Athen

„Wie nähern wir uns jetzt Athen?", erkundige ich mich bei Tess. Der zuckt die Schultern. „Zu Pferd und Wagen und in deinem Fall zu Huf, würde ich sagen. Warum?"

„Steht uns da nicht noch ein Kampf bevor? Pallas hat doch Athen eingenommen, soweit ich verstanden habe."

„Ja, aber meiner Rechnung nach hat er höchstens noch fünfzig Leute in Athen, von den restlichen Pallantiden angeführt. Und die werden sich ergeben, weil wir ihren Vater und ihre Brüder in der Gewalt haben."

Daran habe ich nicht gedacht. „Du würdest Pallas töten, wenn seine Söhne sich nicht ergeben?"

„Nein. Aber das wissen die ja nicht."

Etwas anderes fällt mir auf. „Wieviele Söhne hat Pallas eigentlich?"

„Vierzehn, glaube ich. Ursprünglich waren es zwanzig, aber einige hat er schon verbraucht in den Händeln, die er ständig anzettelt."

Anzetteln. Interessantes Wort. Ich sehe vor meinem geistigen Auge Tyche, wie sie das Schicksal der Menschen webt und Pallas, der ständig einen stachligen, kämpferischen Faden an ihr Garn zettelt. Hoffentlich lässt ihm Tyche das nicht länger durchgehen.

„Die arme Mutter." Zwanzig Söhne sind sicher nicht einfach. Zumal sie wohl alle ziemlich dicht hintereinander geboren wurden.

„Mütter", verbessert Tess.

„Häh?"

„Um sicherzugehen, dass er Söhne haben wird, ließ Pallas 25 Mädchen entführen und vergewaltigte sie, bis sie schwanger waren. Als Ergebnis bekam er zwanzig Söhne, die beinahe gleichaltrig sind."

„Und fünf Töchter? Was wurde aus ihnen und aus den Müttern?"

„Das weiß niemand."

Die Sache mit den Söhnen scheint den Athenern ja wichtig gewesen zu sein. Aigeus, der seine Frau betrogen hat, um endlich zu einem Sohn kommen und nun Pallas mit dieser reichlich fragwürdigen Methode. Ich würde mich zwar auch über Kinder freuen – vorwitzige kulleräugige Töchter wie Xenodike oder tapfere fürsorgliche Burschen wie Medeas Söhne und Melanippos. Aber zu solchen Maßnahmen würde ich niemals greifen.

„Was ist denn mit den Athener Bürgern und den Bauern im Umland?", frage ich Tess nun. „Wenn Pallas sie auf seine Seite gebracht hat, kann das noch zu Problemen führen."

Tess schüttelt den Kopf. „Das steht nicht zu befürchten. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die meisten einfachen Leute sich kaum darum kümmern, wer sie regiert, solange er sie nicht direkt bedrängt. Sie folgen dem, der sich als König ausgibt und hoffen nur, dass er sich nicht zu sehr in ihr Leben einmischt."

„Das wusste ich nicht", gestehe ich ein.

„Du warst zu isoliert. Ich nehme an, du hattest kaum mit dem Volk zu tun."

„Ja – und in Kreta gibt es das ‚einfache Volk' nicht in dem Sinne wie auf dem Festland. Ihr gebt den Menschen ja gar kein Mitspracherecht. Warum also sollten sie sich um Dinge kümmern, die sie doch nicht ändern können." Das habe ich auf Naxos beobachten können, aber auch aus der Art geschlossen, wie unsere Athener Gefährten mit Aigeus' Dienern und Kriegern umgehen.

„Ja." Tess wirkt nachdenklich. „Ich war beeindruckt von eurer Art zu leben. Minos ist euer König und er ist ziemlich selbstherrlich und dennoch scheint er weniger Tyrann zu sein als die meisten Könige bei uns auf dem Festland." Mit Tyrann meint Tess keinen Herrscher, der das Volk brutal drangsaliert, sondern nur die auf dem Festland übliche Regierungsform des alles bestimmenden Alleinherrschers.

„Auf Kreta kann Minos zwar vieles anordnen, aber es gibt Dinge, die unter allen Kretern diskutiert werden", erkläre ich. „Ich habe meine Geschwister nicht gefragt, aber ich bin sicher, als ihr Minos gemeldet habt, dass Ande tot ist, hat es eine Abstimmung gegeben, wer jetzt Minos' Nachfolger sein wird. Das kann Minos nicht von sich aus entscheiden. Das Mitspracherecht des Volkes ist ja auch einer der Gründe, warum es mich gibt."

„Häh?" Den Gedankensprung kann Tess nicht nachvollziehen.

„Naja, dass Minos Poseidon das Opfer verweigert hat, hat ganz Kreta gefährdet. Die Kreter hätten Minos absetzen können, um Poseidons Zorn zu beschwichtigen. Pasiphae kam dann auf eine andere Idee, wie sie Minos bestrafen und gleichzeitig Poseidon sowie das Volk beruhigen kann. Mit der Schmach für Minos, einen halb tierischen Stiefsohn aufziehen zu müssen, gaben sich Gott und Kreter dann zufrieden."

„Also solltest du Minos' Bestrafung sein?" Tess seufzt. „Kein Wunder, wenn du dich als Unstern siehst. Aber je mehr ich dich kennenlerne, umso mehr finde ich, Minos sollte stolz sein, einen Sohn wie dich zu haben – selbst wenn du nur sein Stiefsohn bist."

Das sehe ich anders. Aber mich beschäftigt jetzt etwas anderes. „Ich begreife jetzt jedenfalls, warum Pallas so leicht sich zum König von Athen ausrufen konnte. Und warum ihr keine Furcht habt, nach Pallas' Gefangennahme in eure eroberte Stadt zurückzukehren. Der Bevölkerung ist es gleichgültig, wer sich gerade König nennt, oder?"

Tess grinst schief. „So kann man es ausdrücken. Zu Pallas stehen nur seine eigenen Leute, die er aus Marathon mitbrachte. Vaters Krieger wird er irgendwo eingekerkert und bewacht zurückgelassen haben. Und die Städter werden wie die Bauern ihren täglichen Geschäften nachgehen." Wieder runzelt er die Stirn. „Ich denke schon eine Weile darüber nach", gesteht er. „Das sollten wir vielleicht ändern. Wenn die Menschen mehr Entscheidungsfreiheit haben, werden sie das vermutlich auch nutzen. Pallas hätte es nicht so leicht gehabt, hätte sich die ganze Stadt gegen ihn gestellt. Oder sogar die Bauern aus dem Umkreis. Ich glaube, die Menschen würden sich Athen zugehöriger fühlen, wenn sie Athens Geschick mitlenken dürften."

Ich finde Tess' Idee gar nicht so schlecht. „Willst du dann eine Art Demoskratie einführen?"

„Eine was?"

Ich sollte es mir abgewöhnen, Worte zu erfinden. „Die Art, wie ihr auf dem Festland eure Völker führt, nennt man doch Autokratie – die Herrschaft eines einzelnen. Wenn du das Volk, das Demos, herrschen lassen willst, wäre das dann also eine Demoskratie."

Tess lacht. „So ungefähr. Das Wort ist jedenfalls nicht schlecht gewählt." Er wird wieder ernst. „Ja, ich glaube, das sollten wir tun. Ich werde das mit Vater besprechen. Er betrachtet mich ohnehin schon halb als Mitregenten und ich bin zuversichtlich, dass wir das gut ausarbeiten können."

Im ersten Moment will ich Tess zustimmen. Dann sehe ich wieder vor mir, wie Aigeus Ordnung in unsere wirren Reden brachte, wie er die Männer in die Schlacht geführt und später Pallas abgekanzelt hat. Und ich denke daran, dass er meine Kusine kurzerhand auf sein Schiff genommen und sich erst dann von ihr erzählen lassen hat, vor wem und warum sie geflohen war. Aigeus mag freundlich und klug sein, aber er ist auch ein Autokrat, wie nur je einer in den Rollen gestanden hat. Er wird Tess' Ideen sicher interessiert lauschen, aber ob er sie umsetzen wird, steht auf einem ganz anderen Papyrus.

Aria kommt zu uns. „Statt zu reden könnt ihr ruhig mal mithelfen. Eure Seile habe ich schon wieder an mich genommen."

Wir folgen ihr brav. Medea, Aigle, Perigune und Laus kümmern sich bereits um die Verletzten. Aria hat aber mit den Gefangenen etwas Besonderes vor: Sie hat die beiden Teile des Seils, das sie für meine Befreiung gefertigt hat, an Aigeus' und Tess' Sätteln befestigt und knotet sie nun durch die Handfesseln der bereits versorgten Gefangenen. „Was denn?", entgegnet sie scharf auf unsere verwunderten Blicke. „Wir müssen sie doch irgendwie nach Athen schaffen, ohne ihre Fesseln zu lösen."

Tess grinst mich an, als er das Seil aufnimmt, das an seinem Sattel befestigt ist. „Vater und ich werden also auf dem Heimweg jeweils eine Reihe Feinde hinter uns herziehen. Wie eine Gänsemutter ihre Küken führt."

Ich helfe unsanft einem Marathoner auf und strecke Tess dessen Hände hin. „Eine gute Idee, finde ich. Euer Volk bekommt deutlich vorgeführt, wer hier der Sieger ist."

Der Mann, den Tess nun an das Seil knüpft, sieht uns verwundert an. „Ihr glaubt, mit einem so dünnen Faden könnt ihr mich halten?"

Tess weist auf mich. „Der dünne Faden hat sein volles Gewicht ausgehalten."

„Lächerlich", begehrt der Mann auf. „Der Faden ist zarter als das Garn, aus dem mein Weib ihre Kleidung webt." Er wirft sich zurück, um das Seil zu zerreißen und reißt Mund und Augen auf, als dieses nicht um eine Linie nachgibt. Seine Gefährten probieren es danach gar nicht erst und lassen sich brav der Reihe nach anseilen.

Der letzte Teil unseres Weges nach Athen wird etwas mühsam, denn es ist gar nicht so einfach, eine ganze Schar Männer hinter sich zu führen. Immer wieder kommt einer aus dem Tritt, stolpert oder fällt sogar hin. Ikar und ich übernehmen schließlich jeder eine Gruppe und ziehen jeden Gefallenen mehr oder weniger sanft auf die Beine.

Nachdem wir den Pass hinter uns gelassen haben, ziehen wir durch sanftes Hügelland mit grünem, saftigen Gras im unteren Teil und dichten Wäldern auf dem Gipfel der Hügel. Dazwischen sind Felder und Weiden auszumachen, jeweils mit einem oder mehreren Höfen versehen. Und direkt vor uns, noch etwas entfernt, befindet sich eine dichte Ansammlung vieler kleinerer und größerer Gebäude aus Holz oder weiß gekalkten Steinmauern. Tess deutet auf einen großen, flachen Felsen, der sich aus dem Innenteil der Stadt erhebt und gekrönt wird von einem mir klein erscheinenden, für die Athener sicher riesigen Palast sowie einigen großen Tempeln.

„Das ist unsere Akropolis, also unsere Oberstadt."

Ich betrachte die mächtigen Mauern, welche sich um den oberen Rand des Felsens ziehen. „Das ist eine sichere Festung. Passen die Stadtbewohner alle hinein?" Auf Kreta sind Kriege selten, aber wenn, dann bringt sich die Bevölkerung im Innenteil der Palastanlage in Sicherheit. In der Regel aber machen wir Angreifer schon aus weiter Entfernung aus und bekämpfen sie bereits auf dem Meer, um sie gar nicht erst zur Landung kommen zu lassen. Auch der Turm, in den Minos schließlich Daidalos und Ikaros eingesperrt hat, diente ursprünglich dazu, das Meer zu überwachen.

Tess blickt schuldbewußt drein. „Das hab ich nie überprüft. Werde ich aber in Angriff nehmen."

Mich beschäftigt schon wieder anderes. „Wie konnte Pallas denn Athen einnehmen? Um diese Festung zu erstürmen, braucht man wesentlich mehr als die paar Krieger."

„Er wird es mit einem Handstreich getan haben. Das hat er schon einmal versucht, als ich gerade bei Vater angekommen war. Damals hat er versprochen, Aigeus von nun an zu dienen. Ich kann mir also vorstellen, dass man ihn eingelassen hat, weil er als Freund Athens und Bruder des Königs kam und er dann in der Nacht seine Leute eingelassen und die Wächter einzeln überfallen hat."

„Und dann am nächsten Morgen hat er sich einfach hingestellt und verkündet, dass er jetzt König ist?" Mir ist unverständlich, wie so etwas laufen soll, aber Tess bestätigt das. „So dürfte es abgelaufen sein. Darum denke ich ja, dass wir etwas ändern müssen. Den Leuten muss mehr bewusst werden, dass sie zu Athen und zu Attika gehören und dass sie eine Gemeinschaft sind." Er lächelt mich an. „Mir ist aufgefallen, wie gut ihr Heliosenkel zusammenhaltet – auch mit Medea. Und dass ihr dadurch viel mehr erreicht als wenn ihr einzeln vorgehen würdet. Soweit will ich mit den Athenern auch kommen."

Tess' Absicht gefällt mir. Hoffentlich macht Aigeus das dann auch mit. Notfalls werde ich Tess helfen müssen, seinen Vater zu überreden. Wenn ich eines gut kann, so ist das Reden.

Als wir uns den ersten Häusern nähern, will ich meine menschliche Gestalt wieder annehmen, aber Aigeus hindert mich daran. „Wir zeigen ihnen gleich, wer du bist", bestimmt er. „Und dass du ein Freund bist. Geh neben meinem Pferd her, aber nicht so dicht, dass sie glauben, du seist angekettet."

Ich gehorche und hoffe nur, dass Aigeus seine Leute richtig beurteilt.

Wir sind gerade zur Abenddämmerung eingetroffen. Von allen Seiten kommen die Landarbeiter, um sich zur Abendmahlzeit und dann zur Ruhe zu begeben. Hirten treiben ihre Schutzbefohlenen in die Ställe, Händler schließen ihre Läden, Handwerker räumen die Werkstätten auf, Sklavinnen holen noch rasch Wasser. Die Wege und Straßen um und  innerhalb von Athen sind überaus belebt. Und jeder, dem wir begegnen, starrt uns entgeistert an. Aigeus und Tess werden gleich erkannt und mehr als einer der Bürger lächelt erleichtert, als er Pallas Aigeus' Ross hinterherstolpern sieht. Vielleicht mischen sich die Athener nicht in die Händel der Könige und Prinzen ein, aber ich kann erkennen, dass ihnen Aigeus als Herrscher wesentlich lieber ist als Pallas.

Mein Anblick erschreckt die Menschen sichtlich und etliche ergreifen im ersten Moment die Flucht. Aber sie kommen zurück, als sie bemerken, wie gelassen sich Aigeus mit mir unterhält. Der athenische König hat mich gefragt, ob ich Pythagoras' Tugendreden kenne und als ich das bejaht habe, inwieweit ich mit ihnen übereinstimme. Nur zu gern lasse ich mich mit ihm auf eine philosophische Debatte ein. Im Labyrinth habe ich nur lesen können und mir oft jemanden gewünscht, mit dem ich darüber sprechen kann.

Ich denke, dass Aigeus auch ein guter Dramaturg wäre. Jedenfalls ist seine Inszenierung bühnenreif und sie wirkt auf die Athener. Mit seinem Einzug in die Stadt – hoch zu Pferd, seine junge Frau zur Seite, einen Stiefsohn vor sich auf dem Sattel, seine Feinde hinter sich herziehend und im friedlichen Gespräch mit einem Monster - macht er den Menschen unmissverständlich klar, dass er die Situation und die Stadt beherrscht und die Gefahren gemeistert hat, welche stärkere Männer zurückschrecken lassen würde.

Tess nimmt sich an seinem Vater ein Beispiel. Vor ihm sitzt Melanippos, der unbefangen der staunenden Menge zuwinkt, links reitet Ikaros, rechts Aigle, deren zarte Schönheit die Leute anrührt. Mit meinen Ohren, die besser sind als die eines Menschen, fange ich allerlei Gesprächsfetzen auf und stelle fest, dass zwar viele Mutmaßungen geäußert werden, wie König und Prinz an diese Monster gekommen sind, aber niemand daran zweifelt, dass man uns nicht fürchten muss. Manche halten uns für gezähmt, andere lediglich als durch Freundschaft gebunden, aber niemand glaubt, dass Ikar, Laus und ich eine Gefahr darstellen. Aigeus vertraut uns und die Athener ihrem König.

Während meine Identität eindeutig ist, wird über die anderen viel gerätselt. Nicht nur Ikaros mit seinem Flügeln fällt auf, sondern auch der honigfarbene Laus, der ungewöhnlich hellblonde und hellhäutige Phaeton und natürlich meine schönen, stolzen Schwestern, die ungeniert Menschen und Gebäude mustern, anstatt wie Aigle und Perigune unter den vielen fragenden Blicken die Augen niederzuschlagen.

Ich glaube, wir geben gerade den Athenern genug Gesprächsstoff für die nächsten Wochen, wenn nicht gar Monate.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top