Kapitel 36
Lisa
Die Situation, in der ich mich befand, kam mir so surreal vor, dass ich erst einmal vor meiner Zimmertür Halt machte und diese ungläubig anstarrte. Unschlüssig, ob ich es wagen sollte, einzutreten und somit die Fehler der Vergangenheit womöglich wiederholen würde. Andererseits hatte sich Joint heute bei mir entschuldigt, was schon einmal ein richtiger Schritt in Richtung Freundschaft war. Ich seufzte auf. Also gut, ich werde ihm eine weitere Chance geben.
Langsam öffnete ich das schwere Holz und sah den Menschen, der mich schon so oft verletzt hatte, am Rand meines Bettes sitzen. Die Szene vor meinen Augen war so vertraut, dass ich hart schluckte, während ich leise die Tür zuzog.
Und trotzdem wirkte er verloren, wie er so in dem riesigen Meer aus Kissen zu mir aufstarrte. Seine braunen Augen richteten sich auf meine.
„Und? Hast du deiner Mutter erzählt, dass du männlichen Besuch hast?"
„Klar, und dass wir es gleich wie die Kannickel treiben werden", schnaubte ich zurück.
Seine Mundwinkel zuckten verdächtig. „Ich bin eigentlich aus einem anderen Grund hier, könnte meine Meinung aber auch gerne für dich ändern."
„Joint", schloss ich seufzend meine Augen. „Weswegen bist du hier aufgetaucht?"
Schweigen. Er hatte den Blick gesenkt, dann sah er auf und klopfte mit der flachen Hand auf die Matratze neben sich.
„Komm her", jegliche Belustigung war aus seiner Stimme gewichen. Einen Moment zögerte ich, sträubte mich dagegen, mich zu ihm auf das Bett zu setzen. Das würde doch niemals gut ausgehen, oder? Obwohl sich Zweifel in meinem Kopf breit machten, ging ich langsam auf ihn zu, ließ mich mit genügend Abstand auf meine Decke sinken.
Als er nach einer Weile das Schweigen immer noch nicht gebrochen hatte, drehte ich mich fragend zu ihm um. „Also? Jetzt bin ich hier. Du kannst es mir sagen." Ich sah zu, wie sich sein Adamsapfel nach meinen Worten, stark auf und ab bewegte. Als hätte er mit den nächsten Worten zu kämpfen, die jedoch nicht folgten.
„Joint", setzte ich diesmal etwas genervt an. „Ich weiß wirklich besseres mit meiner Zeit anzufangen. Zum Beispiel schlafen." Mein Blick wanderte zu meinem Wecker, der zwei Stunden nach Mitternacht anzeigte.
„Warum hast du heute geweint?", machte er schließlich den Mund auf.
Ich erkannte seine Taktik, meine Fragen mit Gegenfragen zu umgehen. Meiner Erschöpfung oder der späten Uhrzeit geschuldet ließ ich mich darauf ein, rutschte an die Kopfseite meines Bettes und bauschte die Decke um meine Beine, ehe ich antwortete.
„Heute ist der Todestag meines Vaters."
Ruckartig wandte er sich in meine Richtung, Bedauern stand in seinem Gesicht. „Das tut mir leid, Lisa", sagte er etwas unbeholfen.
„Schon gut, das konntest du ja nicht wissen." Ich schloss ein weiteres Mal die Augen. Im nächsten Augenblick spürte ich, wie sich die Matratze neben mir bewegte. Dann roch ich seinen einmaligen Duft, der mir nun intensiv in die Nase strömte. Ihn jetzt so nah bei mir zu spüren, verstärkte den Drang ihn in eine Umarmung zu ziehen um ein Vielfaches.
„Vermisst du ihn sehr?", durchbrach er irgendwann die Stille, die sich um uns gelegt hatte.
„Ja", krächzte ich, während eine einzelne Träne meine Wange hinab lief. „Es ist zwar schon lange her, doch er fehlt mir jeden Tag so sehr. Als er starb, brach eine Welt für mich zusammen. Ich habe tagelang nichts gegessen, verspürte einfach keinen Appetit, verließ mein Bett nur, wenn meine Mutter mich hinaushievte und auch dann wusste ich nichts mit meinem Leben ohne ihn anzufangen. Ich verlor den Blick für das wesentliche in meiner Trauer. Umso mehr versuche ich heute meinen Vater in Ehren zu halten, indem ich lebe, wie er es gerne für mich gewollt hätte. Er hätte nicht gewollt, dass sein Verlust mein Leben bestimmte", während ich sprach, legte er vorsichtig eine Hand auf meinen Unterarm und strich in sanften Bewegungen auf und ab, ermunterte mich, weiter zu sprechen. „Normalerweise kann ich meine Emotionen an seinem Todestag zurückhalten, doch dann kamst du mit deiner Entschuldigung und ich ... keine Ahnung ... das hat dann wohl alle Dämme brechen lassen", schloss ich mit einem leichten Lächeln.
Zuerst starrte er mich stumm an, um dann seinen Blick auf meine Lippen zu senken. „Es muss schrecklich sein, einen geliebten Menschen zu verlieren." Im ersten Moment nickte ich zustimmend, dann stockte ich jedoch. Wieso sagte er das, als wüsste er nicht, wie sich so ein Verlust anfühlen würde? Sein eigener Vater starb doch bei einem tragischen Autounfall. Die Tatsache, dass ich noch nie mit ihm, über den Tod seines Vaters gesprochen hatte, wurde mir mit seiner Aussage jetzt deutlich bewusst.
„Vermisst du denn deinen Vater? Fehlt er dir?", fragte ich vorsichtig. Abrupt hielt seine Hand auf meinem Arm mitten in der Bewegung inne und ich merkte, dass er sich überall am Körper versteifte. Vielleicht war es noch zu früh für ihn darüber zu sprechen.
„Tut mir leid, Georg. Ich wollte dir damit nicht zu nahe ..."
„Das tust du nicht", unterbrach er mich mit überraschend fester Stimme, trotzdem konnte ich eine Veränderung an ihm ausmachen. Der Gedanke, dass er seine Gefühle, seine Trauer die Monate über in sich hineingefressen hatte, ließ mich für diesen Moment alle Streitigkeiten zwischen uns vergessen. Kein Mensch konnte mit so einer schweren Last leben, er musste sich jemandem anvertrauen, sonst würde ihn sein Kummer noch um den Verstand bringen.
„Georg, ich habe eine Vermutung, warum du hier bist", diesmal war ich diejenige, die nun seine Hände in meine nahm und ihm fest in die Augen schaute. „Ich möchte nur, dass du weißt, dass ich dir zuhören werde. Dass ich für dich da bin."
Er wandte den Blick ab, nur um in der nächsten Sekunde meine Handgelenke zu umschließen und mich mit einem einzigen Ruck rittlings auf seinen Schoss zu setzen. Ich machte schon den Mund auf, um zu protestieren, dass er das Wort zuhören wohl anders definierte, da ließen mich seine kommenden Worte verstummen. Er ließ seinen Kopf in meine Halsbeuge sinken, sodass seine Worte nur gedämpft an mein Ohr drangen. Doch ich nahm sie wahr.
„Ich habe meinen Vater umgebracht."
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