Kapitel 12

Lisa

„Ich kann es immer noch nicht fassen, dass du ab sofort in meiner Lieblingskneipe arbeitest." Mit großen Augen saß mir meine beste Freundin gegenüber und strahlte bis über beide Ohren. Diese Aufmunterung hatte ich echt nötig.

„Ich weiß, aber irgendwie konnte ich Andi von meinen Fähigkeiten überzeugen." Ich nahm einen Schluck von meiner Cola, die ich neben der Spüle abgestellt hatte.

Vani nippte kurz an ihrem alkoholfreien Cocktail, und sah sich dann in der Kneipe um. „Viel ist heute aber nicht los, was." Ich folgte ihrem Blick, streifte über die leeren Tische, und die leere Tanzfläche.

Mit einem Schulterzucken wandte ich mich ihr wieder zu. „Du hättest mich gestern sehen sollen, das war die Hölle." Sie kicherte, als sie auf mein jetziges Oberteil sah.

„Wenigstens weißt du jetzt, dass du das große Trinkgeld gestern nicht nur wegen deinem Aussehen bekommen hast."

Verärgert kniff ich ihr in die Seite, und sie musste auflachen. So glücklich hatte ich sie lange nicht mehr gesehen. Seit dem Tod ihres Vaters hatte sich ihre Stimmung von Trauer zu Besorgnis gewechselt und das manchmal im Minutentakt. Ich konnte ihr keinen Vorwurf machen, so hatte ich mich auch damals gefühlt. Doch es war auch schön zusehen, dass sie einmählig wieder die Alte wurde.

„Na, Mädels, schmiedet ihr schon Pläne, wie ihr umsonst an meinen Alkohol heran kommt?" Andi kam mit einer großen Kiste aus der Küche gestapft und sah amüsiert zu uns herüber. Obwohl ich gerade mal den zweiten Abend für ihn arbeitete, hatte ich seine flapsige Art schon in mein Herz geschlossen.

„Das hättest du wohl gerne." Vani stand auf, zog ihren kurzen schwarzen Rock zurecht und bewegte sich auf den Laptop zu, der hinter der Theke stand. „Kein Wunder, dass du keine Gäste hast, wenn du diese Weichei-Musik abspielst." Ohne zu fragen, klickte sie auf dem PC herum bis ihrer Meinung nach ein besseres Lied ertönte.

Andi hingegen schüttelte nur belustigt den Kopf, packte Kork-Untersetzer aus dem Karton und wippte mit dem Fuß im Takt der Musik.

Die beiden verstanden sich wirklich gut, fast war ich schon neidisch auf deren leichtes Umgehen mit einander, aber auch nur fast.

„Lisa, Hase, kannst du noch die restlichen Spirituosen aus der Küche holen?" Nickend machte ich mich auf dem Weg, dicht gefolgt von meiner Freundin. Hatte sie denn überhaupt keine Hemmungen?

„Hase?" Sie wackelte anzüglich mit den Augenbrauen, während ich ihr verschiedene Flaschen in die Hand drückte. „Ihr würdet schon ein süßes Pärchen abgeben."

„Was?" ich musste bei der Vorstellung lachen. Andi und ich würden nie im Leben zusammen passen.

„Ich spreche nur das aus, was ich sehe." Sie verlagerte ihr Gewicht auf einen Fuß.

„Da gibt es nichts zu sehen, Vani."

Sie stöhnte enttäuscht auf. „Warum nicht? Ich habe dich noch nie mit einem anderen Mann gesehen. Manchmal frage ich mich wirklich, ob du dich nicht für das andere Geschlecht interessierst."

Wieder konnte ich mir ein Lachen nicht verkneifen. „Was faselst du da eigentlich? Ich bin nicht lesbisch. Schon vergessen, ich hatte einen Freund in Amerika."

„Den ich noch nie zu Gesicht bekommen habe."

„Willst du damit sagen, dass ich mir das alles nur ausgedacht habe?" Vorwurfsvoll sah ich sie an, woraufhin sie den Blick senkte.

„Nein. Ich wollte damit nur sagen, dass du etwas mehr Spaß in deinem Leben gebrauchen könntest."

„So wie du?"

Sie schenkte mir ein schiefes Lächeln, was ich in den letzten Jahren nur sehr selten gesehen hatte.

„Ich habe es vielleicht ein bisschen übertrieben."

„Minimal" pflichtete ich ihr bei und sie funkelte mich gespielt böse an.

„Aber" ihr Blick wurde schwärmerisch. „Mit Niklas ist das alles vergessen. Bei ihm kann ich so sein, wie ich will."

„Das freut mich ehrlich für dich", sagte ich aufrichtig und meinte jedes Wort ernst. „Aber ich denke, ich lasse erst mal die Finger von den Männern. Die brachten mir über die Jahre nur Ärger ein und den will ich in der nächsten Zeit vermeiden."

Mitleid spiegelte sich in ihren Zügen, als sie mich betrachtete. „Irgendwas ist doch in der Vergangenheit vorgefallen, was du mir nicht erzählt hast oder?"

Schuldgefühle machten sich in mir breit, schwemmten jedes Glücksgefühl, das ich gerade noch empfunden hatte aus meinem Körper. Wie schon vor vier Jahren bereute ich es, ihr nichts von der Nacht mit Joint erzählt zu haben. Sie war meine beste Freundin, da würde sie bestimmt zu mir halten. Doch jetzt, nach all der Zeit, wusste ich ehrlich gesagt nicht wie ich das Thema anschneiden sollte.

Deshalb winkte ich schnell mit einer Hand ihre Sorgen weg. „Nein, nichts. Ich will im Moment einfach mein Singleleben genießen." Ohne ein weiteres Wort ging ich an ihr vorbei, in den vorderen Bereich, wo sich nun doch einige Menschen eingefunden hatten.

„Nagut, ich will dich zu nichts drängen." Sie glaubte mir immer noch nicht, worüber ich insgeheim auch froh war. Vielleicht würde sie meine jetzige Situation verstehen, würde nachvollziehen können, warum ich ihrem Bruder gegenüber immer abweisend war.

Als sie die Flaschen abgestellt hatte, zückte sie schnell ihr Handy und begann im nächsten Augenblick, ihre Sachen zusammenzupacken.

„Ich muss zu meiner Sitzung." Sie warf sich ihre Jacke über. „Die fängt schon in fünf Minuten an."

Helfend streckte ich ihr ihre Tasche entgegen, die sie dankend annahm.

„Wenn du denn so ein freudiger Single bist, hast du morgen bestimmt nichts gegen einen Klubabend einzuwenden, oder?"

Ich nickte zustimmend. Nachdem sie mich umarmt hatte, klatschte sie zufrieden in die Hände. „Gut, ich werde Markus auch fragen." Niks kleinen Bruder hatte ich schon lange nicht mehr gesehen und erst jetzt fiel mir auf, wie sehr ich ihn vermisste.

Vani wartete meine Antwort nicht ab, winkte Andi schnell zu und verschwand dann hinter der schweren Holztür.

Ein Abend mit meinen Freunden würde mir bestimmt gut tun, da konnte ich Joint mal für ein paar Stunden vergessen.

Die Stunden zogen sich heute wie Kaugummi, und ich wischte schon das dritte Mal über den Tresen, als sich ein breitschultriger Mann mit dichtem, braunem Haar auf einen der Barhocker niederließ.

„Ein Bier, bitte.", sagte er mit tiefer Stimme. Glücklich darüber, etwas tun zu können, schnappte ich mir einen Krug und füllte die helle Flüssigkeit hinein. Während ich ihm das Glas hinstellte, betrachtete ich ihn eingehender. Seine Augen waren grau, und von kohlrabenschwarzen Wimpern umrahmt. Auf seinen Wangen lag ein Drei-Tage-Bart, der ihn älter wirken ließ. Er trug ein kariertes Hemd, das er sich in seine blaue Jeans gesteckt hatte. Seine Schuhe konnte ich nicht mehr erkennen, aber wer beurteilt schon einen Menschen anhand seines Schuhgeschmacks.

„Danke." Er nahm einen kräftigen Schluck, ohne dabei auf meine auffällige Musterung einzugehen. Ich wollte mich schon abwenden, da seufzte er theatralisch auf, sodass ich meine Aufmerksamkeit wieder auf ihn richtete. Ich sah zu, wie er ein kleines Stück Papier aus der Brusttasche seines Hemdes zog und es mit den Fingern glatt strich, als wäre es ein kostbarer Schatz. Als ich genauer hinsah, bemerkte ich, dass es ein Foto war, auf dem eine hübsche Frau zuerkennen war.

Ob er sie verloren hatte? Wieso sonst trug man ein Foto mit sich herum? Er musste meine Neugier gespürt haben, als er den Blick hob und mich unverwandt ansah.

„Sie hatte das schönste Lächeln, was ich je gesehen habe." Eine tiefe Traurigkeit schwang in seinen Worten mit.

„Wer ist sie?" fragte ich ihn vorsichtig, ignorierte dabei die Vergangenheitsform, die er benutzt hatte.

„Meine Frau." Er wandte sich wieder dem Bild zu, strich mit dem Daumen über das zerfletterte Papier. „meine verstorbene Frau. Heute ist ihr Todestag."

Verständnis durchflutete mich und ließ mich einen Schritt auf ihn zu machen. Ich wusste genau, wovon er sprach, konnte seine Trauer nachempfinden.

„Das tut mir leid", ich sprach leise, trotzdem legte sein Blick sich wieder auf mich. Überrascht sah er mich an.

„Das muss es nicht." er trank einen weiteren Schluck von seinem kühlen Getränk. „Das ist schon über 10 Jahre her."

„Ich weiß, wie Sie sich fühlen." Ich schluckte den vertrauten Kloß in meinem Hals hinunter. „Mein Vater starb, als ich 9 Jahre alt war."

Er nickte mir zu, Anteilnahme lag in seinen Augen. „Das schwierigste im Leben ist es den Verlust eines geliebten Menschen zu verkraften." Er sprach mir aus der Seele. Ein kleines Lächeln bildete sich auf meinem Mund, und er erwiderte es etwas zögernd.

Mein Entschluss stand fest, ich würde diesen Mann mit meiner Mutter bekannt machen, würde sie beide zusammenbringen, dann hätten sie einander und würden sich über ihre Trauer gemeinsam hinweghelfen. Das klang zu schön, um wahr zu sein. Wahrscheinlich hatte ich schon zu viele Liebesschnuzeln geschaut. Trotzdem legte ich so viel Ehrlichkeit, wie ich nur konnte in meine nächsten Worte.

„Ich weiß, das klingt jetzt wahrscheinlich komisch, aber würden Sie sich mit mir auf einen Kaffee treffen?"

Erstaunt sah er mich an, öffnete schon den Mund, da unterbrach ihn eine andere Stimme.

„Ich wusste ja gar nicht, dass du auf Ältere stehst." Erschrocken fuhr ich zusammen, als Joint neben dem fremden Mann auftauchte.

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