Kapitel 39
Lisa
Ein lauter Aufschrei meiner Mutter riss mich aus meinen Gedanken. Sie musste ihm wohl genau in diesem Moment begegnet sein. Egal wie sehr ich mich anstrengte, ich konnte seine genuschelten Worte zu ihr nicht definieren. Dann, nach einigen Minuten schlug die Haustür zu und ich nahm die knarzenden Schritte meiner Mutter wahr, die sich immer weiter auf mein Zimmer zubewegten.
„Lisa?" sie machte sich nicht einmal die Mühe zu klopfen, sondern trat einfach in den Raum. Den Bademantel eng um ihren Körper geschlungen suchte sie nach mir. Als sie mich auf dem Bett fand, stützte sie beide Hände in die Hüfte. „Mir ist eben ein junger Mann über den Weg gelaufen." Das war keine Frage, trotzdem wartete sie auf eine Antwort meinerseits.
Immer noch unfähig zuckte ich mit den Schultern, erinnerte mich an das schöne Gefühl, das mir zunehmend entglitt.
„Er hat doch nicht hier übernachtet oder?" Sie kam näher. „Ihr habt doch nicht ..." Als würde sie das überhaupt etwas angehen! Unruhig schaute sie im Zimmer umher, doch sie würde nichts finden, keine Beweise, dass etwas zwischen Joint und mir gelaufen sein könnte.
„Mom", sagte ich streng, nahm die Hand von meinem Hals und setzte mich aufrechter hin. „Obwohl es dich nichts angeht, er ist ein guter Freund, mehr nicht."
„Es geht mich sehr wohl etwas an!" Ich verdrehte genervt die Augen. „Du bist immer noch meine Tochter und nicht alle Männer sind nette Kerle. Ich will dich doch bloß beschützen."
Tja, da kam sie wohl vier Jahre zu spät. Wenn sie wüsste, dass ich schon Bekanntschaft mit eben diesen Männern gemacht hatte. Mir war bewusst, was es hieß, ein gebrochenes Herz zu haben.
„Ich weiß", sagte ich etwas versöhnlicher. „Aber ich bin 20 Jahre alt und weiß was ich tue."
Sie sah mich skeptisch an, ihr Blick richtete sich auf die zweite Hälfte meines Bettes, wo das zerknitterte Kissen lag, auf dem Joint geschlafen hatte.
„Ich wüsste nur gerne Bescheid, wenn ein Mann im Haus ist. Das ist alles."
„Ok, ich werde es das nächste Mal berücksichtigen, Mom." Sie schenkte mir ein zufriedenes Lächeln, dann setzte sie sich auf die Bettkante, legte die Hände in den Schoß und schaute diese einige Minuten lang stumm an.
„Es tut mir leid", flüsterte sie dann leise zu mir.
„Nein, Mom." Vorsichtig legte ich einen Arm um ihre Schulter. „Ich sollte mich für meinen Ausraster entschuldigen. Das war nicht fair von mir. Du hattest es eben nur gut gemeint, und das habe ich nicht gesehen."
Ihre Augen glitzerten feucht, als sie den Kopf hob und mich direkt anschaute. „Ich dachte, dass es für dich dadurch leichter werden wird. Ich wollte dich damit nicht verletzen, Mäuschen." Sie drückte leicht meinen Arm. „Dein Vater fehlt mir immer noch so sehr, dass es kaum auszuhalten ist. Und ich weiß, dass es für dich als Tochter noch schlimmer sein muss. Ich war so dumm zu glauben, die Muffins würden dich von dem Schmerz befreien. Es tut mir leid", wiederholte sie am Schluss und eine Träne kullerte ihr die Wange hinab. Mir zerriss es fast das Herz, als ich sie so niedergeschlagen sah. Sie sollte sich nicht schuldig fühlen, nicht nach allem was wir gemeinsam durchgestanden hatten.
„Ich vermisse Dad auch wie verrückt, es scheint fast unerträglich zu sein, doch ich habe immer noch dich Mom." Ich schaute ihr direkt in die Augen. „Ich kann auf dich zählen, du bist die einzige Stütze in meinem Leben, die mich aufrecht hält. Wir haben schon so viel erlebt, da kann uns so ein blöder Streit nicht auseinander bringen." Sie schluchzte bei meinen Worten auf, klammerte sich fest an meinen Arm.
„Du bist genau wie er", weinte sie, sodass mir ebenfalls Tränen in die Augen traten. Nein, ich werde nicht schon wieder weinen. Ich habe gestern schon zu viele Tränen vergossen, das hatte Dad nicht verdient.
„Mom," sie sah mich traurig an. „Wir müssen Dad in einer schönen Erinnerung im Herzen behalten. Er hätte nicht gewollt, dass wir uns in eine Ecke verkriechen und weinen. Nein, er hätte gewollt, dass wir unser Leben genießen, dass wir das Beste herausholen und nicht in Trauer und Schmerz leben." Sie nickte mir zu.
„Du hast Recht mein Mäuschen." Sie wischte sich etwas unbeholfen die Tränen von den Wangen, richtete sich auf und nahm meine Hand in ihre. „Wenn er uns jetzt so gesehen hätte, hätte er uns die Hölle heiß gemacht. Das Leben ist zu kurz um traurig zu sein, hätte er gesagt." Sie lachte kurz auf. „Das hätte er wahrscheinlich gesagt." Als sie noch ein weiteres Mal lachte, stieg ich mit ein, erleichtert über ihre Freude in den Augen.
„Er hätte keineswegs unsere Tränen geduldet, hätte uns mit irgendeinem seiner schlechten Witze versucht zum Lachen zu bringen."
„Die waren wirklich immer schlecht gewesen!" Jetzt strahlte meine Mutter im Gesicht, sodass ich sie kurzerhand umarmte.
„Danke", flüsterte ich, wobei ich nicht sagte, wofür. Das musste ich nicht. Ich spürte ihre Arme, wie sie sich kräftig um meinen Rücken schlangen. Zufrieden atmete ich ein. Nach allem, was ich nach dem Tod meines Vaters getan hatte, konnte ich nur dankbar für die Güte meiner Mutter sein. Sie hatte alles mitgemacht, hatte mich nicht verurteilt, hatte mich so genommen, wie ich war. Und mir war bewusst, dass das nicht selbstverständlich war.
Nach einer Weile streichelte sie mir sanft über den Kopf. „Ich mache uns mal einen Tee." Widerwillig ließ ich sie gehen, sagte ihr noch, dass ich gleich nachkommen werde und sah ihr hinter her, wie sie aus dem Zimmer verschwand.
Frustriert ließ ich mich zurück in die Kissen fallen, wobei mir Joints herber Duft in die Nase stieg. Er hatte auch einen Menschen verloren, war genauso verwirrt wie ich damals. Irgendwann würde es besser werden, irgendwann würde er erkennen, dass sein ständiges Abweisen nur die Menschen verletzte, die er in seinem Leben brauchte. Und ich musste ihm dabei auf die Sprünge helfen, damit er es endlich kapierte.
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