Unter Gottes Augen

Im Dom von Helsinki leuchten noch einige Laternen zu später Zeit. Sie beleuchten die weißen Wände, die große helle Kuppel, die Statuen von Luther und Melanchton. Auf den hölzernen Bänken, die durch viele tiefe Risse gekennzeichnet sind, liegen noch einige Gesangsbücher, die Sofia einsammelt. Sie kommt aus dem nahegelegenen Konvent, sie ist eine Nonne, und hat am jetzigen Abend noch Küsterdienst.

Schließlich wird sie die Kerzen löschen, einen letzten Blick in das göttliche Heiligtum werfen und die schweren Holztüren schließen. Sie hat nur einen kurzen Weg, bevor sie durch das Portal des Gemeinschaftshauses schreiten kann. Sie läuft über die letzten Treppen, vorbei an einigen Herren und Damen, die sie im Licht der Laternen erblicken kann. Die Nacht war recht bedeckt, die Sterne und der sonst so blendende Mond war nicht mehr zu erkennen. Während sie durch die Leute sieht, die wohl einer Veranstaltung beiwohnen, erblickt sie am hinteren Ende ein ihr bekanntes Gesicht. Jemand, der ihr irgendwo her bekannt sein musste.

Ihre Schritte werden schneller, und obwohl der Mann sie nur beäugt von einer fernen Gasse, so fühlt sie sich doch verfolgt, schwer atmend betritt sie dann den Flur ihres Hauses, spricht zu Gott und umklammert panisch das Kruzifix. Sie tat es immer, wenn sie vor etwas Angst hatte und nicht wusste, was sie machen sollte. Dann war Gott bei ihr und sie fühlte sich auf seltsame Weise mit ihm verbunden. »Als hätte er sie geküsst« sagte sie mal, während die anderen Nonnen nur nickten und in der Küche ihren Dienst verrichteten.

Sie schreitet an alten Gemälden vorbei, zündet eine Kerze an und es kommt ihr vor, als würde sie die Geschichte des Ortes schon auswendig kennen. Sofia war als kleines Kind vor die Türschwelle abgelegt worden, es passierte vor einigen Jahren, so erzählte man es ihr. Sie selbst hatte natürlich keine Ahnung davon, wie auch. Sie genoss eine gute Erziehung, konservativ und streng, sie bedankte sich jeden Tag dafür.

Bevor sie sich zu Bette legt und in eine ganz andere Welt entführt wird, da sieht sie noch einmal durch das kleine Fenster, welches sie »ihr eigenes« nennt in einer Welt, der Gott gehört. Sie wohnt direkt unter dem Dach, ist der Sonne näher als anderen, und hat oftmals einen guten Überblick über das Geschehen. Da starrt sie also durch die Scheibe, durch einen viergeteilten grünen Rahmen und erblickt den jungen Mann erneut. Er steht in der Gasse, schwarzhaarig, bärtig, sie teilen sich ein ungefähres Alter. Er sieht zu den Menschen, wie sie zu ihm und dann tut sie es ihm gleich, betrachtet die Menge, die Laternen, eine Vorführung mit Heißluftballon. Er spielte Trompeten, sie hörte es die ganze Nacht lang und scheute nicht, sich der Versuchung hinzugeben.

Am nächsten Tag regnet es und die Schwestern sind etwas bedrückt, »Sie kennen es eigentlich gar nicht anders« kann Sofia auf dem Flur vernehmen. Man weckt sie, sie betet zu Gott, ergibt sich ihm und sie geht die knarrende Diele hinab. Gleich wird sie bemerkt, freudig empfangen und man lacht, Sofia hätte eigentlich die Beete gießen sollen. »Dass du immer so ein Glück hast!«, scherzte man, aber nicht neidisch, so war man nicht. Unter dem Abbild von Jesu schält man Tomaten, sie werden später gekocht, Kartoffeln werden eingelegt, die grauen Umhänge zurück an die Wand gehangen.

»Was wird heute gelesen?«

»Der zweite Brief an die Korinther, fünfzehntes Kapitel.«

»Die Verwandlung der Lebenden und der letzte Sieg«, murmelt dann Sofia für sich.

»Sprich oder schweig«, sagt man, sie nickt und stimmt zu, Verwandlung, denkt sie.

Sofia spielt immer mit ihrem Ohr, wenn sie denkt, wenn sie nervös ist, dann spielt sie auch manchmal mit ihren braunen Haaren. »Man habe ihr es schon so oft versucht auszutreiben«, sagen die anderen dann immer und scherzen: »Nicht das Luzifer noch seine Finger dort im Spiele hat«.

Während sie so dann andere Arbeiten erledigt, die Schwestern bei der Vorbereitung und Besprechung mit dem Herrn Pfarrer sind, da sieht sie plötzlich aus dem Fenster, dort im Regen, den Mann von gestern, als wäre er an der selben Stelle wieder, hätte sich nicht bewegt, sie huscht hinter den Vorhang und vergisst das ganze Spektakel. Sie bemerkt eine graue Wolke, als sie wieder zu ihm gucken muss.

Die Tage vergingen und es hörte nicht auf, zu regnen. Stundenlang ergoss es sich über die Dächer von Helsinki, über die Personen, über den Mann in der Gasse den Sofia immer nur zufällig entdeckte, über die Kirche und über den Heißluftballon, über die Menschen mit Hut und Kleid. Es war Regenzeit in Finnland, nichts ungewöhnliches, eine Zeit in der man eher das eigene Heim entdeckte und die im engeren Austausch zu Gott war. Die Schwestern deuteten die Zeit danach immer als Befreiung, als Neuanfang, als Beginn des neuen Jahres.

Sofia legte ihr Leben zeitlebens in die Hände von ihrem Gott, dem Bewahrer ihrer Erde und der Welt, es gab nur einen, ihn, doch wurde es in letzter Zeit immer schwerer zu widerstehen. Sie wollte in die Lüfte, sie wollte atmen, sie wollte leben. Sie wollte frei sein, aber nein, sie durfte nicht, warum dachte sie das? War sie so undankbar mit dem, was ihr geschenkt wurde? Warum wollte sie nur mehr, neues bestreben warum dachte sie? Sie hört auf und ließt einige Stunden länger in der Kapitel, während sie stets an ihrem Ohr spielt.

»Die Tage werden nicht heller«, sagt sie dann zur Oberschwester, als sie im Dom sitzen. Viele Menschen sind hier, sie sind auf geputzten Fliesen gelaufen, neue Kerzen brennen und der zweite Brief an die Korinther gelesen, der Pfarrer hatte es so arrangieren lassen.

»Aus der Dunkelheit soll ein Licht aufleuchten! Genauso hat er es in unseren Herzen hell werden lassen« wiederholt die Oberschwester dann die Worte des Pfarrers und Sofia steht auf und legt die Haube ab. Sie sagt nichts, während sich ihre langen braunen Haare befreien und entstetzte Gesichter ihren Weg verfolgen. Sie hatte den Boden gewischt gehabt, nun war er wieder dreckig.

Sie geht die Stufen hinab und blickt auf die schwarzen Wolken, die kurz davor sind, die Stadt einzunehmen. Der junge Mann steht in der Gasse, wie sie es dachte und er spielt seine Trompete. Da fragt sie ihn: »Wer bist du eigentlich« und er entgegnet dasselbe, ehe sie gemeinsam die Straße hinablaufen.

Die Wolken sind hier ihnen und verfolgen sie, ja, sie scheinen immer näher zu kommen, sie scheinen Verderben zu bringen und so gehen die beiden in seine kleine Wohnung, sehen gemeinsam aus einem viergeteilten Rahmen auf die kleinen Gassen, die sich vor ihren Augen auftun. Es sit, als hätten sie die Welt in der Hand.

Die beiden erzählen sich Geschichten und es wird deutlich, dass sie gar nicht so unterschiedlich sind, wie sie erst gedacht haben. Sie verstehen sich und er lacht, sie lacht, sie beide, sie atmen die Luft ein, und sinken in den Schlaf. Mehrere Tage verbringen sie gemeinsam, hören nicht auf die anderen, Leben für sich und gemeinsam und sie berühren sich. Ihre Herzen, ihre Seelen, sie berühren einander und sehen, wie es aufhört zu regnen.

»Denk an mich«, sagt er ihr dann und verschwindet an einem der kommenden Tage. Sie bleibt in der Wohnung zurück, ein geteiltes Herz eint die beiden und Schreie ziehen durch die Straßen. Eine Mutter weint um ihr Kind, ein anderes schreit, man ruft und einige Menschen fallen in den Gassen um. Die Laternen beleuchten die Gefallenen, der Heißluftballon fliegt vorüber und eine graue Dunstwolke steht im Zimmer. Durch die vielen kleinen Bruchstellen kam er in ihr Leben, er nimmt sie ein und Sofia weicht zurück.

»Sie solle hier warten«, sagte er, und sie tat es. Sie hatte es zu tun und doch entschließt sie sich zu gehen, für ihr Leben zu gehen, für seins. Sie schließt eine Tür, sieht zurück und geht dennoch weiter. Der Boden wird eine Falle, sie küsst ihn und kann nicht mehr aufstehen. Was war nur geschehen? Ihr war schwindelig, sie wollte schlafen, zur Sonne, das Licht, es war doch so nah? Sie stand auf und geht weiter, hustet, hält sich ein Tuch vor ihrem Gesicht, hinter ihr bricht es zusammen.

»Waren das die Erinnerungen?«, sie hört keine Trompete und sieht die Finger von ihr Schwarz, sie spürt sie kaum noch, man zerrt sie zurück: »Sei sie denn besessen?«

Es war warm, wohin sie gehen wollte. Doch die Wärme zerstörte das, was die Menschen aufgebaut hatten. Man reichte Wasser und Sofia versuchte zu atmen, war sie besessen? Die Welt brannte, ihr Herz tat es auch, Mauern fingen Feuer wie ihr verblendetes Herz.

»Er würde ihr Geschenke mitbringen« sagte er und doch gab er ihr es bereits, eine Erinnerung, einen Tag, mehrere, Glück, ein Geschenk, was man nicht kaufen kann. Er versiegte in Träumen und sie tat es ihm gleich, doch war sie nun nicht viel mehr anders als er. Die grauen Wolken lösten sich, er Regen hörte auf und sie stand in einer Gasse allein.

Der Himmel ist bedeckt von Wolken, sie steht und spielt Trompete, sie verdient sich etwas geld von dem Talent, dass sie einst bewunderte. Der Gott ihrer Zeit war ihr viel näher und sie wusste es, aber er war nun mal ein wenig wie sie: auch ein gefallener Engel. Sie spielte an diesem Tage noch lange Trompete, sah den Heißluftballon und Männern mit Hut und Frauen im Kleid. Eigentlich war es fast wie immer, es regnete nicht, und sie spielte auch nicht mehr an ihrem Ohr. Sie sah dann durch Fenster und erblicke einen jungen Mann, der sie verwundert verfolgte. 

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