenen Haares hinters Ohr strich. Ein brennendes Gefühl erklomm Manuelas Kehle. Eifersucht? In ihrer Freude dem Fräulein wieder begegnet zu sein, hatte sie um ein Haar die Szenerie am Abend ihrer Ankunft vergessen. Die Zärtlichkeit im Blicke Adriennes, die sanfte Berührung an der Wange... innerlich schnaufte sie, rang ihre aufkochende Eifersucht allerdings nieder. Es war acht Jahre her und das Liebesleben ihrer Vorgesetzten ging sie nur schwerlich etwas an.
Erst als ihr auffiel, dass der Blick Bernburgs auf sie gefallen war, verlosch jegliches Gefühl der Eifersucht in der Gutmütigkeit ihres Blickes. „Fräulein von Meinhardis, wären Sie so freundlich, diese Aufgaben zu übernehmen?" Für einen Moment blickte Manuela sie verwirrt an. „Jawohl, Frau Oberin", sprach sie zuversichtlich, nachdem sie sich gefangen hatte und erhob sich, ihre Sachen nehmend und auf dem Platz neben dem Fräulein von Bernburg platznehmend. Adrienne sah aus als habe sie der Blitz getroffen. „Fräulein Dumais, ist etwas nicht in Ordnung?", fragte das Fräulein von Bernburg. Ihr Blick erinnerte Manuela an ihren Lehrerblick, welcher ihr immer die Stimme genommen hatte. „Ich bitte um Verzeihung, Frau Oberin, aber warum haben sie Fräulein von Meinhardis diese Aufgabe zukommen lassen?", in ihrer Stimme war eine untypische Fassungslosigkeit zu hören. Fräulein von Bernburg blieb professionell. An ihrem Blick änderte sich rein gar nichts. Er war kalt und undurchdringlich. „Fräulein von Adelsheim betraute sie während meiner Abwesenheit bereits mit ähnlichen Aufgaben, welche sie mit Bravour meisterte, wie ich hörte." Ihr Blick wanderte kurz zu Manuela und es erschien ihr als wäre ihr Blick um ein Weniges weicher geworden. „Oder gibt es Beschwerden, über die ich nicht in Kenntnis gesetzt wurde?" Alle Lehrerinnen verneinten die Frage. „Gut, dann würde ich gerne zu den wichtigen Themen kommen."
Es war eine der üblichen Konferenzen, doch befand Manuela, dass sie dem Fräulein von Bernburg wesentlich lieber zuhörte als dem Fräulein von Adelsheim. Die engelsgleiche, ruhige Stimme der Frau hatte eine beruhigende Wirkung auf alle Anwesenden und schien sie alle in eine gute Stimmung zu versetzen. Worauf sich Bernburg ebenso gut verstand, war das Zuhören. Jeder, der sich zu Wort meldete, wurde angehört und sie notierte sich zuweilen was gesagt wurde.
„Ich finde wir sollten ein Schauspiel aufführen", warf Fräulein von Ehenheim ein, „Die Kinder haben so große Sorge um ihre Väter und Brüder, wir sollten etwas veranstalten, was sie zum Lachen und zuweilen auf andere Gedanken bringt." Die Augen der Oberin begannen zu glänzen und sie lehnte sich begeistert nach vorn. „Das ist eine ganz wunderbare Idee, Fräulein von Ehenheim. Es ist unsere Aufgabe die Mädchen froh zu machen und auf diesem Wege würden sie auch ebenso etwas lernen." „Man könnte es mit einem Werk aus dem literarischen Unterricht verbinden. Ein klassisches Werk, vielleicht eines, an dem das Interesse der Mädchen besonders groß war", es war Adrienne, welche diesem Vorschlag machte und Manuela dabei durchdringend anblickte. Ein unangenehmes Gefühl überkam sie, weshalb sie sich leicht schüttelte. „Das klingt hervorragend!" Fräulein von Bernburg wandte sich strahlend an Manuela zu ihrer rechten, „Welches Werk mögen die Mädchen besonders, Fräulein von Meinhardis?" Manuela blickte von ihren Unterlagen auf und faltete die Hände, bemüht ihre Gesichtszüge neutral zu halten. „Das wäre ‚Romeo und Julia', Frau Oberin, dicht gefolgt von ‚Kabale und Liebe'. Die Kinder scheinen großes Gefallen an romantischen Trauerspielen zu finden." Fräulein von Bernburg schmunzelte unbemerkt und blickte wieder in die Runde. „Ich fände ‚Romeo und Julia' ganz fantastisch, Frau Oberin", schlug Fräulein von Neidhardt vor, woraufhin Adrienne sie etwas verklemmt ansah. „Vielleicht sollten wir eher etwas nehmen, was weniger die Liebe in den Vordergrund stellt. Etwas wie ‚Hamlet' oder ‚Macbeth' von Shakespeare", schlug sie vor und sah zu Fräulein von Bernburg, welche kurz abwägte. „Nein, ich denke >Liebe< ist ein hervorragendes Thema für Mädchen in diesem Alter und es lenkt von den Grausamkeiten des Lebens etwas ab, ohne diese jedoch vollkommen zu verbergen und ein Klassiker wie ‚Romeo und Julia' ist zudem noch jedem bekannt." Ihr wachsamer Blick schweifte zu Manuela, welche genaustens Protokoll führte. „Fräulein von Meinhardis, ich hörte Sie waren bei Hofe im Theater tätig?" Manuela fuhr hoch. Woher wusste sie davon? „Ja, Frau Oberin. Das ist ganz richtig." Die Oberin klatschte zufrieden in die Hände. „Wie wunderbar, dann kann ich doch mit Sicherheit Sie mit der Aufgabe des Theaterstückes beauftragen?" Das liebevolle, sanfte Lächeln der Oberin ließ Manuela beinahe dahin schmelzen. „Es würde mir eine Ehre sein." „Sehr schön, dann werde ich einer anderen Lehrkraft die Aufgaben von Fräulein von Adelsheim übergeben, damit Sie alle Zeit haben mit den Schülern zu üben." Manuela nickte, dachte sich nichts Böses dabei, bis ihr Blick wieder den von Adrienne streifte. Etwas an der Französin hatte sich verändert seit Fräulein von Bernburg zurück war. Sie schien plötzlich so ... eifersüchtig. „Fräulein Dumais, da Sie sich vorhin so eschauffiert haben, dürfte es für Sie mit Sicherheit kein Problem sein meinen Anforderungen gerecht zu werden?" Sofort erhob sich Adrienne freudig. „Mit großer Sicherheit, Frau Oberin!" „Gut. Dann wäre das vorerst alles." Alle begannen ihre Sachen zu nehmen und erhoben sich. Auch Manuela, welche die Dokumente an Adrienne übergab. „Meinhardis?" Manuela wandte sich um. „Heute Abend nach den Abendrunden erwarte ich Sie in meinem Büro. Ich würde gerne mit Ihnen gemeinsam die Besatzung der verschiedenen Rollen durchgehen." Manuela nickte. „Sehr gern, Frau Oberin." Danach verließ sie das Zimmer. Dass Adrienne sie etwas giftig ansah, ignorierte sie dabei vollkommen.
Vor dem Abendessen hatte Manuela Aufsicht in der Eingangshalle zusammen mit Adrienne, welche zunächst etwas Abstand zu Manuela hielt, indem sie scheinbar Schülerinnen zurechtwies, welche ihre Uniform nicht korrekt trugen, wobei Manuela sofort auffiel, dass die Tadel ungerecht verteilt waren. „Wieso weißt du sie für etwas zurecht, was sie gar nicht falsch gemacht haben?", fragte Manuela ihre Freundin, welche sich leicht erschrocken zu ihr umdrehte. „Bis eben standest du noch viel zu weit weg, um das richtig zu erkennen", gab sie leicht verklemmt zurück und Manuela beschloss, es dabei zu belassen.
„Wie geht es dir?", fragte die junge Lehrerin nach, „Du bist so abweisend seit die Frau Oberin hier ist." Adrienne sah ihr in die Augen. „Sie wirkt dir gegenüber so offen und so herzlich, dabei bist du erst seit wenigen Wochen hier." Ihre Stimme klang wieder ruhiger und weniger vorwurfsvoll. Manuela lächelte traurig. „Es wirkt als habe sich dich so viel lieber als all die anderen." „Ich bin mir sicher du irrst dich. Sie gab mir die Aufgaben nur, weil ich sie vorher schon einmal übernommen habe und wusste was zu tun ist. Das hat mit Sicherheit nichts mit dir zu tun oder dass sie mich bevorzugen würde." Beruhigend legte Manuela eine Hand auf die Schulter der Älteren. Adrienne seufzte und nickte. Der Gong verlautete, dass es Zeit war in den Speisesaal zu gehen, wo das Fräulein von Bernburg bereits an ihrem Platz an der hohen Tafel saß und beiden Frauen beim Hereinkommen zulächelte.
„Gute Nacht, Vangerow." „Gute Nacht, Fräulein von Meinhardis." Sie trat an das nächste und letzte Bett. „Gute Nacht, Bourscheid, du machst mir viel Freude." Sie hauchte einen Kuss auf die Stirn des Mädchens. „Gute Nacht, Fräulein von Meinhardis." Manuela trat in die Raummitte und löschte das Licht, dabei fiel ihr auf, dass die Tür zum Schlafsaal etwas geöffnet war und Fräulein von Bernburg sie schmunzelnd anblickte. Keiner schien sie bemerkt zu haben, sodass die Überraschung jetzt recht groß war. „Frau Oberin, was führt Sie her?", fragte Manuela, nach außen hin ihre innere Nervosität versteckend, da Fräulein von Bernburg gerade gesehen hatte, dass sie ihre alte Tradition übernommen hatte. Bernburg löste sich von der Tür, an welcher sie gelehnt hatte, und trat etwas auf Manuela zu. „Ich hörte nur ihre Stimme und dachte ich könne sie gleich mit mir kommen lassen." Manuela nickte und wandte sich den Mädchen zu. „Nun denn, schlaft gut." Damit verließen beide Frauen den Raum.
„Du hast meine Routine übernommen?", fragte das Fräulein als sich die Tür vollkommen geschlossen hatte. Ihre Stimme war sanft und klang geschmeichelt. Manuela sah verlegen zu Boden. „Nun...Ja. Es half mir damals mich besser im Stift einzufinden und darum habe ich es übernommen. Ich hoffe sehr, dass Sie das nicht stört, Fräulein von Bernburg." Die Ältere schüttelte leicht den Kopf. „Nein, Manuela, das tut es nicht. Im Gegenteil, ich fühle mich wirklich geschmeichelt." Sie trat den Gang entlang, das sanfte Lächeln noch immer auf ihren Lippen. „Die Mädchen scheinen dich sehr zu mögen", ergänzte sie und sah Manuela in die Augen. „Ich gebe mein Bestes sie gut zu erziehen, ohne zu streng zu sein. Mit Sicherheit ist Strenge wichtig, jedoch kann zu viel davon Schaden anrichten, genauso wie zur viel Freundlichkeit die Mädchen behindern kann. Es ist wichtig die Balance zu halten", erklärte Manuela ruhig und erwachsen. In der Annahme, dass sie allein seien, führte Fräulein von Bernburg ihren Arm um den Manuelas und hackte sich ein. „Du sprichst so erwachsen. Das zeigt wohl wie viel Zeit doch bereits vergangen ist, seit wir uns das letzte Mal sahen", erwiderte sie freudig und nachdenklich zu gleichen Teilen. Während sie sprach, war Manuela die Röte ins Gesicht gestiegen. Ihr Arm kribbelte an dem Stellen, an welchen Fräulein von Bernburg ihn berührte und ihr wurde unangenehm warm und während ihrer Gedanken in dem Fräulein nachhingen, stoppte diese plötzlich, was sie veranlasste ihren Blick von den blauen Augen den Fräulein zu lösen und nach vorn zu schauen.
Adrienne Dumais war aus ihrem Schlafsaal getreten und sah beide Frauen ungläubig an. Ihr Blick wanderte von Manuela zu Fräulein von Bernburg und dann auf die ineinander verschränkten Arme. „Guten Abend Fräulein Dumais", begrüßte Fräulein von Bernburg und ihr Lächeln verblasste langsam, wandelte sich in ihre strenge Miene. Sie löste die vertraute Haltung und trat auf Dumais zu, welche einen schnellen Knicks vollführte. „Warum denn so schockiert? Ist etwas passiert?" Sie taxierte die Französin mit einem ihrer unbeugsamen Blicke, ihre Worte nicht mehr als ein Hauch. Sie schien von der Eifersucht der anderen zu wissen, denn ihre Worte waren scharf und einer Warnung gleich. „Nein, Frau Oberin", versicherte Adrienne, den Blick geradeaus an Manuela vorbei gerichtet. „Gut. Wenn Sie uns dann entschuldigen würden, Fräulein von Meinhardis und ich haben noch einiges zu tun. Einen schönen Abend noch." Sie löste ihren Blick von Adrienne und ging an ihr vorbei. Manuela folgte ihr, die giftigen Blicke ignorierend.
„Nun, ich finde Elise von Wülknitz wäre ganz hervorragend als Lorenzo", meinte Fräulein von Bernburg. Eine halbe Stunde sprachen sie nun schon über die richtige Besetzung und Manuela fand, dass es nicht leicht war sich zu konzentrieren, wenn sie so nah neben dem Fräulein saß.
„Ja, sie hat den Charakter dazu", stimmte Manuela zu und holte sich damit selbst aus ihren Gedanken. Ihr Federhalter wanderte über das Papier und setzte den Namen des Mädchens neben die Rolle des Lorenzo. Mit der Spitze des Federhalters tippte Manuela auf den Namen Mercutio. „Magdalena von Weidenberg scheint mir mit ihren roten Haaren und ihrem hitzigen Temperament eine gute Wahl für Mercutio zu sein." Fräulein von Bernburg lehnte sich zurück und überlegte. Ihren Stift legte sie dabei an ihre Lippen. „Wobei sie auch eine gute Wahl für Julia wäre. Sie hat eine schöne schlanke Gesichtsform. Ingrid von Bourscheid könnte eine Männerrolle spielen." „Ich sehe sie als Romeo, wenn ich ehrlich sein soll", erwähnte Manuela scheinbar beiläufig und notierte Magdalena als Mercutio, „Und Maria von Tornow als Julia." Im Augenwinkel sah Manuela wie das Fräulein sich wieder aufsetzte und sie von der Seite verblüfft anschaute. Ihre blauen Augen schienen sich in ihre Seele zu graben und um ihrem Blick weiterhin ausweichen zu können, täuschte Manuela vor, eine Szene in ihrem Heft nachschlagen zu wollen.
„Das ist eine Besetzung, mit welcher ich so nicht gerechnet hätte. Hat deine Entscheidung einen Grund? Ich meine, Tornow ist eine schöne junge Dame mit filigranen Gesichtszügen, aber glaubst du, sie kann die Eleganz einer Julia verkörpern?" Manuela überlegte kurz, ob sie das Thema wechseln oder die Situation erklären sollte. Wie stand das Fräulein von Bernburg zu Liebe, welche nicht existieren sollte, welche gesellschaftlich verachtet war? Wie würde sie reagieren, wenn sie ihr erklärte, dass sie das unterstützte?
Seufzend legte Manuela ihren Stift beiseite. Es war wohl besser ehrlich mit Fräulein von Bernburg zu sein. „Sie erinnern sich doch mit Sicherheit noch an die Vorfälle mit Bourscheid." Bernburg nickte und dem Ausdruck in ihren blauen Augen nach zu unterteilen, schien sie zu ahnen worauf Manuela hinaus wollte. „Sie verließ den Schlafsaal, um Tornow aufzusuchen", erklärte Manuela und wartete die Reaktion der Oberin ab, welche die Anspielung selbstredend verstanden hatte.
Die Ältere schluckte und sah angespannt auf die Liste mit Schülerinnen, ihre Arme vor der Brust verschränkt. „Die Gesellschaft toleriert eine solche Verbindung nicht, Manuela. Glaubst du wirklich, dass es den Beiden helfen würde, sie in ihrer Verbindung zu stärken?" Manuela blickte auf. Ihr Herz wurde schwer. „Selbst, wenn wir es nicht tun, Fräulein von Bernburg, glauben Sie wirklich, dass es sich dadurch aufhalten ließe?"
Es wurde still. Beide Frauen sahen sich ernst in die Augen, jede ihren eigenen Gedanken nachhängend und doch schienen sie beide an dasselbe zu denken. Der Kuss. Manuela blickte kurz auf die Lippen den Fräuleins, erinnerte sich zurück an das weiche Gefühl von ihnen auf ihren eigenen und kam nicht umhin sich zu fragen, ob das Fräulein je Gefühle romantischer Art für sie gehabt haben könnte. Damals war es ihr so vorgekommen. All ihr Gebaren war ihr gegenüber so verschieden von dem gegenüber der anderen Mädchen gewesen. Sie war so sanft gewesen, so lieblich und tolerant und was Manuela von allen Dingen am meisten beschäftigt hatte, war, dass sie den Kuss nicht unterbrochen hatte. Eine normale und – sie musste es sich eingestehen- verständliche Reaktion wäre gewesen, dass sie sie von sich gestoßen hätte, sie getadelt und gefragt hätte, was denn in sie gefahren sei. Jedoch war nichts von dem geschehen. Sie hatte den Kuss einfach hingenommen, hatte ihn weder erwidert, noch unterbrochen. Diese Geste hatte ihr damals so ziemlich versichert, dass sie sie lieben würde, doch war es wirklich je so gewesen? Manuela wusste es nicht und jetzt, wo sie hier wieder aufeinandergetroffen waren, musste sie sich diese Frage wieder stellen, hatte sie auf sie doch nie eine Antwort erhalten.
Manuela lehnte sich etwas vor, sah dem Fräulein in die Augen, welche dem Blick auswich. „Und außerdem, könnte jemand die Liebe von Romeo und Julia besser spielen als ein Paar, welches diese Liebe zueinander fühlt?" Fräulein von Bernburg seufzte. Sie fühlte sich sichtlich unwohl und Manuela fragte sich, was an dem Thema genau ihr dieses Gefühl bescherte.
Schließlich schien das Fräulein sich selbst aus ihren Gedanken zu holen. Sie nahm Manuela die Liste ab, strich Magdalena an der Stelle des Mercutio durch und setzte sie als Julia auf die Liste. „Wir dürfen uns nicht einmischen", sagte sie streng und legte den Stift auf dem Papier nieder. Ihr Blick wanderte zu Manuela, blickte in diese grünen Augen und fragte sich, ob sie sie noch immer liebte. Damals war die Erkenntnis, dass Manuela sie liebte, für sie fast unerträglich gewesen. Es schmerzte sie zu wissen, dem Mädchen früher oder später das Herz brechen zu müssen. Zu Beginn hatte sie sich selbst noch einreden wollen, dass es nur eine kurze Episode im Leben des Mädchens war. Nach dem Verlust der Mutter erschien es ihr logisch, dass Manuela sich an die Person wendete, der dieser verlorenen Figur am nächsten war. Niemals hätte sie geahnt, dass diese so zarte Liebe so tragische Züge annehmen würde. Es war zu ihrem eigenen Schutz, dass sie Manuela und den Stift zurückließ. Wäre sie geblieben, hätte das nur unangenehme Folgen für sie beide gehabt. Und wenn sie heute auf diesen Moment zurücksah, würde sie wieder so handeln. Offenbar hatte der Abstand Manuela gutgetan. Aus ihr war eine anständige Dame geworden und was sie selbst betraf, so konnte sie sagen, dass sie stolz auf die junge Frau war, auch wenn in ihr sich die Frage entwickelte, ob sie noch immer Gefühle für Frauen hegte.
„Nun gut", gab Manuela nach und verschränkte die Arme vor der Brust, ein leises Seufzen verließ ihre Lippen. Sie beließen es dabei. Es schien besser darüber nicht weiter zu diskutieren, auch wenn Manuela viel daran gelegen hätte, das heimliche Paar zu unterstützen. Nur, weil es ihr selbst nicht gelungen war, glücklich zu werden, sollte dies nicht auch für alle anderen gelten.
Fräulein von Bernburg beobachtete die in Gedanken versunkene junge Lehrerin, holte selbst einmal tief Luft und lenkte das Thema auf die anderen Rollen, um das Thema der Liebe zu beenden. Es war nichts worüber sie sich mit Manuela zu diskutieren im Stande sah. Nicht mit ihr.
Der Abend verging ohne weitere emotionale Unterbrechungen. Alle Rollen waren vergeben, ein Datum für die Aufführung wurde festgelegt und ein Zeitraum für die Proben gefunden. Manuela war im Begriff ihre Notizen zu vervollständigen und achtete nicht weiter auf das Fräulein von Bernburg, welche leicht zurückgelehnt ihren Blick über ihre ehemalige Schülerin wandern ließ. Sie war schön. Das war sie schon immer gewesen, auch damals schon, doch unterschied sie zu dem Mädchen von damals maßgeblich. Die erwachseneren Gesichtszüge. Sie waren ... reifer, nicht mehr so rund und geschwungen, sondern markanter. Die leichten Schatten unter den Augen zeugten von schlaflosen Nächten einer Schauspielerin, selbiges galt für die leicht rauen Fingerkuppen ihrer linken Hand, welche zeigten, dass sie wohl ein Saiteninstrument gelernt hatte. Ihre Augen strahlten nun eine gewisse Strenge und Gefasstheit aus, nicht mehr die alles erdrückende Traurigkeit und Einsamkeit.
Ihr Blick wanderte unauffällig erneut zu Manuelas Händen. Kein Ring. Weder rechts noch links. Das Fräulein hob eine Braue. Die Prinzessin hatte sie nicht verheiratet. Sie selbst wusste nur zu genau, was es bedeutete, wenn man im direkten Dienst der königlichen Familie stand. Sie selbst war eine Zeit lang die Hauslehrerin der Prinzessin gewesen und der Kaiser hatte mehrmals versucht seinen Dank dadurch zum Ausdruck zu bringen, ihr eine „gute Partie" zu beschaffen. Den Grund, warum sie jeden der Männer hartnäckig ablehnte, weigerte sie sich einzugestehen und mit Blick auf die vorrangegangene Diskussion mit Manuela fühlte sie bei diesem Gedanken ein erschreckend einengendes Gefühl in der Brust. Es war unangenehm und schien ihr die Luft zum Atmen zu nehmen. Über all die Jahre war sie für sich selbst zu dem Entschluss gekommen, dass Männer sie davon abhalten, würden ihrer Berufung nachzugehen, zudem war ihren ihr die männlichen charakterlichen Neigungen wesentlich zu schroff und ungestüm. Jenes hatte sie sich immer wieder selbst als Erklärung gegeben, wenn sie vor einem konventionell attraktiven Mann stand, ohne eine Spur von romantischer Zuneigung zu fühlen.
Ihr Blick wanderte weiter, um ihre Gedanken wieder in etwas unbeklemmendere Gefilde zu führen. Manuela hielt sich aufrecht und elegant, anders als das Kind, welches seine Mutter verloren hatte und sich kaum dazu durchringen konnte, die Schultern zu einer adretten Haltung zu heben. Eine schöne, schlanke und vor allem intelligente junge Frau, fasste Bernburg zufrieden für sich selbst zusammen.
Manuela war fertig ihre Dokumente zu sortieren und feinsäuberlich in eine Mappe zu legen. Ihr war der Blick des Fräuleins nicht entgangen und so sehr sie sich wünschte, sie würde wegsehen, um weiteres Erröten ihrer Seits zu vermeiden, sie tat es nicht. Etwas nervös biss sie sich für einen kurzen Moment auf die Unterlippe, bevor sie sich der Oberin wieder zuwandte. „Es ist schon spät", bemerkte sie mit Blick auf die Uhr, um eine Ausrede zu haben, die stechend blauen Augen des Fräuleins zu vermeiden. Bernburg wandte den Kopf in ruhiger Manier und nickte dann zustimmend. „In der Tat". Es wurde still, keine der beiden rührte sich für einen Augenblick, ganz als wolle keiner von beiden wirklich das der andere geht. Manuela hielt ihren Blick gegen Wand gerichtet, scheinbar in Gedanken versunken, während der aufmerksame Blick Bernburgs an den leicht erröteten Wangen hängen blieb. Ihre Lippen verzogen sich zu einem neugierigen Lächeln.
Schließlich gelang es Manuela das Fräulein anzusehen, sie schluckte, mit etwas mehr Widerstand als erwartet, doch streckte sie schließlich die Hand aus. Bernburg nahm sie von ihrem Platz aus an und beobachtete, wie ihre ehemalige Schülerin in einen tiefen Knicks sank. „Gute Nacht, Frau Oberin". Noch bevor sie loslassen konnte, spürte sie wie die Oberin den Griff um ihre Hand etwas verstärkte. Verwirrt sah sie auf. Wieder schluckte sie schwer. Die Oberin hatte einen Arm auf dem Tisch abgelegt, saß elegant aufrecht, ein Bein über das andere geschlagen, ihre Hand umfasste sanft und doch bestimmt die ihre. Ein sanftes Lächeln umgab ihre Lippen und in ihren Augen glänzte etwas, das Manuela kaum zu deuten vermochte. Konnte es Stolz sein? Lieblichkeit? Freude? Sie fühlte wie ihr Herz ihr aus der Brust zu springen drohte bei diesem majestätischen Anblick.
„Ich denke, nun da du keine Schülerin mehr bist, sollte „Elisabeth" vollkommen ausreichen", sie nickte ihr sanft zu und ließ ihre Hand sinken. Für einen kurzen Moment vergaß Manuela aufzustehen. „Ich darf Sie beim Vornamen nennen?", fragte sie nach und erhielt ein vertrautes Blinzeln zur positiven Antwort. „Und das „Sie" kannst du in privaten Unterhaltungen auch weglassen". Jetzt glaubte die junge Lehrerin sie könnte jeden Moment in Ohnmacht fallen, denn ihr Herz schlug vor Freude und Aufregung so schnell, dass sie begann sich schwindelig zu fühlen. Sie fand keine Worte, welche ihres Dankes angemessen schienen, darum sank sie noch ein letztes Mal in einen Knicks, erbat mit einer offenen Hand die Hand der Oberin, welche sie nach kurzem Augenbrauen-runzeln in ihre legte. Mit kaum Kraft umfasste sie die weiche Hand der Älteren und führte sie zu ihren Lippen für einen Handkuss. Danach erhob sie sich, nahm ihre Sachen und lief zur Tür. Sie sah nich, dass die Hand der Oberin noch für einen Moment in der Luft verweilte, als sei sie von der Geste überrascht gewesen.
An der Tür drehte sich Manuela wieder um, die Oberin hatte die Hände nun im Schoß gefaltet. „Gute Nacht.", ein letzter Knicks und Manuela verschwand zur Tür hinaus. Bernburg sah ihr nach, dann auf ihre Hand, über welche sie mit dem Daumen der anderen Hand strich. „Gute Nacht, Manuela".
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