Kapitel 49
Joint
„Da ist er ja wieder"
Meine Augenlider fühlten sich an als müssten sie eine tonnenschwere Last tragen, jeder Muskel zerrte an meinem Körper, erschufen Schmerzen, von denen ich nie geglaubt hatte, sie ertragen zu können.
„Joint" die samtige Stimme meiner Schwester musste sich unmittelbar in meiner Nähe befinden. Unter größter Anstrengung brachte ich meine Lider zum Flattern bis ich meine Umgebung verschwommen wahrnahm. Haufenweise Decken und Kissen hüllten mich in einen schützenden Kokon, den ich noch dringend vor ein paar Stunden gebraucht hatte. Szenenhafte Bilder schossen mit durch den Kopf, als ich mich an den gestrigen Kampf erinnerte. Nie im Leben hätte ich gedacht, einmal so viel einstecken zu müssen. Die Matratze unter mir kam plötzlich in Bewegung. Ich ließ meinen Blick, unfähig den Kopf zu drehen, nach rechts schweifen, wo ich direkt in die schwarz umrandeten, besorgten dunklen Augen meiner Schwester schaute.
„Na, sieh einer an, wer nach so langem Schönheitsschlaf endlich aufwacht." Ein Schmunzeln lag auf ihren Lippen, als sie mich eingehend betrachtete.
„Wo...Lisa?" Trotz dieses einen kurzen Wortes kratzte meine Stimme wie raues Schmirgelpapier unangenehm in meinem Hals. Räuspernd versuchte ich mich ein wenig aufzurichten, wovon mich Vanessa jedoch gleich davon abhielt. Eine Hand vorsichtig gegen mein Brustbein gelehnt, langte sie mit der anderen nach einem Glas Wasser auf meinem Nachttisch.
„Das lassen wir lieber sein. Du würdest es sicherlich bereuen."
Sie brauchte nicht viel Druck auszuüben, da sank ich auch schon freiwillig wieder zurück auf die weichen Kissen. Nicht einmal meine Hand ließ sie mich heben, als sie das Glas geschickt an meine Lippen ansetzte. Der erste kühle Tropfen Nass verriet mir, wie ausgedorrt ich sein musste, denn in der nächsten Sekunde verschwand die gesamte Flüssigkeit in meinem Rachen.
„Wo ist Lisa?" startete ich den nächsten Anlauf und war zufrieden über meine feste Stimme.
„Hast du sie denn noch nicht bemerkt?", fragend sah sie in Richtung meines Schreibtisches.
Lisa befand sich hier in diesem Raum? Unbedacht und unter Zurückhaltung eines Aufschreis wandte ich meinen Kopf ruckartig zur Seite und erblickte Lisas wunderschöne Rückseite. Was machte sie da und warum lag sie nicht ebenfalls an meiner Seite? Geschäftig packte sie Kleidungsstücke in eine Reisetasche und schien völlig vertieft zu sein. Hatte sie mein Aufwachen noch gar nicht mitbekommen? „Lisa", setzte ich kratzig an, da wurde ich auch schon von meiner Schwester unterbrochen. „Georg, du solltest ihr noch etwas Zeit geben."
Zeit? Erst jetzt nahm ich das Gefühl war, dass ihre Bewegungen steif und angespannt waren und sie krampfhaft versuchte, nicht in meine Richtung zu blicken, immer dann, wenn sie neue Kleidungsstücke aus meiner Kommode holte.
Was passierte hier?
Vani musste meinen fragenden Blick gesehen haben, denn im nächsten Moment ließ sie sich nach hinten fallen und kuschelte sich an meine Seite.
„Georg, sieh mich an"
Trotz ihrer Aufforderung konnte ich meinen Blick nicht von Lisa wenden, verfolgte jede ihrer Bewegungen, wartete nur darauf, dass sie den Blickkontakt mit mir aufnahm.
Seufzend rüttelte Vani an meinem Arm, sodass mir ein stechender Schmerz bis in die Zehen schoss. Zischend gab ich auf.
„Na geht doch. Hör zu", sie machte eine kurze Pause, wog ihre nächsten Worte bedacht ab und ich war wieder versucht, meine Aufmerksamkeit auf jemand anderes zu lenken. Warum ignorierte sie mich?
„Du...wir", Vani schluckte, „wir brauchen einen Neuanfang, unsere Familie muss noch einmal von vorne anfangen, Joint."
„Neuanfang?", erstaunt sah ich sie an.
Nickend sah sie mir ernst entgegen. „Es ist so viel Schlimmes in letzter Zeit passiert, und dieses Haus wird uns immer an die dunklen Zeiten erinnern."
„Was heißt das?"
„Das bedeutet, dass wir uns von diesem Haus, von dieser Vergangenheit lösen müssen und von vorne in einer neuen neutralen Umgebung beginnen sollten."
„Wir ziehen um?", jetzt verstand ich auch die ganze Packerei.
„Ja, Markus hat für uns eine kleine Wohnung organisiert, die wir vom Verkauf des Hauses bezahlen können."
Verkauf? Was? Mir schwirrte der Kopf.
„Lisa ist gerade dabei deine Sachen zusammen zu packen, Niklas wird sie dann später mit seinem Pickup abholen und ..."
„Was ist mit Mum?"
Traurig schloss sie die Augen. „In ihrem instabilen Zustand ist es wohl das Beste für sie, wenn sie vorerst in dieser Einrichtung bleibt. Dort wird rund um die Uhr auf sie aufgepasst, damit nicht noch einmal so etwas ...", sie brach ab und eine Träne stahl sich aus ihrem Augenwinkel. „Und wenn ich daran denke, dass du ebenfalls ..."
„Vani", trotz der Schmerzen versuchte ich einen Arm um sie zu legen, ließ ihn dann jedoch tröstend auf ihrem liegen. „Es tut mir so leid, aber würdest du mir glauben, wenn ich dir sage, dass ich diesen Kampf gar nicht wollte, dass ich ..."
Ein Schnauben ließ mich stocken. Es war ein abfälliges Schnauben, aber immerhin eine Reaktion von ihr.
„Lisa, es tut mir leid, ich ... er hat mich provoziert und dann ist eine Sicherung bei mir durchgebrannt"
Doch noch bevor ich zu Ende reden konnte, hatte sie sich auch schon wieder demonstrativ abgewandt.
„Ich glaube dir Georg. Dieser Max hat mir den Vorfall geschildert. Aber du musst auch wissen, dass wir dich bewusstlos und voller Blut in dieser Gasse vorgefunden haben. Hatten geglaubt, dass du nie wieder die Augen öffnen würdest."
„Das weiß ich und ich fühle mich wirklich elendig deswegen."
„Gut", Vani richtete sich auf. „Ich werde mal nach Nik sehen", während sie aufstand warf sie einen kurzen Blick auf Lisa, die immer noch extrem beschäftigt wirkte und musterte mich streng. „Bring das wieder in Ordnung", flüsterte sie, ehe sie aus meinem Zimmer verschwand.
Nun waren Lisa und ich allein und eine bedeutungsvolle Schwere erfüllte den Raum, drohte mich zu erdrücken, wenn ich nicht bald was dagegen unternahm.
„Lisa" Sie zuckte zusammen. „Lisa, bitte, lass es mich erklären."
Noch immer zeigte sie mir ihren Rücken, hatte jedoch aufgehört geschäftig in meiner Kleidung zu wühlen.
„Wieso hörst du nicht kurz auf und setzt dich zu mir ans Bett?"
Keine Reaktion.
„Dann schau mich wenigstens an. Bitte"
Kaum merklich schüttelte sie den Kopf. Am liebsten hätte ich frustriert aufgestöhnt, der frühere Joint hätte nach ihrer mehrmaligen Abweisung motzend und beleidigt reagiert, doch ich war nicht mehr derselbe, ich hatte ihr versprochen, mich zu bessern und das konnte ich ihr jetzt um so mehr beweisen.
„Na gut, wenn du nicht zu mir kommst, dann komme ich eben zu dir", mit zusammengebissenen Zähnen spannte ich die Muskeln in meinem Körper an, die noch funktionsfähig erschienen, ignorierte den pochenden Schmerz in meiner Seite und setzte mich aufrecht hin. Gut, jetzt musste ich nur noch meine Beine über diese Bettkante schaffen und dann trennten mich nur noch ein paar Meter von meinem Mädchen.
„Halt!", sie machte meinem Vorhaben einen Strich durch die Rechnung und stürzte bei meinem Anblick besorgt auf mich zu. „Was machst du da, du sollst dich ausruhen!" mit einem Abstand blieb sie vor mir stehen, konnte den Blick nicht von meiner Brust nehmen, als würde sie jeden Schlag, den mein Herz machte, mitverfolgen müssen.
Was hatte ich ihr bloß dieses Mal angetan?
„Ein Rippenbruch ist nichts, was man auf die leichte Schulter nehmen sollte", sprach sie fast schon mit monotoner Stimme, hielt den Kopf weiterhin nach unten gerichtet. „Der Arzt meinte, dass dabei schnell die Lunge punktiert werden kann."
„Ich habe eine hohe Schmerzschwelle, du wirst sehen, bald bin ich wieder topfit."
„Du musst dich schonen und brauchst Ruhe!"
„Ich empfinde erst Ruhe, wenn du mir vergeben hast."
Aufgebracht sah sie mir entgegen, ihre sonst so strahlenden grünen Augen glitzerten in einer stumpfen Farbnuance.
„Und wie hast du dir das bitte vorgestellt? Du hast mir dein Wort gegeben, dass du nicht wieder kämpfst."
„Ich wollte das nicht, Lisa."
„Und doch warst du in einem Kampf verwickelt, in einem üblen Kampf, aus dem du nur mit Glück noch so glimpflich davon gekommen bist."
„Er hat meinen Vater... er hat schlimme Dinge gesagt und ..."
„Das ist egal, als du dein Versprechen gebrochen hast, hast du auch ein Stück aus meinem Herzen gebrochen."
„Nein! Bitte!" Ihr Schluchzen zerbrach nun mein Herz. „Ich wollte dir nicht damit weh tun, ich wollte keinem Schaden zufügen, ich dachte, ich wäre stark genug, die provozierenden Phrasen an mir abprallen zu lassen, aber das war ich nicht. Ich ... es tut mir unendlich leid, Lisa, das musst du mir glauben." Verzweiflung ließ mich meinen Arm ausstrecken, in der Hoffnung sie berühren zu können, doch meine Hand griff ins Leere.
„Ich glaube dir", flüsterte sie, während sie auf meine Hand starrte. Diese Distanziertheit hielt ich nicht aus, verursachte weitaus schlimmere Schmerzen, als diejenigen, die mich ohnehin schon körperlich quälten.
„Dann vergibst du mir?" ich wagte kaum zu hoffen.
„Ich weiß nicht, ob ich das kann."
„Dann verlässt du mich?"
Sie blickte bei meinen Worten auf, blieb jedoch stumm. Und diese Stille rief in mir die schlimmsten Befürchtungen hervor. Ich konnte mir kein Leben ohne diesen Engel ausmalen.
„Wie kannst du gehen, wenn du doch der gute Teil von mir bist?"
„Georg", sie trat einen Schritt auf mich zu. „Ich würde in tausend Scherben zerspringen, verstehst du? Du bist ein Teil von mir, Lisa." und noch einmal streckte ich die Hand auf der Suche nach ihrer aus. Zuerst fühlte ich nichts, bis mich etwas weiches berührte, meine Hand zögerlich umschloss und leicht zudrückte.
„Du kannst nicht gehen, nicht jetzt, da ich endlich gelernt habe, einen anderen Menschen voll und ganz zu lieben." die Worte flossen ungehalten aus mir heraus.
Atemlos sah ich dabei zu wie sich ihre tiefen Stirnfalten glätteten, wie ihre Tränen versiegten und wie ich die Liebe in ihren Augen wiedererkannte.
„Ich weiß nicht, ob ich dich in diesem Augenblick hassen oder lieben soll", mit Bedacht ließ sie sich am Rand der Matratze nieder, meine Hand noch immer umklammert.
„Du liebst mich, so wie ich dich liebe", meine Stimme war nur noch ein raues Vibrieren, zu groß war meine Angst, sie zu verlieren.
„Du liebst mich?", ein Zittern durchfuhr ihren Körper, als ich meine Finger mit ihren verflocht.
„Ich liebe dich mehr denn je." Mit meiner Hand an ihrer Wange hielt ich sie davon ab, den Kopf zu senken, und zwang sie mich anzusehen.
„Hast du gehört? Ich liebe dich, Lisa."
Sie schloss die Augen. „Ich werde das aber nicht noch einmal durchstehen können"
„Das wirst du auch nicht, du hast Vani gehört, wir werden einen Neuanfang wagen"
„Georg"
„Nein, ich gebe dir so viel Zeit wie nötig, aber bitte wende dich nicht vollends von mir ab."
Sachte strich ihr mit meinem unverletzten Daumen über die Wange, woraufhin sie ihre Stirn gegen meine lehnte. Ihr warmer Atem ruhte auf mir, ließ mich nicht vergessen, was für einen Schatz ich besaß.
„Lass es mich nicht bereuen"
Ihre Worte gaben mir Hoffnung, Hoffnung auf ein neues Leben mit den Menschen, die ich liebte.
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