Vergangenheit Teil 2

Lisa

Nie im Leben hätte ich gedacht, nie gewagt davon zu träumen, dass mich Joint alias Georg Schwarz nach Hause begleitete. Seine Nähe machte mich ganz hibbelig, meine Nase war erfüllt von seinem herben Duft, alles in mir schrie danach einfach weg zulaufen. Dieser Situation war ich nicht gewachsen, ihm war ich nicht gewachsen. Doch anstatt mich vernünftig zu verhalten –nicht nur für meine beste Freundin- und mich einige Meter von ihm zu entfernen, konnte ich einzelne verstohlene Blicke nicht vermeiden. Er trug eine einfache blaue Jeans und ein weißes Shirt, was nichts Besonderes war, doch bei ihm konnte ich mich einfach nicht daran satt sehen. Konnte ich nie. Seitdem er mir dieses eine Lächeln geschenkt hatte, als ich hingefallen war, und er mir seinen Arm hingehalten hatte, hatte es bei mir Klick gemacht. Obwohl er mich damals nur an meinem Handgelenk berührt hatte, bekam ich sofort eine Gänsehaut. Seit diesem Augenblick versuchte ich so oft wie möglich einen Vorwand zu finden, um zu meiner besten Freundin zu kommen. Ihr hatte ich bis jetzt noch nichts von meiner Schwärmerei erzählt. Wie auch? Er war ihr großer Bruder, sie hätte mich für verrückt erklärt oder schlimmer, sie hätte mir ihre Freundschaft gekündigt. Dies zu riskieren, war ich nicht fähig einzugehen, also ging ich auf Abstand, zwang mich sein süßes Lächeln aus meinem Kopf zu löschen. Es hatte auch bisher ganz gut geklappt, immer wenn wir uns auf der Treppe oder im Flur begegneten, marschierte ich ohne ein Wort an ihm vorbei, traute mich nicht mal den Blick zu heben, und in seine geheimnisvollen dunklen Augen zu schauen. Da er auch nichts erwiderte, zog ich meine Strategie wochenlang durch. Bis heute.

Heute war ich eingeknickt, hatte mich von seiner Anziehung hinreißen lassen. Schweigend lief ich mitten in der Nacht –alkoholisiert- neben ihm her, als wären wir schon immer beste Freunde gewesen. Der schwache Schein der Straßenlaterne beleuchtete uns den Weg, tauchte sein Gesicht in ein warmes Licht, ließ seine kantigen Konturen weicher wirken. Er räusperte sich, wandte sich mir halb zu.

„Darf ich dich was fragen, Lisa?", fragte er mich, zurückhaltend. Warum das? So kannte ich ihn gar nicht. Ich nickte ihm zu, bedeutete ihm fortzufahren.

„Warum bist du heute alleine auf die Feier gegangen?" Um dich zu sehen. Als würde ich die Antwort nicht kennen, zuckte ich bloß mit den Schultern. Seit das Bier begonnen hatte, meinen Kopf zu verlassen, war die schüchterne Lisa wieder zurückgekehrt.

„Mh." Brummte er. Was sollte das denn bedeuten? Wenn ich meinen Mund nicht aufkriegte, würde ich es auch nicht erfahren. Mist! Nervös kaute ich auf meiner Unterlippe, suchte nach einem passenden Gesprächsthema. Obwohl die Wirkung des Alkohols nachgelassen hatte, konnte ich gewiss keine angemessene Frage finden. Es wirkte fast so, als hätte sich mein Gehirn auf ein was festgebrannt, nicht bereit von dem Gedanken locker zu lassen.

„Hast du...eine Freundin?", sprach ich leise diesen Gedanken aus. Oh Gott, ich klang so armselig.

Kurz bedachte ich ihn mit einem Blick und konnte ein Schmunzeln auf seinen Lippen erkennen. Auf diesen Lippen, die bestimmt gut küssen konnten. Konzentration!

„Nein, habe ich im Moment nicht." Im Moment. Aha. Ich konnte meine Erleichterung kaum verstecken, am liebsten hätte ich breit gegrinst, beließ es jedoch bei einem kleinen Lächeln.

„Warum fragst du?", er blies die kalte Nachtluft aus, sodass sich weiße Kringel vor seinem Mund bildeten. „Hast du etwa Interesse?"

Was? Seine Frage traf mich unvorbereitet. „Nie im Leben", sagte ich hastig, und wandte den Blick ab, nicht ohne seinen amüsierten Gesichtsausdruck gesehen zu haben. Innerlich verpasste ich mir gerade eine schallende Ohrfeige. Ich hätte damit rechnen sollen, wer um Himmelswillen fragt auch danach, wenn man nicht interessiert war.

„Schade", er klang schon fast enttäuscht. Mein Herz klopfte wild gegen meine Brust. Dieses kleine Wort ließ jede Hoffnung in mir aufkeimen. Vielleicht mochte er dich mehr als du denkst? Davon hatte ich schon so oft geträumt, wollte, dass er mich in seine starken Arme zog, mir zuflüsterte, dass ich die Einzige für ihn sein werde...

Nein, ich durfte nicht meine Fantasie mit der Realität verwechseln. Das würde nur nach hinten losgehen, und ich hätte ihn auch gleichzeitig als Freund verloren. Ich musste mich einfach entspannen, locker bleiben. Er war ein Frauenheld erster Klasse, das war wahrscheinlich eine Standardantwort geworden, dass er es aus Routine gesagt hatte. Das musste der Grund sein.

„Du bist ...so widersprüchlich." Wider-was? Das Gespräch ging eindeutig in die falsche Richtung.

„Das fasse ich mal als Kompliment auf." Er lachte leise auf.

„Genau das meine ich. Im einem Moment bist du zu schüchtern, um irgendeine Antwort zu geben, und im nächsten gibst du mir freche Erwiderungen." Er war stehen geblieben, um mich anzusehen. Mich! Unbehaglich trat ich von einem Fuß auf den anderen. Seine Musterung blieb an meinem blauen Kleid haften, das sich eng an meine Kurven schmiegte.

„Was meinst du damit?", versuchte ich hauptsächlich mich von meinem aufkommenden anzüglichen Gedanken abzulenken. Sein Blick auf meinem Körper sollte mir nicht so unter die Haut gehen. Das durfte es nicht, er war der große Bruder meiner besten Freundin.

„Ich weiß einfach nicht, wie ich dich einschätzen soll. Du bist nicht so ein offenes Buch, wie all die anderen Mädchen." Während er sprach, fuhr er sich mit der Hand durch seine dunklen Haare, die in alle Richtungen ab standen. In einem schwachen Augenblick wünschte ich mir, dass es meine Hand war, die sein weiches Haar berührte.

„Und ich habe das auf jeden Fall als Kompliment gemeint." Ehe ich mich versah, war er auch schon einige Schritte auf mich zu gekommen. Sein großer Körper hüllte mich warm ein, sodass ich fast geseufzt hätte. Aber auch nur fast! Ich musste unbedingt meinen Verstand einsetzen, sonst würde ich ihm Hier und Jetzt wie ein Groupie um den Hals fallen.

„Wir sind gleich an meinem Haus", krächzte ich, während er mir immer noch unverwandt in die Augen schaute. Hatte ich eigentlich schon mal erwähnt, dass sie faszinierend waren? Als wäre bei ihm ein Schalter umgelegt worden, nickte er kräftig mit dem Kopf, entfernte sich und ging ohne ein weiteres Wort die Straße entlang.

Er hat dich noch nicht mal berührt! Reiß dich endlich zusammen, Lisa, ermahnte ich mich heute schon zum zweiten Mal.

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