Kapitel 30

Joint

Ihre Hand lag auf meinem Arm, fest drückte sie zu, als könnte ich ihr sonst entwischen.

„Du kannst doch nicht einfach so in ihr Zimmer platzen!" Ihr Blick lag auf meinem Gesicht, machte deutlich, dass sie es ernst meinte.

„Hat sie das ehrlich gemeint, was sie gesagt hat?" Geistig befand ich mich immer noch im Zimmer und hatte meine niedergeschlagene Schwester vor Augen.

„Du denkst doch nicht etwa, dass sie enthaltsam lebt, oder? Mensch, Georg, die beiden lieben sich, da kann es schon mal vorkommen, dass sie Sex miteinander haben." Sie machte sich über mich lustig, doch ich konnte nicht in ihr Spiel mit einsteigen.

„Wenn er ihr irgendwas getan hat, dann..."

Auf einmal spürte ich einen leichten Druck am Handgelenk. Genau auf die Stelle meines Knöchels hatte sie ihren zierlichen Daumen gelegt.

„Beruhige dich, Joint." Mit großen Augen schaute sie mich an. „Dein Puls rast ja richtig." Ich konnte nur in dieses Waldgrün starren, das versuchte mich in einen Bann zu ziehen. Sie machte einen Schritt auf mich zu, senkte dabei ihre Stimme.

„Vanessa geht es gut. Ihr wurde nichts angetan." Ihre Worte drangen nur gedämpft an mein Gehirn. Allein ihre Nähe reichte aus, damit sich meine Wut legte. Noch vor ein paar Sekunden hatte ich große Lust irgendetwas zu zerstören, doch jetzt lag mein Verlangen darin, diese roten vollen Lippen zu berühren.

„Joint, was tust du da?" Ehe ich verstand was ich tat, schnellte auch schon meine Hand nach vorne, fuhr sachte mit dem Daumen über ihre Unterlippe und brachte sie damit zum Verstummen. Ich konnte nicht anders, als sie zu berühren. Sie keuchte auf, als ich ein zweites Mal sanft über ihre Lippe strich. Dieses Geräusch war wie Musik in meinen Ohren, das ich unbedingt noch einmal hören wollte.

Doch dazu kam ich nicht mehr, da Lisa sich schwer atmend ein paar Schritte von mir entfernte. Meine Hand hatte sie ebenfalls losgelassen, für einen kurzen Moment schloss sie die Augen und meine Gedanken kehrten zum gestrigen Abend zurück, als ich mich ihr schon einmal unweigerlich genähert hatte.

„Du solltest zu ihr gehen und mit ihr reden." Sie hatte den Blick abgewandt. Ich musste das zwischen uns in Ordnung bringen. Doch zuerst war meine Schwester an der Reihe.

Obwohl sie es nicht sehen konnte, nickte ich ihr zu, ging an ihr vorbei ins Zimmer, bedacht darauf sie kein zweites Mal zu berühren und setzte mich zu meiner Schwester aufs Bett.

„Vani?", setzte ich schon jetzt ungeduldig an.

„Lass mich in Ruhe", kam es jedoch aus dem Kissenhaufen. Frustriert ließ ich mich nach hinten fallen, sodass ich neben ihr lag.

„Es tut mir leid, dass ich gelauscht habe. Ich bin manchmal ein Vollidiot."

„Manchmal?" sie lugte mit dem Kopf aus einer ihrer Kissen hervor und sah mich mit rot geschwollenen Augen an. Mit einem Lächeln drehte ich mich zu ihr, schnappte mir die Kissen und schmiss sie auf Seite.

„Hey!", protestierte sie gleich darauf.

„Du kannst hier nicht ewig rumheulen."

„Wie einfühlsam, Danke!"

„Es ist doch wahr!" Mit einem Schwung zog ich ihr auch noch die Decke weg. „Was bringt es dir hier Trübsal zu blasen?" Mit schnellen Griffen hatte ich sie auch schon an der Hüfte gepackt, sie über meine Schulter geworfen und sie somit erfolgreich aus dem Bett geholt.

„Joint!" sie quiekte auf, verfiel dann jedoch in ein herzhaftes Lachen.

„Komm, du ziehst dir jetzt eines deiner schwarzen Gothickleider an, kämmst dir die Haare, malst dir deine Pandaaugen auf und dann bringe ich dich zu Niklas, damit ihr diesen dummen Streit endlich aus der Welt schafft."

Als ich sie vor ihrem Schrank absetzte, sah sie mich verwundert an.

„Das würdest du für mich tun?" Darauf schenkte ich ihr ein Lächeln, das sie sogleich erwiderte.

„Aber beeil dich, bevor ich meine Meinung noch ändere!" Im Spiegel sah ich, dass ich mir ebenfalls etwas überwerfen musste. Und da war noch Lisa, die mich überrascht anschaute, als ich das Zimmer wieder verließ. Ein leichtes Lächeln lag auf ihren Lippen, auf diesem vollen Mund, den ich verdammt nochmal auf jede Art und Weise berühren wollte.

„Manchmal kommt doch noch der alte, nette Joint zum Vorschein", sinnierte sie, während ich mich in mein Zimmer bewegte. Schnell warf ich mir ein Shirt und eine Jeans über und gesellte mich wieder zu Lisa, die immer noch am Geländer der Treppe lehnte. Ich sollte mich für mein gestriges Verhalten, für meine Worte entschuldigen, doch immer wenn ich sie ansah, brachte ich kein Wort heraus. Ich wollte nichts Falsches sagen und sie damit wieder verstimmen. Auch sie hatte nicht das Bedürfnis mit mir zu reden, also blieb ich letztendlich stumm. Schweigend warteten wir auf meine Schwester, die nach einer gefühlten Ewigkeit aus ihrem Zimmer trat.


„Muss ich wirklich mit an die Tür?" Flehend sah ich meine Schwester an, doch diese zerrte mich schon aus dem Auto und auf das Haus mit den grünen Fensterläden zu.

„Vielleicht will er ja gar nicht mir reden oder mich sehen", jammerte sie, während ich ungeduldig die Klingel betätigte.

„Wir reden hier schon von demselben Niklas, oder?"

„Lass den Quatsch, Joint." Sie gab mir einen Klaps auf die Schulter.

„Ich wollte bloß sicher gehen", nuschelte ich, und im gleichen Moment ging auch schon die Tür auf und ein ebenso schlecht aussehender Niklas stand vor uns.

„Was machst du denn..." Sein Blick fiel auf Vanessa und er verstummte augenblicklich. Auch Vanessa schaute ihn ohne einen Laut an. Immer musste man alles selbst in die Hand nehmen.

„Ok, bevor wir hier noch bis morgen dastehen, werde ich mal auf den Punkt kommen." Ich machte einen Schritt auf Seite, sodass sich die beiden direkt ansehen konnten. „So, bockt jetzt nicht rum und vertragt euch endlich. Das ganze Geheule ist ja kaum zum Aushalten!"

Vani warf mir einen bösen Blick zu.
„Also, wenn ich das schon sage, dann könnt ihr euch gefälligst auch versöhnen." Mit diesen Worten sah ich Nik erwartungsvoll entgegen.

„Vanessa, Liebling, es tut mir leid, dass ich mich mit ihr getroffen habe. Das wird nicht wieder vorkommen, versprochen", entschuldigte sich Nik. Liebling? Ernsthaft? Mir kam es gleich hoch.

„Nein, mir tut es leid, dass ich so ausgerastet bin." Sie liefen aufeinander zu, fielen sich in die Arme. Ok, das wurde mir jetzt doch zu kitschig.

„Ich liebe dich", flüsterte Nik und gab meiner Schwester einen langen innigen Kuss. Vor meinen Augen!?

„Ich bin dann wohl überflüssig geworden", meckerte ich, doch mich beachtete sowieso keiner mehr. Mit den Händen in den Hosentaschen lief ich zurück zu meinem Auto, auf dessen Rückbank Lisa saß.

Mit einem übertrieben lauten Seufzen ließ ich mich hinters Steuer fallen. War ein „Danke, liebster Bruder für deine Unterstützung" wirklich zu viel verlangt?

„Ich wusste gar nicht, dass du so ein guter Kuppler bist." Ein Blick in den Rückspiegel zeigte mir ihre Belustigung über meine Amorkünste.

„Du weißt einiges nicht über mich", entgegnete ich, woraufhin sie schwieg. Als ich die Stille nicht mehr aushielt, drehte ich mich in meinem Sitz um und blickte sie direkt an.

„Wegen gestern wollte ich mich ..."

„Schon ok", fiel sie mir ins Wort. „Das hatte nichts zu bedeuten." Ihr Gesichtsausdruck war verschlossen. So dachte sie über uns? Nichts Bedeutendes?

„Nein, hat es anscheinend nicht." Ich wandte mich wieder nach vorne und startete den Motor.

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