Kapitel 4

Lisa

„Hey, da bist du ja." Vanessa sah mich freudestrahlend an. Bevor ich sie umarmte, roch ich ihn. Diesen speziellen Duft, den nur er besaß. Er war hier, und jetzt verstand ich auch, warum ich fast mit einem Mädchen zusammen gestoßen war. Sie sah aufgebracht aus, hatte mich jedoch keines Blickes gewürdigt.

„Ich bin gerade einem ziemlich leicht bekleideten Mädchen begegnet." Vanessas Mundwinkel wanderten langsam nach unten.

„Joint hatte mal wieder Besuch."

„Das dachte ich mir schon." Sie ließ mich vor in ihr Zimmer gehen, und schloss dann hinter uns die Tür.

„Also erzähl, wie läuft es so mit Sean? Was hat er zu deiner plötzlichen Abreise gesagt?" Achja richtig, Sean. Meinen Tutor hatte ich beinahe vergessen.

„Nichts."

„Nichts?" sie sah mich fragend an. „Wie ist das denn zu verstehen?"

„Ich habe ihm nicht direkt Bescheid gesagt."

„Wie nicht direkt?"

„Naja, dein Anruf kam so plötzlich, dass ich ihm einen Zettel da gelassen habe."

„Einen Zettel?" Verwunderung lag in ihren Augen. „So kenne ich dich gar nicht, Lisa."

„Ich weiß, ich weiß. Ich fühle mich auch wirklich schrecklich deswegen." Frustriert warf ich meine Hände vors Gesicht. „Aber ihn jetzt anzurufen, wäre noch schlimmer, das kann ich nicht bringen."

„Hmm." Sie setzte sich zu mir aufs Bett. „Eigentlich gibst du mir immer die Tipps fürs Leben, dass ich jetzt an der Reihe bin, ist echt überraschend." Sie schenkte mir ein Lächeln, das ich augenblicklich erwiderte. Ich freute mich so sehr für sie, dass sie einen Mann gefunden hat, der sie perfekt ausfüllte. Ihre Augen leuchteten so strahlend, dass ich jedes Mal davon geblendet wurde. Sie verdiente einen aufrichtigen und netten Mann wie Niklas in ihrem Leben.

„Aber denkst du nicht, dass er sich besser fühlt, wenn du ihm wenigstens sagst, dass es dir gut geht?"

Ich nickte stumm. Da hatte sie Recht, das hätte ich schon längst tun können, doch immer wenn ich die Nummer wählte, kniff ich in der letzten Sekunde. Ich wusste, dass ich ihm eine Erklärung schuldig war, sollte ihm erzählen, warum ich mit ihm Schluss gemacht hatte, doch ich brachte es einfach nicht übers Herz.

„Magst du ihn überhaupt noch?"

„Natürlich, ich hatte echt viel Spaß mit ihm."

„So meinte ich das nicht." Sie sah mich eindringlich an. „Willst du noch mit ihm zusammen sein?"

Jetzt musste ich es ihr sagen, sie sollte es als Erste erfahren.

„Genau genommen, sind wir kein Paar mehr."

„Was?" Ihre Augenbrauen hoben sich gen Himmel. „Und das sagst du mir jetzt erst? Wie lange bist du schon hier? Einen Monat und da konntest du mir dieses wichtige Detail in deinem Leben nicht sagen?"

„Es tut mir leid, du hattest eben eine schwierige Zeit, hast sie immer noch, und da wollte ich dich nicht auch noch zusätzlich mit meinen Problemen belasten."

„Du kannst immer mit deinen Problemen zu mir kommen" Liebevoll drückte sie meine Schulter. Sie hatte sich wirklich verändert, das konnte niemand leugnen. Sie ließ wieder Nähe zu und hatte ihr Leben durch die Therapie wieder einigermaßen im Griff. So stolz wie heute war ich noch nie auf sie.

„Apropos, hast du vielleicht einen Job für mich? Ich muss meiner Mutter etwas unter die Arme greifen, wenn ich jetzt wieder bei ihr wohne." Nachdenklich sah sie mich an.

„Ich wüsste da was, weiß aber nicht, ob dir das liegt." Bei ihren Worten setzte ich mich aufrecht hin.

„Ich nehme alles, Hauptsache ich bekomme mein Geld." Sie lachte wegen meiner Zweideutigkeit kurz auf.

„Gut zu wissen. Wir können später dort vorbeischauen." Sie machte es sich etwas bequemer auf dem Bett, lehnte ihren Kopf gegen ein großes weiches Kissen. „Jetzt musst du mir erstmal alles von dir und Sean erzählen."

Mist, ich hatte gedacht, dass sie ihn schon wieder vergessen hatte, doch nach ihrem neugierigen Gesichtsausdruck nach zu urteilen, würde sie nicht so schnell locker lassen. Also biss ich in den sauren Apfel, holte ziemlich weit aus, und erzählte ihr, wie ich Sean das erste Mal getroffen hatte.

Nach meinem Abschluss hatte ich beschlossen ins Ausland zu gehen, hatte Angst, dass ich irgendetwas von der großen weiten Welt verpassen konnte. Dazu musste ich auch leider in Kauf nehmen, meine beste Freundin zurück zulassen, doch ich versprach ihr, jede Ferien zu ihr zukommen, was soweit auch gut geklappt hatte. Dann traf ich meinen ehemaligen Tutor, in einem Seminar für Management. Im Gegensatz zu mir war er von der ersten Sekunde an von mir begeistert, fragte mich auch nach einem Date, dem ich erst nach der vierten Anfrage zustimmte. Er sah gut aus, keine Frage, mit seinem kurzen braunen Haar, den grauen Augen und dem guten Kleidungsstil, doch eigentlich hatte ich den Männern abgeschworen. Wenigstens für eine Weile wollte ich mal den Kopf von diesem Geschlecht frei bekommen.

Sean jedoch hatte da ganz andere Pläne und ließ nicht locker. Was sollte auch schon passieren? Ich konnte nicht jeden Mann mit dem vergleichen, der mich verletzt hatte. Das wäre ihm gegenüber unfair gewesen. Also gab ich ihm eine Chance, ging mit ihm auf ein Date, das wirklich Spaß machte. Er lud mich ins Kino ein, kaufte mir mein Lieblingseis, und von da an, hatte ich ihn schon ins Herz geschlossen. Egal wie der Abend ausging, ich würde einen weiteren guten Freund in meinem Leben haben.

Auf dem Nachhauseweg küsste er mich, worauf ich erst verlegen zurück schreckte. Seit vier Jahren hatte ich niemanden mehr geküsst, und jetzt auch noch meinen Tutor, das war einfach zu viel für mich. Dabei wollte ich mich ändern, wollte nicht mehr dieses schüchterne Mädchen sein, das immer übersehen wurde, das man leicht verletzen konnte. Nein, ich musste endlich mit der Vergangenheit abschließen, und wer bot sich da besser an als Sean.

Bei unseren nächsten Treffen stellte ich mich nicht mehr so verkrampft an, wenn er mich berührte, versperrte den Gedanken an den Mann, in den ich verliebt war in die hinterste Ecke meines Kopfes, und versuchte mich auf Sean einzulassen. Es lief auch gut, besser als ich gedacht hatte, trotzdem fehlte mir etwas, wenn wir alleine waren. Die Atmosphäre knisterte nicht und es flogen auch keine Funken, wenn wir uns küssten. Auch wenn das jetzt alles naiv klang, wartete ich doch auf denjenigen, bei dem diese Dinge zu trafen. Einer hatte mich es fühlen lassen, brachte mein Herz nur mit einem einzigen Blick zum Schmelzen, doch den musste ich mir verdammt noch mal aus dem Kopf schlagen.

Mit den Jahren über entwickelte sich meine Sehnsucht nach ihm zu Wut, mit der ich nach der Zeit viel besser zu Recht kam. Ja, wenn ich ihn hasste, konnte ich mit seiner Demütigung viel besser umgehen, konnte sie sogar teilweise vergessen.

Dann kam vor einem Monat Vanessas Anruf. Sofort ließ ich alles stehen und liegen, setzte mich in den nächstbesten Flieger und flog zu ihr. Die ganze Zeit redete ich mir ein, dass ich für sie gekommen war, und nicht für ihn. Das musste ich mir immer wieder vorsagen, sonst würde ich es nicht in seiner Nähe aushalten. Natürlich hatte ich Vanessa nichts von meiner Vergangenheit erzählt, obwohl ich es tun wollte, konnte ich es nicht. Das würde ihr Bild von mir mit einem Schlag zerstören, und das durfte ich nicht zulassen. Ich war derzeit mit ihre einzige Stütze und musste mich auch dementsprechend verhalten.

„Wow." Sie sah mich mit großen Augen an, als ich meine Geschichte zu Ende erzählt hatte. „Hört sich auf jeden Fall nach einem tollen Typen an. Sicher, dass du ihn nicht anrufen willst?"

Vor einer halben Stunde hatte ich geglaubt meine Entscheidung getroffen zu haben, doch wenn ich jetzt darüber nachdachte, dann sollte ich ihm alles erklären. Nach allem, was er für mich getan hatte, sollte ich mich wenigstens bei ihm melden.

„Doch, das wäre nur fair von mir."

„Das ist meine Lisa, die ich kenne." Ihr liebevoller Blick verwischte meine ganzen negativen Gedanken.

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