15 Und wenn ein Lied
Meine Befürchtung, es könnte Schneewittchen sein, bestätigten sich hingegen nicht. Es saßen andere Leute auf unseren Plätzen. Auch ansonsten schien es heute recht voll zu sein. Ich schaute mich suchend nach einem Platz um, als ich die hoch erhobene Hand von Eros erkannte, der mich zu sich winkte.
Kessy im Schlepptau, natürlich murrte sie vor sich hin, schlängelte ich mich zwischen den Kirchgängern hindurch und ließ mich erleichtert, neben ihn fallen.
"Hey Alter!", grüßte er mich und hielt mir die Hand zum Einschlagen hin.
"Was ist denn hier heute los? Gibt's hier was umsonst?", kopfschüttelnd sah ich mich um und erntete von meinem Kumpel ein belustigtes Schnauben.
"Erntedankfest. Du kriegst auch echt nichts mit, oder?" Er kitzelte Kessy am Kinn, die leise Kicherte und sich gegen meine Brust presste, während Eros hinzufügte, "Na Mäuschen, auch wieder dabei."
Kessy nickte strahlend, und kletterte schließlich zu ihm hinüber wo sie die Tupfen auf seiner Krawatte der Reihe nach antippte.
"Schickes Teil" zog ich ihn auf und deutete mit dem Kinn auf das hässliche rote Ding.
"Ist von meiner Schwester. Sie wollte unbedingt, dass ich sie heute trage.", er seufzte und wies unauffällig hinter sich, wo die zehnjährige zwischen seinen Eltern saß.
"Ist echt schon wieder der erste Oktober?" Ich ließ die Hand sinken, mit der ich seiner Familie zugewunken hatte und sah ihn ungläubig an, als er grinsend nickte. Seufzend verdrehte ich die Augen.
"Die Zeit rennt einem echt davon. Kein Wunder, dass es in letzter Zeit so frisch geworden ist. Der Winter steht vor der Tür."
"Jetzt übertreib mal nicht. Bis hier Schnee fällt dauert das bestimmt noch zwei Monate. Vorher passiert gar nichts."
Ich wusste, er hatte recht, doch war ich mir sicher, dass der Winter schneller kommen würde, als mir lieb war. Irgendwie hatte ich im Moment das Gefühl, jemand würde an der Uhr drehen und sie Tag für Tag voranschreiten lassen. Nur eben nicht im Vierundzwanzigstundentakt, sondern im Zehn- oder Zwölfminutentakt. Ein Blinzeln und schon war wieder ein Tag vergangen.
Ein Tag ohne meine Kamera, die ich noch immer nicht ersetzt hatte. Ein Tag ohne Schneewittchen, dessen dunkle Augen, helle Haut und sanfte Stimme mir noch immer durch den Kopf spukte. Hin und wieder hatte ich mir sogar eingebildet, sie zu sehen, allerdings entpuppte sich das Mädchen schließlich doch wieder, als jemand anderes, mit dunklen Haaren.
Auch ihre Gitarre vernahm ich nicht mehr, und dass, obwohl ich eines Samstags vormittags wieder zu meinem Baum gefahren war. Seit dem schmerzlichen Verlust meiner Eos waren da aber schon zwei Wochen vergangen. Und auch in der Woche sah ich kaum mehr einen Sinn darin, in den Dschungel zu ziehen. So ohne Kamera und ohne den Wunsch und die Hoffnung, sie wiederzusehen.
Okay, den Wunsch hegte ich schon, doch wollte ich es mir nicht wünschen, weshalb ich auch einen Bogen um den Park machte, um sie nicht ausversehen doch zu treffen.
Ihr seht, was das wollen, und sollen angeht, da war ich mir uneins. Ich hatte mir geschworen, ihren Wunsch, allein zu bleiben, zu akzeptieren, doch fiel es mir unheimlich schwer.
Geglückt war es mir hingegen trotzdem. Bis heute war ich ihr nicht wieder begegnet und auch dieser Gottesdienst näherte sich dem Ende, als sich vorne in der ersten Reihe etwas regte.
Pastor Schröder stand vor seinem Rednerpult und kündigte eine kleine Darbietung an. Ein Beitrag eines Mitgliedes unserer Gemeinde. Ein Beitrag zum Erntedankfest.
Doch hätte ich geahnt, wer dieses Mitglied war, wäre ich..., ich hätte..., keine Ahnung, aber vielleicht hätte ich mir auf dem Weg hier her den Fuß gebrochen, oder so. Ganz ausversehen natürlich.
"Blue! Guck mal da ist Schneewittchen!" Kessy deutete nach vorne und begann dann wild zu winken. Schnell fasste ich nach ihrem Arm und unterbrach ihr Gefuchtel. Leider zu spät, denn sie hatte uns bereits bemerkt. Unauffällig ließ ich mich tiefer in die Bank sinken und wünschte, woanders zu sein auch wenn ich das zarte zucken ihrer Lippen schon jetzt nicht mehr aus dem Kopf bekam.
Sie sah einfach umwerfend aus in ihrem schlichten schwarzen Kleid, die langen Haare zu einem kunstvollen Kranz um ihren Kopf geschlungen. Ihre langen dunklen Wimpern konnte ich nur erahnen, doch hatten sich ihre sanften, strahlenden Augen tief in mein Gehirn gebohrt, so dass ich mich vielleicht vor ihr verstecken konnte, vor meinen Gefühlen für sie hingegen nicht.
Es war zum verrückt werden! Ich meine, ich kannte sie doch im Grunde genommen gar nicht! Wieso zur Hölle, brachte sie mit nur einem Blick meinen Herzschlag wieder außer Rand und Band?
Doch eigentlich hatte ich mir meine Frage gerade selbst beantwortet! Sie musste mit dem Teufel im Bunde stehen! Anders konnte ich es mir nicht erklären. Sicher hatte sie ihre himmlische Stimme gegen die Seele unzähliger Männerherzen getauscht, die sie mit einem Blinzeln ihrer verführerischen Augen auf Lebzeiten zu endlosen Qualen verdammte.
Bei diesen hirnrissigen Gedanken, kam mir noch ein ganz anderer. Hatte sie nicht gesagt, sie würde nichts als Leichen hinterlassen. Wenn ich ihre Worte mit meiner neuen Erkenntnis beleuchtete, dann bekamen sie eine ganz neue Bedeutung und ihre Zurückweisung, war alles nur eine Masche, damit sie hinterher sagen konnte, sie hätte einen ja gewarnt! Himmel! Dieses Weib war der Teufel! Nur ihre Stimme! Ihre Stimme war die eines Engels, der gerade mit seinem Gesang die ganze Kirche verzauberte. Ein Festmahl für den Teufel, der dieses Mädchen für seine Zwecke missbrauchte.
Das triste, graue Gemäuer, das angelaufene Gold des Taufbeckens, das hölzerne Kreuz links vom Altar, die kunstvollen Buntglasfenster und der unbezahlbare Intarsienschrein erstrahlten im Klang ihrer Stimme in einem himmlischen Licht.
Alles schien zu leuchten. Selbst die Menschen um mich herum schienen im Bann ihrer Stimme zu strahlen. Es war mucksmäuschenstill. Niemand wagte zu atmen und wenn ich nicht irgendwann gemusst hätte, wäre ich wohl hier auf dieser strahlenden, von wärme durchzogenen Kirchenbank erstickt, doch sogen sich meine Lungen wie von allein, mit dem klang ihrer Stimme voll. Ich trank ihre Melodie förmlich in mich hinein und füllte jeden noch so kleinen Winkel meiner Seele mit der Symphonie ihres Liedes, das, obwohl es bereits geendet hatte, noch immer in meinen Ohren klang.
Der Applaus ging an mir vorbei, wie die Schwärze der Nacht, wenn ich schlief. Und als hätte sie es gewusst, dass ich nur Augen für sie hatte, schaute sie mich an, als sie zu ihrem Platz zurückkehrte.
Mein Herz fuhr Achterbahn. In meinem Bauch grummelte es verdächtig und über meine Haut brandete eine ganze Schar an Sturmwellen hinweg und ertränkten mich mit wohligen schauern. Klar, sie ebbten etwas ab, als Pastor Schröder wieder die Stimme erhob und den Gottesdienst beendete, doch bekam ich das nicht wirklich mit. Ich hatte nur Augen für sie. Taub und blind für alles um mich herum, weshalb ich kurzerhand Kessy an Eros weiterreichte und mich statt zum Ausgang nach vorne durchschlängelte, wo ich hoffte auf sie zu treffen.
Als ich endlich geschafft hatte mich bis zum Altar vorzukämpfen, hätte ich jedoch schreien können! Wie auch immer sie es geschafft hatte sich an mir vorbeizuschleichen, aber sie hatte es geschafft und war wie vom Erdboden verschluckt! Ich stellte mich sogar auf eine der Bänke um ihre schwarze Mähne in der Menge ausfindig zu machen, doch es gelang mir nicht.
Ich hatte sie nur für den Bruchteil einer Sekunde aus den Augen verloren, doch das allein hatte für sie ausgereicht, um sich unsichtbar zu machen.
Innerlich fluchend, reihte ich mich in die Menschen ein, die das Kirchenschiff verließen und gesellte mich wieder zu meinen Eltern und Kessy, die zusammen mit Eros, seinen Eltern und seiner Schwester vor dem Eingang, in ein Gespräch vertieft waren.
Kessy plapperte unaufhaltsam auf Monique ein und musste ihr unbedingt ihr weißes Kleid vorführen und drehte sich wild im Kreis.
Ich grüßte Herrn und Frau Richter höflich, aber doch eher beiläufig, bevor ich Eros beiseitezog. Oder besser er mich.
"War sie das? Das Mädchen, von dem du mir erzählt hast?" Wollte er wissen, kaum dass wir etwas abseits und außer Hörweite der Anderen waren.
"Ja, das war sie." Ich konnte nicht anders, ich klang enttäuscht, obwohl ich es nicht wollte. Und sollen tat ich schon gar nicht. Ich hätte vielmehr froh sein sollen, dass sie sich wieder verdrückt hatte, ehe ich sie hatte über sie herfallen können.
Ich meine, wie blöd war ich eigentlich, mir Hoffnungen zu machen, nur weil sie mich angesehen hatte. Nur weil sie mich sogar angelächelt hatte. Es war zwar mehr die Andeutung eines Lächelns, aber selbst das, hatte mich verzaubert und mich den Verstand verlieren lassen. Anders konnte ich es mir gar nicht erklären, warum ich überhaupt wieder hinter ihr her gerannt war.
"Die kleine hat echt eine hammer Stimme! Weißt du wie sie heißt?", bohrte Eros weiter und blickte sich suchend um. Wie ich, dabei versuchte ich es nicht zu auffällig zu machen. Anders als mein Freund. Immer wieder wendetet er den Kopf einem Mädchen zu, das ihr nicht einmal ansatzweise ähnlich sah.
"Schneewittchen", brachte ich schließlich, viel zu sanft hervor, dabei hatte ich eigentlich fluchen wollen. Ja! Verdammtes Schneewittchen! Sie, mit ihren sieben Kerlen, die sie sicher unter ihrem Rock versteckt hatte. Zusammen mit meiner Kamera! Dieses kleine, miese...
"Schneewittchen? Sag mal... alles klar bei dir da oben?" Eros tippte mir schmerzhaft mit dem Finger gegen die Stirn, von wo ich ihn mit einem Schlag vertrieb. Grinsend sah er mich an.
"Ja. Alles bestens!", fauchte ich und blickte nun selbst einem dunkelhaarigen Mädchen nach, das mit einer Freundin an uns vorbeiwatschelte und Eros ein interessiertes Lächeln schenkte.
"Ich brauchte halt nen Namen für sie."
"Und da fiel dir nichts anderes Ein, als Schneewittchen", amüsierte er sich.
"Ist gut jetzt, Okay! Habs ja kapiert. Schneewittchen ist scheiße!", sagte ich viel zu laut und viel zu deutlich, so das sich mehrere Leute nach uns umsahen. Überhaupt standen noch viel zu viele Menschen um uns herum. Warum wurde mir erst klar, als ich immer mehr von ihnen mit Kuchen, Pizzabrötchen, Laugengebäck und ähnlichem an uns vorbeischlendern sah.
Als ich meinen Blick wieder auf Eros richtete sah er mich noch immer belustigt an. "Alter! Dich hats echt erwischt."
"Ach was!", wiedersprach ich augenblicklich. Soweit kommt das noch! Ich und verknallt in eine Märchengestalt! Vielleicht war das mal. An dem Tag, als ich sie in der Kirche getroffen hatte, doch inzwischen war ich wieder Herr meiner Sinne! Also...zumindest beinahe, also zumindest bis eben noch...Okay! Ich gebs zu! Ich war noch immer bis über beide Ohren in sie verschossen. Das musste Eros ja aber nicht wissen.
"Na, wenn das so ist, dann hast du doch sicher nichts dagegen, wenn ich sie mal anquatsche, oder? Also nur mal so nebenbei?"
"Untersteh dich! Du hast doch Kim! Was...Idiot!" Genervt verdrehte ich die Augen, als ich sein verschmitztes Grinsen bemerkte. Freunde, die einen schon seit dem Kindergarten kannten, waren echt scheiße!
"Ja! Okay! Und? Was dagegen? Dann bin ich halt an ihr interessiert! Soll vorkommen."
"Bei anderen, ja. Aber bei dir. Wurde aber auch Zeit, das du mal was für ein Mädchen übrig hast. Ich dachte ja immer, Emma schafft es irgendwann, aber..."
"Ey! Komm! Echt jetzt? Ausgerechnet Emma? Die erstickt irgendwann noch mal an einem ihrer Lippenstifte oder wird von den Tonnen an Schminke erdrückt. Ich dachte echt, du kennst mich besser!"
"Anscheinend kannte ich dich gar nicht. Oder wieso hast du mir bisher nichts von Schneewittchen erzählt?", anzüglich wackelte er mit den Augenbrauen und schubste mich an der Schulter. Ich erwiderte die Geste und zog ihn in eine spielerische Rangelei, aus der Kessys Stimmchen mich rund eine Minute Später riss. Grinsend richtete ich mich auf, wandte mich ihr zu und erstarrte.
"Willst du auch was essen?", fragte sie mich. In ihrer einen Hand hielt sie eine Bretzel, in die sie herzhaft hineinbiss, in der anderen hielt sie Schneewittchens Hand, die mich zurückhaltend anlächelte.
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1906 Worte
10.09.17
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