Kapitel 47
Joint
Während ich versuchte meine aufwühlenden Gedanken zu ordnen, hörte ich das leise Geräusch eines Motors hinter mir heran rollen. Ich musste mich nicht einmal umdrehen, um zu wissen, dass es Niklas war, der mir folgte.
„Joint!", prompt darauf nahm ich seine tiefe Stimme wahr. Unbeirrt lief ich einfach weiter.
„Joint! Was machst du da?", fragte er nachdem ich nicht geantwortet hatte.
„Nach was sieht es denn aus? Ich laufe!"
„Das ist doch mehr ein Humpeln, als ein normales Laufen"
Abrupt blieb ich stehen, sodass er hart in die Eisen seines Pickups treten musste. „Was willst du, Niklas?"
„Mit dir reden, was sonst?" Ich schüttelte frustriert den Kopf.
„Komm schon, Georg. Steig einfach ein." Seine blauen Augen blickten mich bittend an. Was hatte ich schon noch Großartiges zu verlieren? ... richtig nichts. Also griff ich im nächsten Moment nach der verrosteten Tür und ließ mich auf das zerschrammte Polster des Sitzes gleiten.
„Dein Wagen hatte auch schon einmal bessere Zeiten gesehen", kommentierte ich den echt miesen Zustand seines Autos.
„Warum läufst du davon?", konfrontierte er mich mit meinem echt miesen Verhalten.
„Ich laufe vor nichts davon", hielt ich dagegen.
„Und was machst du stattdessen?", während er sprach, drehte er den Schlüssel im Zündschloss und schaltete den Motor ab.
„Das ist gerade alles nicht so einfach, Nik" Schon lange hatte ich nicht mehr mit ihm über meine Gedanken und Gefühle gesprochen, sodass mir gerade schmerzlich Bewusst wurde, wie sehr ich mich von ihm entfernt hatte. Ich würde sogar soweit gehen, um zu sagen, dass ich die vertrauten Gespräche mit ihm vermisste.
„Das verstehe ich doch auch, aber so wie ich dich kenne, wirst du dich wieder verschließen und irgendeinen Mist bauen." Verständnisvoll sah er mich an. Die Erkenntnis, dass ich mich seit meinem Ausraster damals noch nicht bei ihm entschuldigt hatte, beschämte mich. Sowohl bei Vani als auch bei Lisa hatte ich mich gewandelt, doch bei meinem ehemaligen besten Freund kam ich bislang noch nicht auf diese Idee. Das musste ich schleunigst nachholen.
„Es tut mir leid, Nik", gestand ich mit fester Stimme, bevor ich es mir noch einmal anders überlegte.
Überrascht sah er mich an. „Was genau meinst du?", fragte er etwas überfordert.
„Du weißt, was ich meine. Dass ich mich wie ein Arschlosch und nicht wie ein guter Freund benommen habe. Egal, was vorgefallen ist, so einen schäbigen Freund hast du nicht verdient.", frustriert fuhr ich mir durch die Haare. „Ich hätte Vani und dich unterstützen sollen, aber das habe ich nicht. Und dafür möchte ich mich entschuldigen."
„Joint", setzte er an, doch ich war noch nicht fertig mit meiner Ansprache.
„Und ich weiß, eine einfache Entschuldigung macht alle Worte und Taten nicht ungeschehen. Trotzdem hoffe ich, dass du sie annimmst."
„Georg, wie gesagt, ich kenne dich, ich weiß, dass dir dein Verhalten insgeheim leidtut. Nach allem, was wir durch gemacht haben, war es für mich nur eine Frage der Zeit, bis du dich wieder besinnst." Ein aufmunterndes Lächeln lag auf seinen Lippen. „Du hast dir damals sogar den Kopf kahl rasiert, um mir meinen Schmerz erträglicher zu machen. Das würde nicht jeder tun."
„Und ich sah verdammt gut aus damit", konnte ich mir nicht verkneifen.
„Zwar lange nicht so gut wie ich, aber auch ganz passabel", konterte er, woraufhin ich befreit auflachte. Es war schön zusehen, dass er sein Selbstbewusstsein widererlangt hatte.
„Meine Schwester tut dir wirklich gut", sagte ich, mit einem Seitenblick auf seine Glatze.
„Das tut sie wirklich", lächelte er vor sich hin und zum allerersten Mal teilte ich seine Freude, konnte sie mit dem Gedanken an Lisa deutlich nachempfinden. „Und ich denke Lisa ist auch nicht gerade unschuldig, was dein widererlangtes Gewissen betrifft, oder?"
Er kannte mich verdammt gut, konnte aus mir lesen, wie aus einem offenen Buch.
„Ja", gab ich etwas knapp zurück. „In dieser Hinsicht bin ich dann wohl nicht besser als Vani und du."
„Ganz sicher nicht. Und unterschätz da mal deine eigene Schwester nicht. Nur weil sie nichts sagt, heißt es nicht gleichzeitig, dass sie nicht Bescheid weiß", erwiderte er mit einem amüsierten Grinsen im Gesicht.
„Glaub mir, ich mache nie wieder den Fehler und unterschätze die Stärke einer Frau", gab ich lachend zurück, worauf er einstieg.
„Also, ist zwischen uns wieder alles in Ordnung?", fragte ich nach einer Weile Schweigen vorsichtig.
„Solange du versuchst, endlich das Glück in deinem Leben zu zulassen und dir selbst vergibst? Dann, ja." Ich verdiente ihn genauso wenig wie alle anderen Menschen in meinem Leben, die sich um mich sorgten. Ich musste endlich etwas zurückgeben.
„Scheiße, Mann, wie konnte ich nur so blöd sein und dich als Freund vergraulen?"
„Das hast du nicht. Und sind wir mal ehrlich, Brüder streiten sich ab und zu einmal. Trotzdem bleiben sie für immer Brüder, nicht wahr?", sagte er mit einem herzlichen Lächeln. Obwohl ich diese ganze Gefühlsduselei nicht ausstehen konnte, kam ich nicht drum rum, bei seinen Worten, bei deren Bedeutung, ihn in eine Umarmung zu ziehen.
„Danke, Nik."
„Du wirst mich nicht los. Auch wenn du dich entscheiden solltest, ein Nashorn oder so zu werden, ich werde immer an deiner Seite bleiben" Das war eindeutig zu viel, zu viel für meine ohnehin schon zum Zerreisen gespannten Nerven.
„Du wirst mich ebenfalls nicht los, auch wenn du dich dazu entschließt, Lambadatänzer zu werden. Ich würde mit dir jedem die Show stehlen", scherzte ich, bevor die Tränen, die sich unaufhaltsam in meinen Augen gesammelt hatten, an die Oberfläche schossen.
„Ganz sicher? Das ist ein gewaltiger Schritt, den du da gehen, oder sollte ich lieber sagen, den du da tanzen willst?", stieg er in meine Albernheit mit ein, nachdem wir uns voneinander gelöst hatten.
„Du hast mich noch nie tanzen sehen", stellte ich mit wackelnden Augenbrauen fest.
„Na, wenn es so gut ist wie deine Fußballkünste, dann können wir ja nur verlieren."
„Autsch, der saß tief", spielerisch stieß ich ihm gegen die Schulter. Wie in alten Zeiten. Lachend imitierte er meinen Schlag.
„Und, wirst du Lisa endlich deine Liebe gestehen?" Neugierig bis zum geht nicht mehr.
„Das werde ich. Davor muss ich allerdings noch etwas Dringendes erledigen", antwortete ich wahrheitsgemäß, konnte kaum glauben, dass ich in meinem Leben trotz aller Schwierigkeiten immer noch Leute besaß, die an meiner Seite blieben, die mir Halt gaben. Doch Nik hatte Recht, zuerst musste ich mir selbst vergeben, um neue Kraft zu schöpfen, um meine bösen Schatten zu besiegen. Wenn ich an meinem Wut und Zorn festhalte, dann verstärke ich das Leiden in meinem Leben nur.
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