Kapitel 46

Lisa

Eine bleierne Schwere hatte sich seit dem Tag um mein Herz gelegt. Seit dem schrecklichen Vorfall, bei dem Vanessa und Georg beinahe ihre eigene Mutter verloren hätten.

„Hier, mit zwei Stück Zucker, stimmts?" Markus hielt mir einen dampfenden Plastikbecher vor die Nase.

Dankend nahm ich ihn an und lehnte mich wieder auf meinem Stuhl zurück. Er spiegelte mit seinem ungemachten Haar, den dunklen Schatten unter den Augen und dem aufgesetzten Lächeln, genau meine Erscheinung wider.

Während ich einen kleinen Schluck von der heißenden Flüssigkeit nahm, ließ ich den Blick über die kahlen Wände, dem beigen Boden und den beigen Stühlen wandern. Wir befanden uns in einem Psychatriezentrum, in das die Mutter von Georg nach ihrem Suizidversuch eingeliefert wurde. Immer wenn ich die Augen schloss, erschien das Bild in meinem Kopf, auf dem Georg zu sehen war, der krampfhaft versuchte, seine Mutter nach oben zu drücken, um so der Wirkung des Seils um ihren Hals entgegen zu wirken. Er musste schon so stark in seinem Leben sein, so viel durchmachen, dass es mir je niedergeschlagener ich ihn sehe, mehr das Herz zerriss. Ein Mensch konnte nur eine gewisse Menge an Leid und Qualen in seinem Leben aushalten, bis er unter dieser großen Last zusammenbricht. Und dieser Moment würde, auch wenn er es sich bis jetzt nicht erlaubt, auch bei ihm eintreten. Und dann werde ich und seine Freunde an seiner Seite sein.

„Ich habe gelesen, dass die modernen Behandlungsmethoden den Verlauf der Krankheit deutlich verbessern werden", setzte Markus an, nachdem er sich neben mich niedergelassen hatte.

„Krankheit?", erstaunt drehte ich mich halb zu ihm.

„Ja, die Symptome sprechen eindeutig für eine bipolare Störung. Das kommt nicht selten vor...", er konnte seine schlauen Gedanken nicht weiter ausführen, da wurden wir von der aufschwingenden Tür vor uns unterbrochen. Ehe ich verstand, was vor sich ging, war ich auch schon aufgesprungen und auf Georg zu gelaufen. Er nahm mich im ersten Moment gar nicht war und marschierte einfach an mir vorbei.

„Georg!", Vanessa stürmte hinter ihm her. „Dein Weglaufen ändert auch nichts an der Situation."

„Ich muss nur ..." er drehte sich während des Sprechens um und unsere Blicke trafen aufeinander. Wie magisch von dem Band angezogen, das uns beide verband, trat er auf mich zu, umfasste mit beiden Händen mein Gesicht und sah mich eindringlich an.

„Ich brauche nur etwas frische Luft. Bitte, warte hier auf mich", verzweifelt, als könnte ich ihn verlassen, senkte er seine Lippen auf meine. Ich erwiderte den Kuss, schenkte ihm Trost. Dann löste er sich von mir, machte kehrt ohne ein Wort zu den anderen und verschwand auf dem Vorplatz des Zentrums.

Plötzlich übermannten mich meine Gefühle und ein lauter Schluchzer teilte meine Lippen. Ich empfand so viel für diesen Mann, dass es mir Angst machte. Ich liebte ihn so sehr, dass ich seinen Schmerz als meinen eigenen spürte.

„Lisa, alles in Ordnung?", Vanessa hatte tröstend eine Hand auf meine Schulter gelegt. Schnell wischte ich mit dem Handrücken über meine Augen, um die feuchte Nässe zu vertreiben.

„Ja, ich ... es tut mir nur alles so leid", stotterte ich unbeholfen und wandte mich ihr zu.

„Dir tut es leid? Du kannst doch nichts für diese Situation", erwiderte sie mit einem leichten Lächeln.

„Ich hätte dir schon viel früher, das mit Georg sagen sollen, ich hätte dir schon viel früher helfen sollen ... einfach für dich da sein sollen."

„Oh Lisa", sie stellte sich auf die Zehenspitzen und schloss ihre blassen Arme fest um mich. „Wie kommst du denn darauf, dass du nicht für mich da warst? Du warst die Einzige, die mir in meinen dunkelsten Stunden, Licht und Erkenntnis brachte."

Ein Räuspern, das von Markus kam, ließ auch mich schmunzeln.

„Natürlich Markus und du", sie kicherte, als Markus aus Zustimmung ebenfalls seine Arme um uns schloss. „Und das mit meinem Bruder wusste ich schon seit langer Zeit auch ohne, dass einer von euch beiden es ausgesprochen hätte."

„Wirklich?"

„Das war mehr als offensichtlich", pflichtete Markus bei und brachte uns damit zum Lachen.

„Ich bin so egostisch", stieß ich hervor, „eigentlich sollte ich dich trösten"

„Dass ihr an meiner Seite seid, reicht mir vollkommen", mit einem Seufzer lehnte sie den Kopf an Markus Schulter. „Wir werden das durchstehen. Meine Mutter wird das durchstehen. Und Joint wird endlich verstehen, dass wir ihn nicht im Stich lassen."

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