4 In Gedanken
Wie der Schiedsrichter, bei einem Tennisspiel, schaute ich immer wieder den schlangenlinienförmigen Weg auf und ab. Rechterhand viel er sanft in die Tiefe. Und ich konnte auch ohne Objektiv eine gewaltige Strecke überblicken. Aber sehen konnte ich sie trotzdem nicht. Linkerhand befand sich zwar ein Hügel, aber in der kurzen Zeit, seit der sie gegangen war, hätte sie trotzdem nicht soweit kommen können, als das ich sie nicht mehr sehen hätte können! Dennoch blieb sie verschwunden, wie das perfekte Licht, das ich für meine Bilder brauchte. Und genau das war das Problem, weshalb ich wie ein abgefuckter Idiot hier stand und immer hin und her schaute.
Ich wusste einfach nicht wo hin.
Die Tasche meiner Kamera achtlos in der Hand stand ich da und war schon kurz davor zu glauben, dass sie sich vielleicht in eines dieser Fabelwesen verwandelt hatte, die den Brunnen zierten, als ich diesen Gedanken wieder verwarf.
Noch gestern hätte ich es für möglich gehalten, das die Ausgeburt der Hölle aus diesem entsprungen war, doch heute war diese Vorstellung einfach lachhaft. Wie sollte dieses liebreizende Wesen, auch nur ansatzweise, etwas mit diesem Schandfleck zu schaffen haben.
Zugegeben, da war etwas an ihr, das ich mit Worten nicht beschreiben konnte, doch war meine Einschätzung, sie wäre vielleicht dem Brunnen entstiegen nicht gänzlich von der Hand zuweise.
Und so, zog ich meine Eos doch hervor und begann von jedem noch so kleinen Wesen, dessen Fratze dieses altertümliche Ungetüm zierte ein Foto anzufertigen.
Schon als ich allerdings das letzte Foto schoss, war ich mir sicher, die Mühe war um sonst. Keines hatte auch nur ansatzweise Ähnlichkeit mit ihr.
Und doch war da was. Was genau dieses Etwas war, sollte mir aber erst viel später klar werden.
Ich wollte gerade meine Kamera wieder wegstecken, als mir etwas anderes auffiel.
In der ungezähmten Wildnis, die sich auch auf der baumabgewandten Seite, ebenso ausbreitete, wie überall sonst, entdeckte ich einen dunklen Fleck.
Ja, ihr werdet jetzt sicher denken, Flecken gibt es überall, aber hier, hier zwischen all dem Grün, war er etwas, das da nicht hingehörte.
Und ich sollte Recht behalten, doch war meine Entdeckung weitaus weniger bahnbrechend, als ich gehofft hatte. Die Dunkelheit, die sich im Gras ausbreitete, entpuppte sich nicht etwa, als ihr Versteck, oder ihr finsteres Haar, nein, es war schwarzes Stück Plastik. Für einen Teil von ihr, war es auch viel zu klein, doch wenn sie, wie ich glaubte, ein mystisches Wesen war, würde sie sich in alles oder jedes verwandeln können. So auch in dieses kleine Stück, das im hohen Gras, gleich neben einer von Dornen besetzten Diestel, auf dem Boden lag.
Es war nicht viel größer als mein Daumennagel, und ich begann mich schon zu fragen, wie ich es überhaupt hatte sehen können, als ich das leichte Funkeln bemerkte, das von ihm ausging.
Wie von ihrer Stimme angelockt, so zog mich nun das Glitzern dieses Teils an, das hier nicht hingehörte. Wie sie, die hier ebenso nicht hingehörte. Doch hoffte ich, dass sie sich bald so selbstverständlich in alles fügen würde, wie ich. Oder der Brunnen, der Baum oder auch jedes noch so kleine Blümchen, das sich in diese Einöde verirrt hatte.
Träumend drehte ich das platte Teil in den Händen hin und her. Strich nachdenklich mit den Fingern über den, schon deutlich abgewetzten Aufdruck, und steckte es schließlich, vorsichtig, wie eine zarte Linse aus Glas, zu all den Speicherkarten, Akkus und meiner Kamera in die Tasche.
Ich war mir beinahe sicher, dass ich das Mädchen meiner Träume gefunden hatte. Und damit meinte ich nicht den Engel, der sich einfach in Luft aufgelöst hatte, sondern, und da war ich mir fast absolut sicher, ich hatte sie als das gefunden in das sie sich verwandelt hatte und das nun wohlverwahrt in meiner Umhängetasche schlummerte.
Das das Quatsch war, war mir klar. Wobei, wer weiß. Ein dunkelhaariges Mädchen mit silbern glänzender Haut, das Gitarre spielte. Und nun nannte ich ein ebensolch dunkles Plektron, mit silberfarbenem Aufdruck mein eigen.
Es konnte gar nicht anders sein. Und nur deshalb, hatte ich sie auch auf dem Weg nicht finden können! Genau! So musste es gewesen sein!
Ihr seht, mein Hirn lief auf Hochtouren! Das das alles Unsinn war, musste ich viele, endlose Augenblicke später, dann doch endlich einsehen. Ich saß schon geschlagene sechs Stunden auf meinem Schreibtischstuhl und starrte das unscheinbare Blättchen an.
Ich hatte es auf mein Bett gelegt und wartete jetzt darauf, dass es sich in sie, zurückverwandelte. Leider passierte sbdolut gar nichts. Zumindest nicht auf meinem Bett! Dafür wurde meine Tür aufgerissen und...nein dummerweise stand nicht der Engel mit dem Teufelshaar vor mir, sondern der kleine Quälgeist, der sich meine Schwerster schimpfte.
Grinsend kam sie ins Zimmer gehopst und wollte gerade auf mein Bett springen, als ich sie gerade noch davon abhalten konnte.
Beinahe zärtlich nahm ich das Plektron an mich und barg es sicher in meiner schützenden Hand.
"Was hast du da?", wollte Kessy augenblicklich wissen. Natürlich war ihr nicht entgangen, dass ich wie ein Schachtelteufel aufgesprungen war und mich, zwischen sie und meinen Schatz geworfen hatte und legte jetzt neugierig ihren Kopf zur Seite.
"Was ist das?"
"Ein Plektron", erklärte ich ihr einsilbig.
"Wo hast du das her?"
"Gefunden."
"Wo?"
"Im Park."
"Und was macht man damit?" Langsam begannen mir ihre Fragen auf den Geist zu gehen. Ich antwortete aber trotzdem, da ich wusste, mein neugieriges Wiesel von Schwester, würde nicht eher Ruhe geben, bevor ich sie nicht zu ihrer Zufriedenheit aufgeklärt hatte. Und das dumme war, sie konnte wirklich hartnäckig sein!
"Musik."
"Was für Musik." Ich seufzte. Strich mit dem Daumen nachdenklich über den Aufdruck, drehte das Plastik, das Kessy noch immer mit Blicken durchbohrte, zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her und konnte mir ein verträumtes Grinsen nicht verkneifen.
"Wunderschöne Musik", antwortete ich ihr, was leider ein Fehler war.
"Zeig mal. Ich will auch schöne Musik hören." Sie krabbelte über mein Bett ganz dicht an die Kante heran. Stütze sich mit den Händen auf meinen Knien ab und hielt ihr Ohr dicht an meine Hand.
"Ich hör aber gar nichts!"
"So geht das nicht."
"Wie denn? Zeig doch mal!"
"Das kann ich nicht. Dafür braucht man eine Gitarre."
"Und dann?" wollte sie mit großen Augen aufmerksam wissen. "Schiebt man das da rein, und dann spielt es Musik ab? Wie bei einem CD Player?"
Ich lachte, wuschelte ihr durch die Haare und ließ das Plektron dann in meiner Hosentasche verschwinden.
"Nein, du Nervensäge." Ich schnappte mir das Mädchen vom Bett, klemmte es mir unter den Arm und trug sie Kopfüber aus dem Raum.
"Man streicht damit über die Seiten und wenn man gut ist, kann man schöne Musik machen."
"Wirklich?"
"Wirklich! Und jetzt komm. Mama hat gerufen."
Das hatte sie tatsächlich und es war nicht nur eine Ausrede, um ihr Geplapper zu beenden. Es war Zeit fürs Abendessen. Das ich hunger hatte merkte ich allerdings erst, als ich die Küche betrat. Es duftete köstlich! Nach Tomaten, Käse, Basilikum und Oregano. Beinahe konnte ich die Fideln Italiens hören, die mich mit ihrer Melodie in die Ferne lockten, aber nur fast. Denn das Schlachtfeld, das sich mir bot, war ohne gleichen! Und ließ mich eher glauben, ich wäre in einem überfallen Restaurant gekandet. Leere Tomatendosen, verschiedene Gewürze, Töpfe der unterschiedlichsten Größen und Formen, sowie Müll, frischer, kein alter, bedeckten fast jede freie Fläche.
Wie erstarrt blieb ich in der Tür stehen und ließ meinen Blick über das überraschende Durcheinander schweifen und meine Schwester zu Boden rutschen.
"Du hast gekocht!", stellte ich erstaunt fest und konnte es nicht verhindern, dass meine Augen immer größer wurden. Meine Mutter kochte nie. Also, wirklich überhaupt nie! Ich konnte mich an keinen Tag erinnern, an dem wir nicht von irgendeinem Lieferdienst etwas hatten bringen lassen. Doch heute!
"Jetzt tu nicht so überrascht! Ist es etwa verboten, zu kochen?", fragte sie säuerlich und stellte den letzen Topf auf den Tisch.
"Nein. Ich. Es kommt nur überraschend."
Ich setzte mich an den Tisch, Kessy gegenüber. Sie war bereits auf ihren Platz geklettert und hatte ihr Besteck zur Hand genommen, mit dem sie jetzt auf dem Tisch herumpolterte.
Gerade als Mom ihren Teller mit Nudeln belud, betrat mein Vater die Küche. Er trug noch sein Holster und die Waffe, die er für seine Arbeit brauchte. Wie immer war er in Zivil. Mein Dad war kein normaler Cop. Er war irgendein höhergestelltes Tier, beim Geheimdienst oder so. Was genau wusste ich nicht. Nicht, dass ich ihn nicht danach gefragt hätte, doch geantwortet hatte er mir nie.
"Hallo Schatz." Er drückt meiner Mutter einen Kuss auf die Wange, Kessy einen auf den Scheitel und mir nickte er knapp zur Begrüßung zu. Er sah etwas abgespannt aus. Was allerdings nicht selten vorkam. Dann verließ er uns wieder. Allerdings nur kurzfristig.
Als er aus dem Büro zurückkam, diesmal ohne die Waffe, setzte er sich zu uns an den Tisch und füllte sich eine großzügige Portion Tomatensoße auf seine Nudeln, doch mich durchzuckte bei seinem Anblick ein Gedanke, den ich auch schon früher hätte haben können.
"Dad?", fragte ich so beiläufig es mir möglich war. Dabei zitterte meine Stimme und ich hatte große Mühe ihn nicht anzustarren.
"Hm?", knurrte er kauend.
"Weißt du, ob sich hier in letzter Zeit irgendwelche Zuwanderer herumtreiben?" Okay. Das Mädchen war mit Sicherheit kein Flüchtling. Aber wenn sich in unser verschlafenes Nest jemand wagte, kam es einer Flucht irgendwie schon gleich. Auch wenn ich eher von hier geflohen wäre und nicht nach hier. Aber egal. Ich wollte ja nur wissen, was er wusste.
"Zuwanderer? Wieso? Ist dir jemand aufgefallen, den du nicht kanntest?" Er versuchte so beiläufig zu klingen wie ich, schaffte es aber irgendwie nicht. Er sah mich nicht an, doch hatte er in der Bewegung innegehalten und bewegte sich nicht mehr.
"Nur ein Mädchen."
"Was ist mit ihr?", er holte Luft, ließ die angespannten Schultern sinken und machte sich dann wieder daran seine Spaghetti auf die Gabel zu wickeln.
"Nichts. Ich wollte nur wissen..." Ja? Was genau wollte ich eigentlich wissen? Wie sie hieß? Wo sie wohnte? Was sie mochte und machte? Mit wem sie zu Abend aß? Mit Sicherheit all das und noch so viel mehr, doch war ich mir sicher, dass mein Vater mir all diese Fragen nicht würde beantworten können. Außer vielleicht die, wo sie wohnte.
"Ich hab mich nur gewundert. Das ist alles", schloss ich schließlich lahm und ließ das Thema fallen. Machte mich, wie all die anderen über das Essen her und war erstaunt darüber, wie gut es schmeckte.
Nach dem mein Vater sich wieder in sein Büro zurückgezogen hatte, meine Mutter Kessy fürs Bett fertig machte, setzte ich mich an meinen Schreibtisch und fuhr den Rechner hoch.
Ich musste sie einfach nochmal ansehen. Mich davon überzeugen, dass ich sie mir nicht nur eingebildet hatte. Und wie konnte ich das besser, als auf meinem Bild. Ja! Das missratene Bild von dem Baum, das mir mit jeder Minute, das ich es ansah immer weniger so vorkam, als würde es, so wie es war, nicht doch perfekt sein. Mit den Fingern über dem Bildschirm schwebend, strich ich ihr Haar nach, die feinen Linien, die ihre Finger waren. Ihre roten Lippen. Und ich wünschte mir, in ihre Augen zu sehen. Wie vorhin, als sie sich an mir vorbeigeschoben hatte. Ihr Duft war mir nicht aufgefallen, doch jetzt traf er mich wie ein Schlag in den Magen. Dieser intensive Hauch nach wilden Erdbeeren, schwerer Erde und hauchzarten Maiglöckchen, war mir heute Morgen vorgekommen, als gehörte er zu der Wiese, dem Unkraut und den Bäumen, aber jetzt wurde mir klar, das nur sie es gewesen sein konnte, die meine Sinne schlicht mit ihrer ganzen Erscheinung überfordert hatte, so, dass ich ihren Duft gar nicht hatte wahrnehmen können .
Warum er mir jetzt in den Sinn kam wusste ich nicht, doch das ich etwas brauchte, das ich in Händen halten konnte, das wurde mir schnell klar.
"Bin noch mal weg!", schrie ich meinen Eltern zu, nachdem ich meine Speicherkarte an mich gerissen und mich auf der Treppe beinahe überschlagen hatte. So eilig hatte ich es.
Völlig abgehetzt kam ich am Fotoladen an und hatte Glück. Herr Werner war noch da und druckte mir das Foto in zwei unterschiedlichen Größen aus. Eines als Poster für die Wand in meinem Zimmer. Das andere für die Hosentasche.
Ich wollte etwas haben, das ich jemandem zeigen konnte, wenn ich nach ihr fragen würde. Und das ich das vorhatte, daran hegte ich keinen Zweifel. Ich musste sie einfach wiedersehen! Und diesmal durfte nicht wieder eine ganze Woche vergehen.
Leider wurde nichts draus.
Nicht, das ich mir nicht alle erdenkliche Mühe gegeben hätte sie zu finden, doch blieb sie wie vom Erdboden verschluckt.
Bis zum folgenden Samstag.
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2051 Worte
30.08.17
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