Kapitel 33
Lisa
Heute ist einer der schlimmsten Tage in meinem Leben. Genau vor elf Jahren hatte mein Vater uns verlassen, ist gegangen ohne, dass ich noch einmal mit ihm backen konnte. Jeden Sonntag hatte er mit mir eine neue Kreation seiner geliebten Blaubeermuffins ausprobiert. Nach der Zeit war es zu einer Tradition in diesem Haus geworden.
Meine Mutter hatte uns immer nur belächelt, als wir uns mit Schürze und Mixer bewaffnet an die Arbeit machten. Damals sah man noch seine Augen leuchten, die mich so glücklich gemacht hatten, doch dann im Krankenhaus war nichts mehr von jener Freude zu sehen.
Er hatte zunehmend Schmerzen, sie wurden so schlimm, dass man sogar die Dosis seiner Medikamente erhöhte. Der Krebs hatte wieder gestreut, schritt in so einem rasanten Tempo voran, dass jede Hilfe zu spät kam.
Einzig allein die Qualen, die ihn plagten konnten gemindert werden. Zu der damaligen Zeit war ich jeden Tag nach der Schule zu ihm gekommen, hatte ihm vorgelesen, ihm Muffins gebacken, die er irgendwann ohne Unterstützung nicht mehr selbstständig essen konnte. Nach meinen vielen Besuchen, kannte die ganze Station meinen Namen. Im Gegensatz zu meinem Vater, der mich immer seltener wiedererkannte. Seine Haut rings um sein Gesicht war eingefallen, seine Augen wirkten leer und ausdruckslos, er hatte viel Gewicht verloren, lebte buchstäblich nur noch von seinen Tabletten.
Er war nicht mehr derselbe Mensch, der mich einst groß gezogen hatte. Dieser Mensch, der viel zu klein in dem viel zu großen Bett wirkte, war gezeichnet von seiner Krankheit, schien mit jedem Tag kraftloser und verletzlicher.
Trotz des schrecklichen Anblicks erlaubte ich mir nicht ihn aufzugeben. Nein, ich musste in den letzten Tagen, Stunden, Minuten seines Lebens für ihn da sein, das hatte er verdient. Er war mein Vater, ich liebte ihn mehr als jemand anderen.
Schlurfend ging ich in die Küche, wollte mir einen Kaffee einschenken, da platzte meine Mutter, bepackt mit zwei vollen Tüten in den Raum. Sie wirkte aufgewühlt, hektisch versuchte sie die Sachen aus der Tüte zubringen. Sofort griff ich ein. Sie benahm sich jedes Jahr an diesem Tag so verwirrt, da war dieser Anblick keine Überraschung mehr. Ich hatte sie seit sie mit Anton auf das Date gegangen war, nicht mehr gesehen. Doch obwohl ich neugierig war, wie es gelaufen war, musste ich bis morgen damit warten. Heute würde es nur um meinen Vater gehen, der Tag war für ihn reserviert.
„Warte, Mom, ich mach das schon." Sie sah mich dankend an, holte sich eine Tasse aus dem Schrank und goss sich etwas von der braunen Flüssigkeit hinein.
„Heute war wirklich die Hölle los im Supermarkt."
Sorgsam verfrachtete ich die Milch in den Kühlschrank, füllte den Zucker in die dafür vorgesehene Dose und warf das Backpulverpäckchen in einen kleinen Korb neben der Spüle.
„Wann musst du heute arbeiten?", fragte sie mich, doch ich blieb mitten in der Bewegung stehen. Ich stutzte erst, als ich die zwei Tiefkühlpackungen Blaubeeren in der Hand hielt. Eine böse Vorahnung schlich sich in meinen Kopf.
„Lisa?"
„Was willst du damit machen?" Ich sah sie an, die Beeren anklagend in der Hand.
„Ist das nicht offensichtlich?" Sie lächelte leicht. „Ich wollte die Muffins deines Vaters machen."
Nein, so sollte das nicht laufen. Die hatte ich nur mit ihm gemacht. Kein anderer hatte sich jemals daran beteiligt.
„Wieso?"
„Wieso nicht? Du magst sie doch so sehr."
„Nein, das kannst du nicht einfach beschließen", sagte ich aufgebracht.
„Lisa, ich wollte doch nur ..."
„Du hast doch keine Ahnung wie das Rezept geht!" Ich wurde immer lauter. „Dafür nimmt man frische Beeren und nicht diese Dinger hier." Demonstrativ warf ich die zwei Packungen wieder zurück in die Tüten.
„Du kannst mir ja helfen." Sie hatte sich nicht weiter bewegt, hielt ihre dampfende Tasse immer noch in den Händen, als würde sie das nicht kümmern.
Wütend schüttelte ich den Kopf. „Nein, du bist nicht Dad."
Ich stürmte aus der Küche, konnte ihr nicht mehr in die Augen schauen. „Und heute ist noch nicht einmal Sonntag, Mom!" Ich hatte mich schon lange nicht mehr so aufgeregt, vor allem vor meiner Mutter, wusste nicht wie ich mit meinen zittrigen Händen, mit dem unregelmäßigen Atem umgehen sollte.
Eins wusste ich jedoch, in diesem Haus konnte ich nicht länger bleiben. Hastig schnappte ich mir meine Jacke, eine Kerze und stürmte aus der Tür, bevor mich meine Mutter aufhalten konnte.
Es hatte die Nacht zuvor geregnet, der Boden unter meinen Füßen gab schmatzende Geräusche von sich, als ich den schmalen Weg zum Grab meines Vaters entlang schritt. Vor einem großen, braunen Stein blieb ich stehen. Nur der Name meines Vaters und sein Todesdatum waren auf die Oberfläche eingraviert worden. Vorsichtig entfernte ich den Efeu, der sich an den Stein hangelte, nahm die Laterne in die Hand, die sich auf dem Beet befand und legte meine mitgebrachte Kerze hinein. Ich zündete diese an und stellte sie wieder an ihren Platz zurück.
Für einige Sekunden schaute ich dem Flackern des Lichtes dabei zu, wie es immer heller wurde. Es hatte eine beruhigende Wirkung auf mich.
Dann ging ich langsam in die Hocke, schloss die Augen und rief ein Bild meines Vaters auf, das mich so sehr an die schönen Zeiten mit ihm erinnerte. Die vertraute Wärme breitete sich in meiner Brust aus, zauberte ein kleines Lächeln auf meine Lippen und ich öffnete die Augen, den Blick auf den Grabstein gerichtet.
„Hey, Dad", fing ich leise an. „Ich vermisse dich so schrecklich." Ich atmete kontrolliert aus. „Ich hoffe, dir geht es gut im Himmel." Ich hob den Kopf, sah zu den grauen Wolken hinauf. „Hoffentlich behandeln dich auch alle gut, geben dir regelmäßig deinen Blaubeermuffin, den du so sehr liebst." Leise lachte ich auf. Die Sonntage waren meine Lieblingstage gewesen.
„Weißt du," meine Knie gaben nach und ich setzte mich auf den Rand des Beetes. „Vanessas und Georgs Vater ist auch gestorben, vielleicht begegnest du ihm ja mal. Obwohl ich eher vermute, dass er nicht zu den guten Personen gehört." Ich schloss wieder die Augen, führte den Monolog unbeirrt fort. „Jetzt würdest du mir wahrscheinlich widersprechen, würdest sagen, dass jeder Mensch etwas Gutes in sich trägt."
Ich machte eine Pause. „Ich helfe Vani über ihren Verlust hinweg zu kommen, was ihr denke ich auch ganz gut gelingt. Ihr großer Bruder bereitet mir da größere Sorgen, mit dem Tod seines Vaters abzuschließen. Wenn du ihn sehen könnest, würdest du mir auf jeden Fall raten, die Finger von ihm zu lassen. Was ich auch wirklich versuche. Er verletzt mich immer wieder mit seinen gemeinen Worten, mit der Kälte in seiner Stimme, als würde ich ihm nichts bedeuten." Meine Stimme wurde versöhnlicher. „Dabei kann ich sein Verhalten nur zu gut verstehen. Als ich dich verloren habe, Dad, konnte ich auch nicht mehr klar denken, konnte nicht mehr über mein Handeln entscheiden bis mir Mom deutlich gemacht hat, dass nicht die anderen die Schuld an deinem Tod tragen. Niemand konnte etwas dafür."
Ein Kloß hatte sich in meinem Hals gebildet, meine Augen brannten verdächtig, doch ich ließ es nicht zu, konnte es nicht. Es war nicht der richtige Ort.
„Oh, und ich arbeite neuerdings in einer Kneipe", erzählte ich weiter, um mich auf andere Gedanken zubringen, versuchte die Trauer zu ignorieren, die in mir aufstieg. „Wer hätte gedacht, dass mir das Bedienen von Menschen einmal Spaß machen würde?" Ich schüttelte resigniert den Kopf. „Vielleicht sieht so meine Zukunft aus? Gläser und Teller spülen?" Ein Windstoß ließ mich frösteln. „Nein, ich weiß. Ich werde etwas anderes aus meinem Leben machen."
Was genau mein Leben für mich vorgesehen hatte, wusste ich nicht.
Einige Minuten saß ich schweigend am Grab, doch als die Kälte immer mehr durch meine Kleidung drang, war es Zeit zugehen. Obwohl der Frühling nahte, war der Wind noch eisig.
„Hab dich lieb, Dad", verabschiedete ich mich von meinem Vater, bereit mich diesem Tag zu stellen.
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