Kapitel 45
Joint
Alle 53 Minuten nimmt sich ein Mensch in Deutschland das Leben.
Ich sah von dem bunten Flyer in meiner Hand auf und direkt in das erschütterte Gesicht meiner Schwester, die sich auf dem gepolsterten Stuhl neben mir befand. Sie musste in diesem Moment die gleiche Phrase gelesen haben, denn ihre dunklen Augen legten sich auf meine, gaben mir stumm zu verstehen, dass sie ebenso wie ich mit der Situation überfordert war.
„Entschuldigen Sie, dass sie warten mussten", eine gehetzt wirkende Frau betrat den Raum, rauschte in ihrem weißen Kittel an uns vorbei und setzte sich uns gegenüber. Ein breiter, aus Kirschholz gefertigter Tisch, war die einzige Barriere, die zwischen uns bestand. Sie rückte ihre Brille, die viel zu groß wirkte, auf ihrer Nase zurecht, ehe sie von ihrem Klemmbrett in ihrer Hand zu uns aufblickte. Sofort richtete sich Vanessa in ihrem Stuhl auf, auf jedes noch so schlechte Wort gewappnet.
„Ich bin Dr. Keller und die derzeit behandelnde Ärztin ihrer Mutter." Stumm wanderte mein Blick zu ihrem Namensschild, der ihre Worte bestätigte.
„Was ..." Vanessa räusperte sich, ehe sie ihre Frage noch einmal ansetzte, „Warum hat sie das getan? Warum ... wollte sie sich umbringen?"
„Einige Tests haben ergeben, dass ihre Mutter eine bipolare Störung hat. Bei dieser Erkrankung stehen vor allem zwei Stimmungsextreme im Vordergrund. In der manischen Phase sind alle Emotionen, Gefühle, Handlungen, die der Patient besitzt, übersteigert. Diese energievollen Tage jedoch halten nicht an und das ist das gefährliche an dieser Krankheit. Oftmals fällt der Patient nach der Manie in eine Depression, in der sich sie entweder völlig antriebslos und wertlos fühlen, oder im schlimmsten Fall gar nichts mehr empfinden. Nicht selten geht diese Phase auch mit Suizidgedanken und -handlungen einher."
Während sie sprach, erinnerte ich mich an die Male, in der meine Mutter mitten in der Nacht, Pfannkuchen zubereitete, durch die Wohnung tanzte, vielleicht nur 4 bis 5 Stunden Schlaf für ausreichend hielt. Und dann diese dunklen Tage, in denen man sie nicht einmal zum Essen bringen konnte. Der Abend, an dem sie mir den Topfdeckel gegen die Schläfe warf, stach wie ein Leuchtblinkschild in meinen Kopf.
„Gibt es denn dafür Auslöser?", hörte ich mich auch schon im nächsten Moment fragen. Was wenn meine Anwesenheit dazu geführt hatte, wenn mein ähnliches Aussehen zu meinem Vater der ausschlaggebende Punkt war?
„Bei bipolaren Störungen handelt es sich um Hirnerkrankungen. Es wurde beobachtet, dass Faktoren, wie die Jahreszeit eine Rolle spielen kann. Besonders ausgeprägt ist die Krankheit, wenn psychotische Symptome auftreten. Das heißt, Selbstüberschätzung, Verfolgungswahn, Halluzinationen. Diese treten meist in den Manien auf. Konnten Sie solch Symptome bei Ihrer Mutter feststellen?" Nachdem sie die Frage gestellt hatte, klickte sie auch schon mit dem Kugelschreiber, bereit sofort drauf los zuschreiben. Ich jedoch konnte nur an eines denken. Halluzinationen. Nach allem wollte ich das Beste für meine Mutter.
„Ja, sie hatte Halluzinationen", erklärte ich, Vanessas suchender Blick entging dabei nicht.
„In welcher Form hat sich das gezeigt?"
„Sie hat mich einige Male für meinen Vater gehalten, der vor ein paar Monaten gestorben ist." Warm fühlte ich die Finger meiner Schwester, wie sie sich unterstützend auf meine ausgestreckte Hand legten.
„Mhm", machte die Ärztin und schrieb Zeile um Zeile auf ihr Blatt.
„Wie geht es nun weiter?", fragte Vani, als sie offensichtlich die Stille nicht mehr aushalten konnte.
„Wir werden ihre Mutter erst einmal unter Beobachtung hier behalten müssen, um herauszufinden, um welche Art und Schwere der Erkrankung es sich handelt. Dabei gehen wir jetzt schon davon aus, dass mindestens eine Störung des Typs II ist. Bei 15 bis 20 % der Patienten kann es jedoch auch zu ein Rapid Cycling kommen. Davon sind Frauen häufiger betroffen. Davon wird gesprochen, wenn innerhalb von 12 Monaten mindestens vier oder mehr Episoden der Manie oder Depression auftreten. Erst dann kann zur medikamentösen Behandlung übergegangen werden." Sie machte eine Pause und sah uns direkt an. „Ihre Mutter ist krank. Es wird nicht nur die Stimmung, sondern auch das Fühlen, Denken und Handeln der Person beeinträchtigt. Das heißt auch, die Fähigkeit zur täglichen Lebensbewältigung kann betroffen sein. Deshalb ist es nicht unüblich, dass man die Therapie in eine psychatrische Einrichtung verlagert, bis sich der Patient stabilisiert hat."
„Sie kann nicht bei uns wohnen?", wollte Vani gleichdarauf wissen.
„In den ersten Monaten, wenn wir sie einstellen, wäre es das Beste, dass sie unter Beobachtung steht."
„Hätten wir es kommen sehen müssen?"
Meine eingeworfene Frage überraschte sie etwas, und doch musste sie spüren, dass all mein Schuldbewusstsein darin offengelegt wurde.
„Da allgemein bei Menschen Stimmungsschwankungen normal sind, gehen die meisten Angehörigen nicht von solch einer Erkrankung aus. Und obwohl die Gemütslage eines Manisch-Depressiven einer Naturgewalt gleicht, kehren sie in manchen Zeiträumen zwischen zwei Phasen zu einem Normalzustand zurück. Meist nehmen Patienten Hilfe nicht an, reagieren sogar gereizt. Also ja, es gab Signale, doch es trifft niemandes Schuld, dass es zu diesem Suizidversuch gekommen ist."
Signale waren da. Und ich hatte sie wie schon so oft in meinem Leben nicht wahrgenommen.
„Was können wir sonst für sie tun?"
„Ihre Mutter braucht eine Vertrauensperson, braucht ihre Familie, die sie immer wieder ermutigt, sich mit der Krankheit und der Therapie auseinanderzusetzen. Es ist eine Erkrankung, die eine lebenslange Behandlung erfordert, das müssen Sie sich vor Augen führen. Ich halte es auch für sinnvoll eine Familientherapie anzusetzen. Diese scheinen mir bei ihrer Mutter besonders wirksam."
„Wir werden alles Mögliche tun, damit es ihr besser geht."
„Haben Sie keine Angst", sie legte das Klemmbrett weg und sprach in einem sanfteren Tonfall weiter. „Mit der richtigen Behandlung können die Symptome effizient bekämpft und der Verlauf gebessert werden. Was sie braucht sind Unterstützung und Verständnis Ihrerseits."
Vanessa antwortete mit einem Nicken, ich jedoch konnte nicht anders, als stumm auf den gemusterten Boden zu schauen.
„Wir müssten nur noch ein paar Papiere ausfüllen und unterzeichnen, dann können wir mit der Behandlung Ihrer Mutter beginnen"
Auf einmal fühlte ich mich eingeengt, fühlte, dass zu wenig Sauerstoff in meine Lungen strömte, dass ich vollends mit der Situation überfordert war.
„Ich muss hier raus", scharrend rutschte mein Stuhl über den Boden, ehe ich die Tür ansteuerte und diese mit einem kräftigen Ruck öffnete.
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