Kapitel 37

Joint

„Ich trage die Schuld am Tod meines Vaters." Wiederholte ich, während ich Lisa noch näher an mich drückte. Tröstend atmete ich ihren Duft nach Aprikose ein, wappnete mich jedoch gleichzeitig für die Verachtung, die sie mir in jeder Sekunde entgegen schleudern würde.

„Was?", ihre Stimme klang brüchig, sie stemmte sich gegen meine Brust, um mir in die Augen schauen zu können. „Was hast du gerade gesagt?" Doch soweit ließ ich es nicht kommen, schlang beide Arme um ihren Rücken und hielt sie somit davon ab, Abstand von mir zu nehmen. Wenn ich nicht jetzt weiter redete, dann würde ich es wahrscheinlich niemals laut aussprechen, also drückte ich sie noch einmal fest an mich, ehe ich den Mund aufmachte und ihr alles gestand.

„Nachdem ich raus gefunden hatte, dass mein Vater sich genauso an meiner Schwester verging wie bei mir damals, wollte ich ihn genauso leiden lassen. Ich wollte, dass er seine gerechte Strafe bekam. Der Rauswurf aus seinem Haus reichte mir schon bald nicht mehr aus und als noch Vanessa durch Angst getrieben von zu Hause weg rannte, machte ich ihn für alles Schlechte, was uns im Leben widerfahren war, verantwortlich.
Gleich darauf schwang ich mich in meinen Wagen, um Vanessa aufzuspüren. Doch obwohl ich mir so große Sorgen um sich machte, steuerte ich auf die Lieblingsbar meines Vaters zu. Insgeheim wusste ich, dass sie nun in Sicherheit war. Und tatsächlich fand ich ihn, besoffen und zusammenkauernd am Tresen vor. Als hätte er meine Anwesenheit gespürt, wandte er genau in dem Moment, in dem ich die Bar betrat seinen Kopf und starrte mich verachtend an. Mein Gesichtsausdruck durfte nicht anders ausgesehen haben, ich wollte ihm meine Wut spüren lassen. Also trat ich einen Schritt auf ihn zu, holte mit der Hand aus und schlug ihm freiweg in sein verlogenes Gesicht."

Meine harten Worte ließen Lisa laut nach Luft schnappen, dennoch rückte sie nicht von mir ab, was mich ermunterte weiter zusprechen. „Scheiße, meine Hand hatte glaube ich noch nie so weh getan wie in diesem Moment, aber die Genugtuung, dass sich sein Gesicht noch viel schlimmer anfühlen musste, ließ mich meinen eigenen Schmerz vergessen.
Sobald ich den Blick wieder auf ihn gerichtet hatte, flog mein Kopf auch schon zur Seite."
Ich lachte über die Erinnerung bitter auf, Lisa strich tröstend mit einer Hand meinen Rücken hinab. „Er hatte mich geschlagen, wie er es schon so oft getan hatte, doch dieses Mal tat er es vor Publikum. Ich konnte gar nicht so schnell reagieren, da wurde ich auch schon von zwei starken Händen gepackt und vor die Tür gesetzt. Wir sollten uns woanders prügeln, hatte der Securitymann gesagt, nachdem er auch meinen Vater aus der Bar bugsiert hatte. Im gleichen Augenblick kam dieser auch schon auf mich zu, verpasste mir einen Kinnhaken und gab mir einen kräftigen Stoß, sodass ich rückwärts in den Dreck fiel. Und da wurde mir auf einmal bewusst, dass ich ihn nie besiegen konnte. Er würde immer weiter machen, egal wie sehr er uns damit verletzte. Körperlich würde ich ihm immer unterlegen sein. Anscheinend genügte ihm mein Anblick, denn er machte einfach Kehrt, stieg schwankend in sein Auto und startete den Motor. Es schien damals so, als hätten mein Körper und mein Geist sich von meiner Seele getrennt. Ohne auch nur die kleinste Bewegung stand ich da, sah ihm ohne jegliche Emotion hinterher, wie er in Schlangenlinien die Straße entlang fuhr. Ich wusste, dass es nicht gut ausgehen würde, wusste, dass er die Kontrolle über den Wagen verlieren würde, doch ich konnte mich nicht bewegen. Als die Nachricht kam, dass er gegen einen Baum gekracht und sofort tot war, verspürte ich noch nicht einmal da irgendeine Art von Trauer."

„Georg", wisperte Lisa leise, ich unterbrach sie jedoch gleich darauf.
„Nein, ich fühlte nichts bis meine kleine Schwester und meine Mutter um diesen Mann trauerten, sogar um ihn weinten."

„Was hast du gefühlt?", fragte sie vorsichtig, die Stimme gedämpft durch mein Shirt.

„Schuld. Nicht wegen meines Vaters, sondern wegen Vanessa und meiner Mom. Ich habe sie im Stich gelassen, war für sie nicht da gewesen und mit diesen Schuldgefühlen versuche ich seit seinem Todestag umzugehen. Versuche verdammt nochmal, dieses bedrückende Gefühl in meiner Brust loszuwerden", meine Stimme versagte kläglich.

„Georg", ein weiteres Mal fuhr ihre Hand beruhigend meinen Rücken entlang. Dann drückte sie sich weg, um mir ins Gesicht zu schauen, doch ich wandte den Blick ab. Konnte es nicht.

„Georg", liebevoll legte sie mir beide Hände an die Wangen und hob meinen Kopf. „Sie mich an"
Langsam und unsicher kam ich ihrer Aufforderung nach. Wie ich erwartet hatte, schauten mich ihre grünen Augen geschockt an. „Ich möchte ehrlich zu dir sein, deine Worte haben mich erschüttert", sie schluckte. „Aber, und das ist das, was mich mehr überrascht, ich verurteile dein Handeln nicht. Obwohl mir mein Vater viel zu früh aus meinem Leben gerissen wurde und du deinen so leicht freigegeben hast, kann ich dich verstehen." Verwundert sah ich sie an, als sie weiter sprach. „Was euch, dir und Vanessa, dieser Mann angetan hat, ist in keinster Weise zu entschuldigen. Er war so ein schwacher Mensch, dass er seine Kinder, seine ganze Familie so schlecht behandelt hat."

„Ich hätte ihn fahren können, einfach zu ihm gehen können, aber ich habe es nicht getan und das macht mich ebenfalls zu einem schwachen Menschen", hielt ich gegen ihre Worte.

„Das hättest du tun können, ja. Aber was wäre dann gewesen? Wie du schon sagtest, er hätte niemals mit eurer Pein aufgehört."

Ich wollte schon den Mund aufmachen, da schüttelte sie kaum merklich den Kopf. „Du bist kein schwacher Mensch, Georg. Du würdest das niemals einem Menschen grundlos antun. Du liebst deine Schwester und deine Mutter und willst sie eben mit deiner etwas verschrobenen Art schützen. Das habe ich jetzt kapiert."

„Nein", ich schloss die Augen, nicht fähig ihrem aufrichtigen Blick Stand zu halten. „Das ist nicht wahr. Die Schrammen, die ich damals im Gesicht und an meinen Händen hatte, die stammen von einem Fight, einem illegalen."

Sie seufzte auf. „Langsam habe ich das Gefühl, dass du willst, dass ich dich von mir stoße."

„Sollst du auch, ich bin ein schlechter Mensch, Lisa", ich öffnete wieder die Augen.

„Dann...dann sag mir, warum du dich freiwillig prügelst."

„Weil...", sie verdiente auch hier die Wahrheit. „Ich prügel mich, weil ich endlich wieder die Kontrolle in meinem Leben übernehmen will. Ständig fühle ich diese Wut in mir, die mich langsam aber sicher um den Verstand bringt. Ich weiß, das ist nicht leicht zu verstehen, aber diese Kämpfe geben mir Sicherheit, geben die nötige Stärke, die ich meinem Vater gegenüber nie bewiesen habe."

„Und verschwindet deine Wut denn gänzlich mit diesen Kämpfen?"

„Nein", antwortete ich wahrheitsgemäß.

„Und wann dann?", fragte sie leise.

„Nur, wenn ich bei dir bin." Unsere Blicke trafen sich, verwoben sich ineinander bis ich den Kontakt abbrach. „Aber ich bin nicht gut für dich, ich habe dich sehr verletzt und werde es wahrscheinlich immer wieder tun."

„Georg, egal was du sagst, ich werde dich nicht von mir stoßen. Außerdem hast du dich entschuldigt und das ist doch schon einmal ein guter Anfang, findest du nicht?"

„Lisa." Ihre Worte bewiesen, dass sie wirklich zu gut für mich war. Von meinen Gefühlen übermannt, die mein Geständnis ausgelöst hatten, glitt ich mit meiner Hand in ihr weiches Haar, zog sie noch näher an mich, sodass ich meine Stirn gegen ihre lehnen und ihren fruchtigen Duft einatmen konnte. „Ich habe dich weiß Gott nicht verdient."

„Du hast dich mir geöffnet, deine Gefühle gezeigt und zugelassen, dass wir über deine Ängste und Zweifel reden. Das allein zählt für mich."

„Am meisten habe ich dich enttäuscht, das ist unverzeihlich."

„Schh." Sie hatte die Augen geschlossen, neigte den Kopf leicht zur Seite und streifte im nächsten Moment ganz sachte meine Lippen mit ihren. Obwohl die Berührung kurz und leicht war, breitete sich eine angenehme Wärme in meinem Körper aus. „Ich bin dir nicht mehr böse deswegen."
Unser Atem vermischte sich, vereinte uns auf einer höheren, zarteren Ebene, die mich einzig und allein Lisa wahrnehmen ließ. Alles andere war für mich unwichtig.

„Verzeihst du mir?", flüsterte ich gegen ihre Lippen, ehe ich diese ebenfalls sanft berührte.

Ein leises Stöhnen entwich ihrem wunderschönen Mund. „Das habe ich doch schon längst." Ihre Worte ließen mein Herz in einem schnellen Tempo gegen meine Brust klopfen, ihre liebevollen Berührungen erhöhten dieses um ein Vielfaches. Trotz alledem löste ich mich vorsichtig von ihr. Wir waren beide in einer instabilen Verfassung und das wollte ich nicht noch einmal ausnutzen. Gleichzeitig konnte ich ihr damit zeigen, dass ich mich für sie ändern konnte, dass ich mich für sie ändern wollte, ein Mann werden wollte, der sie glücklich machte, der sie verdient hatte. Nach allem, was heute geschehen war, sollten wir nichts überstürzen.

„Ich denke, wir brauchen beide etwas Schlaf."

Sie schenkte mir ein kleines Lächeln. „Ja, wahrscheinlich hast du recht." Während sie sprach, rückte sie, etwas widerstrebend von mir ab. Ich ließ es dieses Mal protestlos geschehen. Dann legte sie sich, entgegen meiner Erwartungen neben mich und warf die Decke über uns.

„Du kannst hier schlafen, wenn du möchtest." Glücklich über ihre versöhnlichen Worte, rutschte ich etwas nach unten und schmiegte mich zufrieden an ihren weichen Körper.

Ich bereute es auf keinen Fall, ihr einen Blick in meine Seele gewährt zu haben.

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