I - Das Ende der Schauspielerei
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Like rain I fall, but like water I flow.
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Nachdenklich wanderte ihr Blick über das Schachbrett, den Kopf seicht auf ihre rechte Hand gestützt. Die schwarzen und weißen Figuren waren lichter geworden und es schien nur noch eine Frage der Zeit bis der Gewinner festzustehen vermochte. „Springer auf B5", sagte sie schließlich und stellte die weiße Figur auf benanntes Feld. „Du bringst mich in Verlegenheit, wenn das so weiter geht, muss ich mich wohl oder übel geschlagen geben", lachte die Prinzessin auf und lehnte sich in ihrem Sessel zurück, die Figuren nur für einen Moment betrachtend, bevor ihr wachsamer Blick wieder zu der jungen Frau ihr gegenüber zurückkehrte.
Gekleidet in einem langen mitternachtsblauen Rock, einer weißen Bluse und einem farblich zum Rock passenden Jäckchen mit goldenen Knöpfen, saß sie der Prinzessin entspannt gegenüber. Ihre braunen Haare waren der Mode entsprechend hochgesteckt und ihren Hals zierte eine simple goldene Kette. Ihr Ausdruck war entspannt, doch verriet ihre Haltung eine gewisse Nachdenklichkeit, welche sich nicht auf das Schachspiel zu konzentrieren schien. Ein zartes Lächeln umspielte die Lippen der Prinzessin. „Mit jedem vergangenen Jahr wurdest du deiner Mutter ähnlicher. Es gibt Tage, an welchen ich glauben könnte mit ihr Konversation zu betreiben. Du bist seit deinem Abschluss vor fünf Jahren wirklich beachtlich gereift, Manuela."
Manuela sah auf und in die grünen Augen der Prinzessin, welche sie freundlich anlächelte. Sie setzte sich auf und erwiderte das Lächeln. „Ich danke Eurer Hoheit für die freundlichen Worte", sprach sie und beobachtete wie die Prinzessin mit ihrer Königin ihren Turm von Brett beförderte. Ja, ihr Abschluss. Eigentlich bevorzugte Manuela es so wenig wie nur möglich an ihr Leben im Stift zu denken, denn auch, wenn sich nach dem Verschwinden des Fräuleins von Bernburg einiges verändert hatte, so war das Schulhaus doch nie wieder dasselbe gewesen. Unabhängig von ihren Gefühlen für ihre damalige Lehrerin, waren die Räume doch für alle Mädchen von da an stets kalt und unbarmherzig geblieben. Das sie ab dem Vorfall das Fräulein von Racket als ihre neue Klassenlehrerin zu bezeichnen hatten, war natürlich auch ein maßgeblicher Faktor gewesen, welcher diesen Eindruck nur umso klarer machte.
Was das Fräulein von Bernburg wohl nun gerade tat? Seit dem Ereignis von vor acht Jahren hatte Manuela nichts mehr von ihr gehört. Sie wusste nicht wo sie war oder was sie seit ihrer Kündigung tat und sie fragte sich auch, ob sie es überhaupt wissen wollen würde. Die Trennung von der ihr so wichtigen Lehrerin, hatte die junge Dame damals an den Rand der Verzweiflung gebracht. Etwa ein halbes Jahr hatte es gedauert da sie wieder ihre Pflichten aufnahm und weiterzumachen begann. Ihr Ziel war es gewesen eine Schülerin zu sein, auf welche Fräulein von Bernburg stolz gewesen wäre und tatsächlich verließ Manuela den Stift 1912 mit einer Auszeichnung für besonders gute Leistungen.
„Du wirkst so nachdenklich, mein Kind", merkte die Prinzessin an und nahm einen Schluck ihres Tees, „Ist es wegen dem Gedanken, von welchem du mir letzte Woche berichtet hattest?" Manuela seufzte leicht und beugte sich etwas nach vorn und leicht über das Brett. „Unteranderem, ja", antwortete sie knapp und setzte ihre Königin vor den König der Prinzessin, mit einem Feld Abstand und lehnte sich zurück. „Schachmatt." Die Stirn der Prinzessin legte sich für einen Moment in Falten als sie das Spielbrett überblickte und nach einem Ausweg für ihren König suchte. „Es war wohl doch ein Fehler dich zu unterweisen, du lernst schnell" „Ich hatte in Euch eine sehr gute Lehrmeisterin, Eure Hoheit."
Eine kurze Weile schwiegen beide Frauen bis die Prinzessin das Gespräch wieder aufnahm. „So, nun berichte mir aber. Wie hast du dich entschieden?" Für einen Moment suchte Manuela nach den richtigen Worten bevor sie zu sprechen begann: „Ich finde das Kompliment Eurer Hoheit sehr freundlich mich weiterhin am königlichen Hoftheater spielen sehen zu wollen, wenn der Krieg vorüber ist, jedoch befürchte ich, dass ich die Schauspielerei niederlegen werde. Es war für mich keine leichte Entscheidung und ich hoffe, dass Eure Hoheit sich dem bewusst sind." Sie ließ ihre Worte für einen kurzen Moment wirken. In den Augen der Prinzessin spiegelte sich Bedauern und ihre Haltung versteifte sich etwas, dennoch wartete sie bis Manuela fertig war. „Es betrübt mich sehr das zu hören, Manuela. Dich spielen zu sehen war stets eine äußerste Freude." „Und ich danke Euch für dieses Kompliment höchster Ordnung, doch werde ich anderen Orts mehr gebraucht."
Diese Antwort überraschte die Prinzessin. Sie hatte sich also schon nach einer anderen Stelle umgesehen. Doch welches Theater sollte sie mehr anziehen, als das höfische? Die Prinzessin kam nicht umhin einen Hauch von Eifersucht zu fühlen. „Und welches Theater in diesem Lande sollte dich mehr brauchen als das Hoftheater?", fragte sie mit einem spitzen Lächeln und gekonnt humorvoll, obgleich in ihren Worten eine leichte Schärfe lag, welche Manuela nicht überhörte. „Ihr missversteht mich. Ich habe nicht vor an ein anderes Theater zu gehen." Nun war es die Prinzessin, welche sich aufrecht hinsetzte und die Frau, welche nur ein paar Jahre jünger war als sie selbst, ungläubig ansah. „Du gedenkst die Profession zu wechseln?", ihre Stimme war eine Mischung aus Unglauben und Überraschung. Manuela nickte bestimmt. „Ich habe neben meiner Tätigkeit als Schauspielerin für Euren Hof eine Abendschule besucht und das Studium zur Lehrerin absolviert. Jetzt wo sich der Krieg dem Ende neigt, möchte ich als Lehrerin tätig werden." Die Prinzessin schluckte ihren Unmut herunter und versuchte sich diesen auch nicht in ihrer Tonlage anmerken zu lassen. „Wen möchtest du denn unterrichten? Die Männer, sofern alt genug, sind an der Front und die Mädchen sind in den Fabriken tätig und unterstützen ihr Vaterland. Was lässt dich zudem so sicher sein, dass der Krieg bald ein Ende finden wird?" Ein Lächeln erschien auf Manuelas Lippen, als habe sie mit dieser Frage gerechnet. „Euer Hoheit unterschätzen das hohe Bürgertum. Gewiss nicht alle Mädchen arbeiten in Fabriken, so wie nicht alle Herren in den Krieg gezogen sind. Wer Geld und die Möglichkeit hat ist geblieben und schickt seine Töchter nur zu gern in den Konvent. Ebenso, Euer Hoheit, ist es wichtiger denn je junge Frauen auszubilden. Sie werden das Land führen müssen, so lange ihre Väter und Brüder verletzt und unfähig dazu sind", sie nahm einen Schluck aus ihrer Tasse und stellte sie zurück, „Und was den Krieg angeht, so kann ich Euch versichern, dass er bald enden wird. Die Männer aller Länder sind mental erschöpft und die Hungerblockade der Engländer wird uns früher oder später zwingen mit dem Krieg treiben aufzuhören."
Darauf wusste die Prinzessin nichts zu erwidern, doch kam sie auch nicht umhin eine gewisse Ähnlichkeit in ihrer Art des Sprechens zu einer bestimmten Person zu erkennen. Sie lehnte sich etwas vor. „Du sprichst wie Elisabeth von Bernburg. Erinnere ich mich richtig, dass sie einmal deine Lehrerin war?" Bei dem Name schreckte Manuela unwillkürlich etwas zusammen. Hatte sie sich wirklich wie ihre ehemalige Lehrerin angehört, deren Stimme und Sprechweise sie seit acht Jahren nicht mehr gehört hatte? Sie ertappte sich dabei, wie sie versuchte sich krampfhaft an die genaue Tonlage der Stimme des Fräuleins zu erinnern, doch alles was geblieben war, war ihr Lachen. „Ihr liegt richtig mit der Annahme", antwortete sie nach kurzem Schweigen und sah zu, wie sich die Prinzessin wieder nach hinten zu lehnen begann. „Du scheinst ihr nacheifern zu wollen", stellte sie fest und fixierte Manuelas braune Augen. „Das ist nicht der Grund meiner Entscheidung, Hoheit", bestand Manuela, die aufkommenden Erinnerungen an das Fräulein unterdrückend, „Ich möchte eine Schule nicht weit von Potsdam unterstützen, welche erst vor kurzem eine neue Oberin bekam. Ihnen fehlt es an Lehrerinnen und die Arbeit mit den Mädchen wird mir Freude bereiten. Ich bitte eure Hoheit das zu verstehen." Es fiel Manuela schwer dem Blick der Prinzessin Stand zu halten, denn sie konnte deutlich fühlen, dass ihr die Entscheidung nicht zu gefallen schien. Auch das freundliche Lächeln auf ihren Lippen konnte darüber nicht hinweg täuschen.
Die Prinzessin stieß Luft durch ihren Mund aus und sprach dann mit diesem sanften Humor in ihrer Stimme: „Erst erzählst du mir, dass du während du unter mir angestellt warst ein Studium absolviert hast ohne mich zu konsultieren und jetzt offenbarst du mir, dass du mich für eine Schule außerhalb Potsdams hier zurück lassen willst." Manuela wusste nicht was sie erwidern sollte. Nie hatte sie die Prinzessin so informell und emotional erlebt, was sie selbst nur in ihrer Haltung versteifen ließ.
„Ich bitte Eurer Hoheit um Verzeihung", sagte Manuela schließlich und senkte den Kopf ein wenig, doch die Prinzessin hob ihre Hand und machte eine Bewegung als wolle sie die Entschuldigung wegscheuchen wollen. „Du musst dich nicht entschuldigen, wenn es das ist, was du dir wünschst, werde ich dich schwerlich aufhalten können." Wieder setzte sie sich auf und fixierte die junge Frau vor sich mit einem neugierigen Blick. In der leichten Eifersucht, welche sie überkommen hatte, war ihr das winzige Zucken Manuelas aufgefallen als sie den Namen Elisabeth von Bernburg nannte. Sie fragte sich weshalb dem wohl so war und sagte nach einer Weile wie scheinbar Zusammenhanglos: „Jetzt wo ich darüber nachdenke war die Kündigung von Fräulein von Bernburg eine sehr plötzliche Entschließung. Schade um sie, ich hörte sie war den Mädchen eures Stiftes ein großes Vorbild." Manuela sah von ihrem Schoß, in welchem sie ihre Hände gefaltet hatte, auf in das lächelnde Gesicht der Prinzessin. Ihr eigenes Lächeln kam ihr matt vor und eine drückende Traurigkeit begann sich an ihr Herz zu klammern als sie tief einatmete um der Prinzessin so neutral und doch so ehrlich wie möglich zu antworten. „Sie war durchaus eine sehr bewundernswerte Frau. Ich erinnere mich, dass viele von uns sie stets als ein Vorbild sahen. Das Fräulein erzog uns mit viel Menschlichkeit, etwas, das für unser Verständnis im Stifsleben oft zu kurz kam. Eine wahrlich einzigartige Lehrerin, zu welcher es sich lohnte aufzuschauen."
Sobald sie geendet hatte, konnte sie fühlen wie ihr Herz höher und stärker in ihrer Brust zu schlagen begann. Die Gedanken an Elisabeth von Bernburg schmerzten sie zutiefst und zeigten ihr einmal mehr auf, wie tief die Wunden waren, welche damals entstanden sein mussten. In ihrem Kopf tauchte das Bild des Fräuleins auf, wie sie sie damals unterwies und wie sie sie damals im Treppenhaus begrüßte...
„Du scheinst sie gemocht zu haben. Wirklich schade, dass sie nicht da war als du deinen Abschluss entgegen genommen hast. Sie wäre mit großer Wahrscheinlichkeit sehr stolz auf deine Leistungen gewesen." In Gedanken verloren antwortete Manuela nur: „Mit Sicherheit, Euer Hoheit." Kurz betrachtete die Prinzessen die in Gedanken versunkene Frau. Ihr entging der Schmerz in ihren Augen nicht. Sie beschloss es dabei zu belassen und erhob sich. Manuela tat es ihr gleich. „Nun, ich glaube du solltest dich auf den Weg machen, es wird bald dunkel." Die Prinzessin reichte Manuela die Hand, welche sie annahm und in einen tiefen Hofknicks sank. „Ich danke eurer Hoheit für die Zeit.", bedankte sich Manuela und erhob sich. „Ich hoffe du findest dein Glück and dieser Schule, Fräulein von Meinhardis." Mit diesen Worten verließ die Prinzessin das Zimmer und Manuela folgte kurz darauf.
Der jungen Lehrerin war es relativ leicht gefallen in Anwesenheit der Prinzessin die aufkommenden Erinnerungen an Fräulein von Bernburg zu unterdrücken oder bei Seite zu schieben, doch nun, da sie allein in ihrer Wohnung vor dem Kamin saß, kamen sie alle auf sie niedergeregnet. Zunächst waren es nur Bruchstücke, wie Ausschnitte aus ihrem Unterricht, wie sie Fragen stellte und sich in ihrem Buch Notizen machte. Nach und nach wurden aus einzelnen Fetzen der Vergangenheit ganze Szenen. Szenen wie die Nacht als das Fräulein sie zum ersten Mal auf die Stirn küsste um ihr eine gute Nacht zu wünschen, wie sie ihr versprach sich immer wieder zu sagen, dass sie glücklich sein würde. Sie erinnerte sich an das Schauspiel, die Probe und natürlich auch den Kuss. Der Kuss...Heute wusste sie nicht, wie sie damals den Mut hatte fassen können Elisabeth von Bernburg einfach zu küssen. Vielleicht war es die Rolle des Romeos gewesen, welche ihr eine gewisse Sicherheit gegeben hatte und als ehemalige Schauspielerin bei Hofe, wusste sie nur zu gut, dass man den eigenen Charakter zu Teilen ablegen musste, wenn man eine Rolle vollends zu verkörpern suchte. Damals jedoch muss es anders gewesen sein, denn war sie da bei weitem noch keine allzu gute Schauspielerin. Sie musste ihrem Herz gefolgt sein...
Sie schloss ihre Augen und holte den Moment des Kusses in ihre lebendige Erinnerung zurück, schwelgte kurz in dieser, bevor die letzte Erinnerung an das Fräulein diese Erinnerung überschattete. Sie sah wie das Fräulein sich am Geländer festhielt und langsam mit einer Stimme, welche nur einem Engel gehören konnte, ihren Namen sprach. Nach diesem Moment, hatte sie sie nie wieder gesehen.
Manuela sog scharf die Luft ein als alte Gefühle sie zu übermannen drohten. Sie erhob sich von der Couch und massierte sich die Schläfen, während sie versuchte sich zu beruhigen. Es war acht Jahre her. Sie hatte ein gutes Leben, mit welchem sie glücklich sein konnte. Fünf Jahre lang war sie die Hauptdarstellerin in vielen Stücken des Hoftheaters gewesen, hatte Kontakte zu erfolgreichen und hohen Persönlichkeiten knüpfen können, hatte nebenbei von ihrem wirklich guten Gehalt das Studium zur Lehrerin absolviert, um nun nach einer schauspielerischen Pause von einem halben Jahr als Lehrerin in einem Konvent zu beginnen, welchen sie nicht kannte.
Eigentlich gab es für sie, den Krieg in Europa aus dem vor gelassen, keinen Grund sich zu beklagen oder unglücklich zu sein. Das Fräulein hatte damals recht gehabt als sie sagte, es sei zu ihrem Besten, dass sie ginge. Manuela hatte sich zu einer erfolgreichen, reifen Frau entwickelt, war nicht mehr das Mädchen, welches Fräulein von Bernburg gekannt hatte.
Mit schnellen Schritten lief sie in das Bad, um sich zu erfrischen, wobei ihr Blick unweigerlich in den Spiegel fallen musste. Mit einem Mal war ihr Kopf still. Alle Gedanken schienen verstummt zu sein, außer einer. Es waren die Worte der Prinzessin: „Du scheinst ihr nacheifern zu wollen." War dem so? Wenn Manuela es sich genau überlegte, wusste sie nicht, warum sie das Lehrstudium angestrebt hatte und dazu noch das Studium der Germanistik und der Literatur. Sollte es wirklich dieser letzte Funken der Liebe sein, welcher sie hoffen ließ, das Fräulein von Bernburg wieder sehen zu können, wenn sie in einen Stift ging um zu unterrichten? Selbst wenn, war es doch ein absurder Plan. Wer vermochte schon zu wissen ob das Fräulein noch als Lehrerin tätig war oder eine andere Profession angenommen hatte, so wie sie jetzt. Wer wusste schon, ob sie überhaupt noch in Preußen oder gar im Kaiserreich war?
„Ach, wenn ich sie doch noch einmal sehen könnte...", seufzte sie und erschrak selbst über diese Gedanken. Nein, wenn allein die Gedanken an sie sie so durcheinander brachten, was vermochte dann ihre Person auszurichten? Es war besser so wie es jetzt war, beschloss Manuela und sah sich selbst in die Augen. Es war besser so.
Sie wirbelte herum und verließ das Bad wieder. Das neue Semester würde in zwei Wochen beginnen und es gab vieles was sie vorzubereiten hatte. Schließlich wollte sie einen guten Eindruck bei den Mädchen hinterlassen und natürlich bei der neuen Oberin des Stiftes, denn wenn sie eines wusste, dann wie wichtig es war, sich mit der Oberin zu verstehen.
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