Kapitel 16

Joint

Am liebsten hätte ich protestiert, doch da war meine kleine Schwester auch schon aus der Küche verschwunden. Sie wirkte befreiter denn je. Vielleicht tat ihr Niklas wirklich gut. Angewidert schüttelte ich den Kopf. Nein, ganz sicherlich würde ich mich nicht darüber freuen, dass mein Kumpel meine Schwester verführt hatte. Achja, und wie ich ein verdammter Heuchler war.

Bevor ich mich wieder aufregen konnte, tauchten Vani und meine Mutter im Raum auf. Die Haare meiner Mutter standen in alle Richtungen ab, ihre Haut wirkte fahl und schimmerte dunkel unter ihren Augen. Ihr Anblick war also nichts Neues. Ich hatte seit ihrem Ausraster nicht mehr mit ihr gesprochen, geschweige denn hatte ich sie gesehen. Bei ihrem Zittern hatte ich mich wiederholt gefragt, ob sie denn irgendwas einwarf, anders konnte ich mir ihr Verhalten nicht erklären.

Vanessa zu Liebe setzte ich ein gekünsteltes Lächeln auf, zwang mich die Tatsache, dass mich meine eigene Mutter mit einem Gegenstand abwerfen wollte, zu vergessen und nahm drei Teller aus dem Schrank. Stumm ließ sich meine Mutter auf einen der Stühle nieder, rückte die kaputte Tischdecke zurecht und starrte vor sich hin.

Als mein Blick dem von Vanessa begegnete, zuckte diese nur mit den Schultern und machte es sich gegenüber von der wandelnden Leiche gemütlich. Ich sollte nicht so hart mit ihr sein, doch andererseits könnte sie sich wenigstens für ihre Tochter zusammen reißen, es reichte schon, dass sie bei mir anscheinend immer den Verstand verlor.

Um mich etwas abzulenken, wendete ich das Essen in der Pfanne, obwohl es schon längst fertig war, zögerte ich den Moment noch etwas hinaus bis ich mich zu den beiden umdrehte und jedem ein Stück auf den Teller legte. Meine Schwester strahlte mich aus ihren schwarz umrandeten Augen an.

„Danke", sagte sie und schnappte sich eine Gabel.

„Kein Ding", brummte ich und setzte mich hin, in der Hoffnung, dass der Abend so gut enden würde, wie er angefangen hatte.

Einige Minuten aßen wir schweigend vor uns hin. Genauer gesagt, meine Schwester und ich, meine Mutter jedoch hatte ihr Essen kein Stück angerührt.

„Schmeckt es dir nicht?", fragte ich sie, woraufhin sie den Blick hob. Ein langsames Lächeln breitete sich auf ihrem Mund aus, das etwas unheimlich wirkte.

„Alles gut, Schatz. Es ist hervorragend, ich bin nur schon so pappsatt", sagte sie, als hätte sie schon den ganzen Teller verschlingt. Doch dem war nicht so, und ich schaute sie deshalb verwirrt an.

„Du hast dein Essen nicht angerührt." Sie zuckte zusammen, als hätte ich sie angeschrien, was ich jedoch nicht getan hatte.

„Joint", kam es beschwichtigend von Vanessa, die sich jetzt zu uns gewandt hatte.

„Nein." Ich hob die Hand, machte ihr damit deutlich, dass ich der Situation gewachsen war. Man konnte doch wohl noch eine normale Unterhaltung mit meiner Mutter führen.

„Ich kann dir etwas anderes machen, Mom. Auf was hast du denn Lust?" Ruckartig stand ich auf, und als sie mir keine Antwort gab, öffnete ich demonstrativ den Kühlschrank, holte diverse Lebensmittel hervor, aus denen ich was kochen konnte.

„Ich habe heute schon gegessen." Sie schob angewidert den Teller von sich weg. Nicht aufregen! Mit bemüht neutraler Miene lehnte ich mich an den Tresen.

„Wann?", fragte ich sie, woraufhin sie wieder zusammenfuhr.

„Joint, lass es gut sein." Vanessa war ebenfalls aufgestanden, stellte ihren leeren Teller in die Spüle.

„Nein ist es nicht, Vani. Schau sie dir doch an, sie ist viel zu dünn", sagte ich zu ihr, dann wandte ich mich meiner Mutter zu, die währenddessen die Augen geschlossen hatte. „Mom, du isst zu wenig. Du schläfst fast den ganzen Tag, das ist nicht gesund." ich versuchte so sanft wie möglich mit ihr zu sprechen, da ich einen weiteren Ausraster nicht riskieren wollte.

Doch sie legte einfach ihre mit blauen Adern durchzogenen Hände auf ihre Ohren und presste ihre Lippen angestrengt aufeinander. „ich will nicht", war alles, was sie sagte, ehe sie begann, aus vollem Halse zu schreien.

Sowohl Vanessa als auch ich hatten nicht damit gerechnet und blieben für einige Sekunden ratlos stehen. Der schrille Ton, der aus ihrem Mund kam, wurde immer lauter bis ich es nicht mehr aushielt.

„Was soll das, Mom. Du bist doch kein kleines Kind." Ich wollte mich schon neben sie niederknien, da kam mir Vanessa zuvor, legte einen Arm um unsere Mutter und zog sie langsam auf die Beine.

„Mom, beruhig dich", setzte sie an. Winkte mich mit einer Hand weg, sodass ich einige Schritte rückwärts machen musste. „Du musst nichts essen, wenn du nicht willst."

„Er", hörte ich meine Mutter krächzen, während sie sich enger an meine Schwester klammerte.

„Er wird dich nicht dazu zwingen." Ich konnte nur stumm zu sehen, wie sich meine Mutter unter der sanften Stimme meiner Schwester zunehmend beruhigte. „du solltest dich etwas hinlegen, ok?" Bevor Vanessa aus der Küche verschwand, warf sie mir noch einen traurigen Blick zu, der mir durchs Mark ging.

Ich verstand die Welt nicht mehr, ich hatte doch nichts Falsches getan. Ich wollte doch nur, dass meine Mutter etwas Nahrhaftes zu sich nahm. Mehr nicht.

Eine halbe Stunde verging, als meine Schwester wieder im Türrahmen auftauchte und die Arme vor der Brust verschränkte.

„Wie geht's ihr?". Was für eine dumme Frage, die ich da stellte, doch auch wenn mir niemand glaubte, lag mir das Wohlehrgehen meiner Mutter am Herzen.

„Du solltest sie vielleicht für heute in Ruhe lassen", ignorierte sie meine Frage. In Ruhe lassen? Wie oft ich diesen Ausdruck schon an den Kopf geworfen bekommen hatte, als würde meine Anwesenheit alle stören.

„Du weißt, dass ich das nur gut gemeint habe, oder?" Wenigstens einer musste mir glauben, sonst würde ich noch verrückt werden.

„Ich weiß", sagte sie schnell und ich bekam das Gefühl nicht los, dass sie ihre Worte nicht zu Hundertprozent ernst meinte. Das war so demütigend.

Frustriert fuhr ich mir durch die Haare.

„Du musst sie auch verstehen, Joint. Sie ist seit dem Tod von Dad in einer instabilen Verfassung." Sind wir das nicht alle? „Gib ihr Zeit, dann wird sie sich uns wieder anschließen."

„Mit dir hat sie ja auch kein Problem.", ich klang wie ein beleidigtes Kind, doch das war mir egal. Nie hatte sie meine Schwester so angegangen –nicht, dass ich dir das wünschte- doch es kam mir einfach komisch vor, wenn sich meine Mutter augenblicklich in eine Furie verwandelte, sobald ich den Raum betrat.

„Das stimmt nicht." Sie löste die Hände von ihrer Brust. „Du bist ihr Sohn, sie liebt dich.", sagte sie und ich betrachtete sie, versuchte herauszufinden, ob ihr Bewusst war, dass das eine nicht gleich das andere bedeutete.

„Ja", brummte ich daher nur als Antwort und schob beide Hände in die Hosentasche.

„Wir sollten jetzt vielleicht auch schlafen gehen", schlug sie mit leiser Stimme vor. Ich konnte jetzt nicht an Schlaf denken, nickte ihr aber trotzdem zu und folgte ihr die Treppe hinauf.

Bevor sie in ihr Zimmer verschwand, drehte sie sich noch einmal zu mir um und Unsicherheit lag in ihrem Blick.

„Das mit morgen, steht doch noch, oder?"

Meine Hand verweilte auf der Türklinge, während ich irgendeine Ausrede suchte, um mich diesem Abend zu entziehen. Meine schlechte Laune war zurück, und der Gedanke an Stunden über Stunden, die ich mit dem Lover meiner Schwester verbringen musste, nahm mir jede positive Stimmung. Trotzdem schien es ihr wichtig zu sein, und wollte ich mich nicht für sie bessern? Ein besserer Bruder werden? Dann wäre der Abend ein guter Anfang dafür.

„Klar", sagte ich deshalb zu ihr und schickte ein kleines Lächeln hinterher.

„Gut." Sie erwiderte es und trat dann in ihr dunkles Zimmer. Wenn meine Mutter sich schon nicht helfen ließ, konnte ich es wenigstens bei meiner Schwester versuchen.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top