Operation
Ich schließe die Augen, als Asklepios zu schneiden beginnt. Aber schon bald öffne ich sie wieder. Der Gott steht mir so nahe, dass mich immer wieder sein Arm oder sein Chiton streift und ich habe dann Mühe, ein Zucken zu unterdrücken. Es wird einfacher sein, wenn ich die Berührung vorher kommen sehe.
Ich versuche jedoch, den Blick auf die Wunde oder Dionysos' Bild zu vermeiden. Denn der Gott des Wahns unterstützt seinen Mit-Gott mit einer vergrößerten Ansicht der Wunde. Es sieht unheimlich aus, wenn Asklepios beim Hantieren auf dieses Bild sieht und nicht auf seine Hände, aber tatsächlich kann er so viel genauer arbeiten.
Fee ist kreideweiß, aber sie zeichnet wie besessen. Ikar und Laus sehen ebenfalls fort, Aria und Medea beobachten alles ganz genau, soweit es möglich ist, ohne dem Gott in die Quere zu kommen. Ich komme wieder einmal zu dem Schluss, dass Frauen in so manchen Belangen stärker sind als Männer.
„Säge!", fordert Asklepios. Ikar taucht mit seinem Greifwerkzeug eine winzige Säge aus glänzendem Stahl in die Flüssigkeit auf seinem Tischchen und reicht sie Asklepios. Laus hält seine Zange in die Flammen des Kohlebeckens und übergibt sie dann Medea, die nun hinzutritt.
Wegsehen nützt nun nichts mehr. Das kreischende, knackende Geräusch und der scharfe, irgendwie brenzlige Geruch, als Asklepios mit äußerster Vorsicht die Knochen an den schlecht verheilten Bruchkanten aufsägt, genügen bereits, um mich würgen zu lassen. Ich atme tief ein und versuche, die ekligen Empfindungen aus meinem Geist zu löschen. Wenn mir jetzt übel wird, wars das für Andé.
Medea nimmt ein Knochenstück nach dem anderen entgegen und legt es auf ihr Tischchen. Ich bemerke, dass sie die Teile sorgsam so platziert, wie sie wohl in der Wunde gelegen haben. Erstaunlich, wie achtsam und sorgfältig meine lebhafte Cousine arbeiten kann, wenn sie sich konzentriert.
Asklepios gibt Ikar die Säge zurück: „Pyoulkos!" Das Instrument, welches ihm Ikar nun übergibt, besteht aus mehreren ineinandergesteckten Röhren und einem langen, senkrecht gestellten Griff, soweit ich das erkennen kann. Asklepios hält es in die offene Wunde und ein saugender Ton ertönt, als versuche ein hartgesottener Trinker, die letzten Tropfen aus den Skyphos zu schlürfen.
In diesem Moment nähert sich uns ein hagerer junger Mann in einem fadenscheinigen Chiton, ein kleines Kind auf dem Arm, ein etwas größeres auf den Schultern, einen vielleicht siebenjährigen Knaben an der Hand. Ehrfürchtig blickt er Asklepios an, bis dieser aufsieht. „Ja?"
Der Mann schreckt sichtlich zusammen, offenbar hat er nicht damit gerechnet, dass der beschäftigte Operateur ihn überhaupt wahrnimmt. „Großer Gott", beginnt er dann, bekommt aber prompt einen so heftigen Hustenanfall, dass er nach Luft ringt und ihm die Tränen über die eingefallenen Wangen laufen. Der Knabe an seiner Hand hustet wie zur Gesellschaft mit.
„Thymian!", ordnet Asklepios an, während er den Pyoulkos in eine leere Schüssel ausleert, die ihm Aria hinhält und ihn dann erneut in Andé versenkt.
„Äh – was?", bringt der Mann krächzend heraus. Aria mustert verwundert ihre Schalen, bis ihr aufgeht, dass diesmal nicht sie gemeint war.
„Nimm Thymian und Schlüsselblume, übergieße beides mit kochendem Wasser und lasse das die Zeit stehen, die es braucht, um einen Männerkörper einzuölen", Asklepios wiederholt in aller Ruhe die Prozedur von eben. Ich wende den Blick ab von der rötlichen Flüssigkeit, die aus dem Pyoulkos kommt und sehe wieder auf Medea, die gerade Andés Knochen zusammenfügt. Dazu nimmt sie mit dem kleinen Spatel eine winzige Menge Paste aus ihrer Schale auf, erwärmt sie kurz an Laus' Feuer, streicht sie auf ein Knochenstück und hält es dann an ein anderes Stück, bis die Paste erkaltet und erhärtet ist und die beiden Knochenstücke aneinander haften. Eine solch feine Arbeit würde ich mir niemals zutrauen.
„Atme die Dämpfe ein, während die Pflanzen im Wasser ziehen", fährt Asklepios fort und wendet sich an Ikar. „Tuch!"
Ikaros badet eines der Tuchstückchen in seiner Schale und überreicht es Asklepios. Natürlich wieder mit der kleinen Zange. Der göttliche Arzt hat ihn offenbar genauestens instruiert.
Asklepios tupft mit dem Tuch in Andés Schädel herum. Ich bin nur froh, dass mein Bruder nicht mitbekommt, wie hier mit ihm umgegangen wird. Sein Atem geht nach wie vor ruhig und gleichmäßig.
Asklepios gibt Ikar das Tuch zurück und befiehlt Laus: „Kohle!" Während Laus nach einem möglichst kleinen Stückchen Holzkohle sucht, teilt der Arzt dem hustenden Mann mit: „Danach giesst du den Tee durch einen Seiher, süsst ihn mit reichlich Honig und trinkst mehrmals täglich eine Kotyle davon." Er nimmt das Greifwerkzeug mit dem winzigen Kohlestück entgegen und versenkt es in Andés Kopf.
Es riecht nach verbranntem Fleisch. Ich unterdrücke erneut ein Würgen, höre ähnliche Geräusche von Fee und Ikar und schaffe es gerade noch, die Frage zurückzuhalten, die sich mir auf die Zunge drängt. Schon die Vibration durch meine Stimme kann Asklepios' Feinarbeit stören. Mir ist durchaus klar, dass es jetzt auf äußerste Präzision ankommt.
„Warum macht du das?" Laus klingt ebenso betroffen und gleichzeitig neugierig, wie ich mich fühle.
„Ich verschließe die offenen Blutgefäße", erklärt der Gott. Medea fügt an: „Das ist eine übliche Weise, stark blutende Wunden zu behandeln. Aber in einem Gehirn möchte ich das nicht probieren."
„Ich wage es auch nur, weil Dionysos es mir vergrößert darstellt", gibt Asklepios zu und fragt dann seinen anderen Patienten: „Hast du alles verstanden?"
Der nickt, schaut aber unglücklich drein. Ich vermute, er hat keine Ahnung, wie er Honig und die seltenen Schlüsselblumen beschaffen soll.
„Den Kindern gibst du nur eine halbe Kotyle. Und sie dürfen die Dämpfe nicht einatmen. Gelb!" Das letzte Wort gilt Aria, die sofort mit einem kleinen Löffel die gelbe Flüssigkeit aus einer ihrer Schalen schöpft und ihm überreicht. Der Arzt gießt einige Löffel davon in die Wunde, bis er zufrieden nickt. „Ist deine Hütte feucht? Regnet es hinein?"
Es dauert einen Moment, bis der junge Mann bemerkt, dass er gemeint ist. Er nickt vorsichtig, offensichtlich bemüht, einen weiteren Hustenanfall zu unterdrücken. Dafür keucht und bellt nun das Kleinkind auf seinem Arm.
„Dach abdichten. Wenn du Stroh auf dem Boden liegen hast, schaffe es hinaus. Lasse Tür und Fenster den Tag über offen, nachts ebenfalls ein Fenster. Tuch!"
Wieder taucht Ikar ein Tuch ein und reicht es an. Ich überlege, warum Asklepios alles mit dem starken Kräuterwein benetzt haben will. Zu fragen brauche ich ihn nicht; er würde mich sicher nur wieder damit abfertigen, dass dieses Wissen nicht für Sterbliche gedacht ist. Aber das kann mir eigentlich auch egal sein, wenn es nur hilft, Andé zu heilen.
Asklepios tupft wieder irgendetwas ab, betrachtet dann das Tuch und nickt zufrieden. „Die Blutung ist gestillt. Halte dich und die Kinder nachts warm. Deckt euch gut zu. Bist du fertig mit dem Knochen? Rosa!"
Während die Angesprochenen noch auseinandersortieren, was für wen gedacht ist und Fee ihren Papyrus zum wiederholen Male ein Stück weiterzieht, um die nächste Skizze zu beginnen, gibt der Gott Ikar das Tuch zurück und begutachtet noch einmal die offene Wunde, sowohl in Dionysos' Bild als auch in natura. Aria hat inzwischen einer anderen Schale eine rosafarbene zähe Masse von beinahe pastenartiger Konsistenz entnommen. Der Arzt nickt derweil Laus zu. „Erwärme die ganze Wachspaste!" Dann schmiert er die Masse auf und nimmt von Medea das zusammengefügte Knochenstück entgegen. „Gut gemacht!"
Selbst ich erkenne, dass die Stücke nun, von Medea zusammengesetzt, eine andere Form ergeben als zuvor. Was zuvor eingedellt war, wölbt sich nun leicht nach außen. So hätte Andés Schädel zusammenwachsen sollen, dann wäre es auch nicht zu dem lähmenden Druck auf das Hirn gekommen. Interessant, wie das alles zusammenwirkt. Ich möchte ganz sicher kein Arzt werden, kann aber nun verstehen, was Aria, Medea und vor allem Asklepios daran so fasziniert.
Laus wechselt seinen Platz mit Medea; er legt ein Kissen auf Andés Rücken und stellt die heiße Schale mit der Wachspaste darauf ab. Asklepios nimmt von Ikar ein frisch gebadetes Greifwerkzeug und einen gleichfalls im Wein ertränkten Spatel entgegen und beginnt damit, das Knochenstück einzusetzen und gleichzeitig mit der Paste zu befestigen. Die zarten Finger des Gottes arbeiten unglaublich exakt und feinfühlig. Vielleicht lernt Medea das auch noch; ihre Arbeit an Andés Hinterhauptknochen beweist ja, dass sie grundsätzlich die Fähigkeit dazu hat.
Meine Cousine hindert den jungen Mann am Fortgehen. „Hast du überhaupt alles, was du brauchst?"
Traurig schüttelt er den Kopf. Medea winkt ihren Stiefsohn herbei, der sich bis jetzt in respektvoller Entfernung gehalten hat, zu besorgt und neugierig, um zu gehen, aber auch nicht abgehärtet genug, um zuzusehen. „Du kannst dich auch mal nützlich machen!"
„Und wie?" Seiner Miene nach befürchtet Tess Böses.
„Dieser Mann benötigt so einiges, damit er und seine Kinder gesunden", erklärt Medea. „Thymian und Schlüsselblumen ..."
„...wachsen zu seinen Füßen", fällt ihr Dionysos ins Wort. Verdutzt blickt der Mann hinunter. Direkt vor ihm entfaltet sich ein gewaltiger Thymianbusch, daneben sprießen zarte Blumen mit gelben Blütendolden empor. „Nimm sie mit und pflanze sie bei dir ein. Sie werden jahrelang halten", versichert ihm der Gott der Fruchtbarkeit.
„Danke", Tess atmet sichtlich auf. „Ich hätte nicht gewusst, wie die Pflanzen aussehen und an Medeas Kräuter gehe ich sehr ungern."
„Aber den Rest bekommst du hin", entscheidet Medea rigoros. „Beschaff dem Mann einen Krug Honig, Material zum Dachabdichten, frische Strohmatratzen und reichlich Bettzeug. Und für ihn und seine Kinder jeweils zwei Chitons."
„Das mache ich gerne", Tess gräbt Dionysos' Gabe aus, drückt sie dem Knaben in den Arm und bedeutet dessem Vater, ihm mit den Kindern zum Palast zu folgen. Dieser wankt ihm reichlich benommen hinterher. Vermutlich hat er nicht mal zu hoffen gewagt, dass ihm die Ärzte helfen würden, die Medea für die Bürger Athens eingesetzt hat. Und stattdessen hat ihm ein Gott erklärt, was zu tun ist, ein Olympier die Heilpflanzen für ihn wachsen lassen und ein Prinz besorgt ihm nun das, was ihm noch fehlt.
Medea blickt den beiden hinterher. „Ich hätte Theseus noch sagen sollen, dass er dem Armen Lebensmittel mitgibt und ihn versorgen lässt, bis er wieder arbeiten kann", brummt sie vor sich hin. „Von selbst denkt er sicher nicht dran."
„Ich erinnere dich", verspricht Laus.
„Stillhalten!", schnauzt Asklepios ihn an. Laus hält nämlich noch immer die Schale mit der Paste fest, die vermutlich leicht vibriert hat, als er gesprochen hat. Daraufhin hält mein kleiner Bruder den Mund und lässt den Arzt in Ruhe den Knochen an Ort und Stelle bringen.
„Nadel!", fordert dieser dann. Auf diesen Zuruf reagiert Ikar, er taucht seine Zange ein und übergibt sie. Erst nach genauem Hinsehen erkenne ich eine winzige Nadel in den Greifflächen, in die bereits ein unglaublich dünner, schwarzer Faden eingefädelt ist.
„Deins?", fragt der Arzt nebenbei Aria, während er mit Bedacht zu nähen beginnt. Die schüttelt den Kopf und weist auf mich. „Seins. Es ist kräftiger."
Oh. Wie nett. Asklepios näht meinen Bruder mit meinem Haar zusammen. Noch ein Vorteil meiner Zeit im Labyrinth. Mein Haar wäre niemals lang genug dafür gewachsen, hätte ich Zugang zu einer Schere gehabt.
Laus notiert sich etwas auf seinem Papyrus. Wie ich ihn kenne, hält er die Tatsache fest, dass eine Abkochung von Thymian und Schlüsselblume bei Husten hilft. Medea weiß das vermutlich auch, aber es aufzuschreiben kann ja nie schaden.
„Weiß!" Der Gott ist fertig mit Nähen und nimmt nun von Aria die letzte Flüssigkeit an. Diese ist cremig wie eine gute Soße zum Opferfleisch und wird von Asklepios großzügig auf Andés Hinterkopf und Nacken aufgetragen. „Erledigt!", verkündigt er dann.
Ich hoffe, er meint die Operation und nicht Andé.
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