Kapitel 7

Es ist nicht weit zu Siri nach Hause. Er wohnt zwei Seitenstraßen weiter in einem hohen Wohnblock, an den ein kleiner, trostlos aussehender Spielplatz auf einer durch den Regen matschigen Wiese angrenzt. Trotz des kurzen Weges versucht er mich die gesamte Strecke lang davon zu überzeugen, dass ich gerade einen großen Fehler mache. Aber gleichzeitig sagt er mir auch nicht, dass ich verschwinden soll oder verhält sich in sonst irgendeiner Weise seltsam.

Ich mache mir aber erstaunlich wenig Sorgen, ob meine Entscheidung, ihn um einen Schlafplatz zu bitten, die richtige war. Mit jedem Mal, dass er meine Entscheidung in Frage stellt, bin ich mehr von ihr überzeugt. Ein Kerl, der mich die ganze Zeit auf meine scheinbar falsche Entscheidung hinweist, kann kein schlechter Mensch sein.

Siris Wohnung ist dunkel und riecht muffig. „Kann man hier nicht lüften?", frage ich und suche verzweifelt nach Fenstern.

„Hast du was gegen meine Wohnung?", fragt Siri spaßeshalber, beantwortet dann aber meine Frage, während er das Licht anknipst. „Ich hab Luftschächte in das winzige Atrium raus. Aber das ist auch nicht viel mehr als ein Luftschacht. Deswegen ist es hier drinnen so dunkel."

Die Lampe flackert kurz, bevor sie richtig angeht. Siri und ich stehen in einem winzigen Flurraum, von dem drei Türen abgehen. Uns gegenüber steht die Tür ein bisschen offen und ich kann in das Bad dahinter sehen. Es ist unordentlich, Klamotten liegen auf dem Boden neben dem eigentlich dafür vorgesehenen Korb und es gibt nur einen Duschvorhang um eine Badewanne herum statt einer richtigen Dusche.

Siri schmeißt seine Schuhe neben die Tür und zieht seine Jacke aus. „Das ist das Badezimmer", erklärt Siri unnötigerweise und läuft in besagten Raum, um seine Jacke über den Badewannenrand zu hängen. Die Kacheln an den Wänden sind durch die Zeit zu einem vergilbten Weiß ausgeblichen und haben schon den ein oder anderen Riss. Auf dem altmodischen Waschbecken mit zwei Knöpfen am Hahn liegt eine Zahnbürste, ein Rasierer und Zahnpasta. Auf dem Spülkasten des Klos steht eine kleine Toilettenpapierpyramide.

„Überraschend sauber", kommentiere ich und werfe mit spitzen Fingern Boxershorts und Socken in den Klamottenkorb neben der Tür.

„Ich hatte nicht mit Besuch gerechnet", feuert Siri zurück und verlässt den Raum. „Links ist mein Schlafzimmer und hier", er stößt die Tür zu unserer Rechten auf und betritt den Raum, „ist das Wohnzimmer und die Küche." Es ist ein einziger Raum, eine schwarz-weiße Einbauküche, die auch schon bessere Tage gesehen hat, nimmt die eine Seite ein, die andere ist dominiert von einem überraschend großen Sofa. Auf einem kleinen Tisch davor ist ein Laptop aufgebaut und ein Bücherregal steht neben dem Sofa. Im Spülbecken der Einbauküche stapelt sich das dreckige Geschirr und verströmt den muffigen Geruch, der mir davor aufgefallen ist.

„Und wie lüftest du?", frage ich und lege meinen Rucksack neben dem Sofa ab.

Siri zeigt auf ein winziges vergittertes Fenster, durch das quasi kein Licht dringt. „Das da kann ich aufmachen, aber sonst gibt es auch eine dezentrale Lüftungsanlage, die meistens ganz gut funktioniert."

„Wie wirst du nicht klaustrophobisch?", frage ich, während ich mir das Fenster genauer ansehe. Es ist alt und der Griff klemmt, als ich versuche, ihn zu drehen. Dahinter blicke ich auf spärlich belichtetes Moos und fast schwarzen Beton, der durch die viele Feuchtigkeit, die er aufgenommen hat, so dunkel wirkt. „Ziehst du dir so nicht noch mehr Feuchtigkeit in die Wohnung?"

„Auf die erste Frage: Ich gehe viel raus", antwortet Siri und folgt mir an die schlechte Entschuldigung von einem Fenster. „Deswegen bin ich so viel im Tierheim. Und wenn ich schlafe oder zocke macht es mir nicht viel aus. Und um die zweite Frage zu beantworten: Ja." Er beugt sich über mich und schließt das Fenster wieder. Dabei steigt mir wieder Geruch nach Pampelmusen in die Nase. „Deswegen lasse ich es zu und die Lüftungsanlage ihren Job machen."

Ich nicke und trete vom Fenster zurück. „Die Lüftungsanlage kann aber allein den Geruch deiner alten Essenreste auch nicht aus der Wohnung ziehen", gebe ich zu bedenken und deute auf den Spülstein, der überquillt.

„Das kann man beim Schlafen und Zocken auch ganz gut ignorieren", gibt Siri zu.

„Ich kann dir beim Spülen helfen", biete ich an und krempel mir schon die Ärmel hoch. „Wenn wir was kochen wollen, dann soll die Küche doch wenigstens aufgeräumt sein."

„Kochen? Ich bin kein großer Koch", gibt Siri zu. „Meistens mache ich mir irgendwas Tiefgefrorenes, bevorzugterweise im Ofen. Und wenn ich mich besonders motiviert fühle, also ganz selten, koche ich Spaghetti mit Tomatensauce."

Während er redet laufe ich zum Kühlschrank, um mich von seinen Worten zu überzeugen. Und tatsächlich, der Kühlschrank ist leer bis auf eine überraschende Menge Bier und Minuten-Essen, das man im Ofen machen kann. Das Kühlfach ist vollgestopft mit Tiefkühlpizzen. Ich schüttele entsetzt den Kopf, während ich mir seine klägliche Essensroutine anschaue. „Wer hat dir die Erlaubnis gegeben allein zu wohnen?"

Er zuckt mit den Schultern und lehnt sich gegen den Spülstein. „Der Staat."

„Die soll der schnell wieder zurücknehmen. Das geht ja gar nicht, was du hier fabrizierst!" Ich ziehe Packen für Packen Fischstäbchen und Tiefkühlpizzen aus dem Tiefkühlfach. „Hast du hier wenigstens so was wie eingefrorenes Gemüse?"

„Nope", antwortet Siri. Mittlerweile hat er die Arme vor der Brust verschränkt.

„Okay, wir müssen einkaufen", entscheide ich, schließe den Kühlschrank und krame in meinem Rucksack nach meinem Portmonnaie. „Wo ist der nächste Supermarkt?"

„Du willst bei dem Wetter nochmal einkaufen gehen?", fragt Siri skeptisch.

„Besser als der Horror hier drin", gebe ich ernst zurück und laufe in den Flur, um mir meine Schuhe und meine Jacke anzuziehen. Die kalte klamme Jacke fühlt sich nicht angenehm auf meiner Haut an, aber es kann nicht angehen, dass der Kerl nichts zu essen im Haus hat. „Kommst du?", frage ich aus dem Flur heraus.

Siri kommt in den Türrahmen gelaufen und lehnt sich mit der Schulter dagegen. „Muss ich? Draußen ist es nass und eklig..."

„Deine nicht vorhandene Essensauswahl ist ekliger", werfe ich ihm vor und halte ihm seine Schuhe hin.

Seufzend nimmt er sie. „Du weißt, dass mich da draußen der Tod holen kann?"

„Jetzt hör auf so dramatisch zu sein, und wirf dich in Schale!", weise ich an. „Achso, und wenn du eine Tüte auftreiben kannst, ist das super. Im Supermarkt eine zu kaufen, finde ich blöd, wenn man sowieso immer einen Jutebeutel zuhause rumliegen hat."

„Woher willst du denn bitteschön wissen, ob ich einen Jutebeutel besitze?", fragt Siri herausfordernd und verschränkt die Arme vor der Brust.

„Aber du hast einen, richtig?", stelle ich die Gegenfrage.

Schwer schnaubend läuft Siri in sein Schlafzimmer und kommt kurz darauf mit einem Beutel in der Hand wieder heraus.

„Siehst du? Jeder einen Jutebeutel zuhause rumfliegen", triumphiere ich.

„Die ist so nass!", beschwert Siri sich, während er in seine Jacke schlüpft.

„Meine auch. Hörst du mich jammern?", entgegne ich und öffne die Haustür.

Der nächste Supermarkt ist nicht weit und der Regen hat zu unserem Glück nachgelassen. Dort angekommen, kaufen wir ein bisschen frisches Gemüse aber vor allem Konserven. So wie Siris Kühlschrank aussah, überlebt Frischzeug bei ihm nicht lange, da sind Konserven oder Tiefkühlkost die nächstbeste Wahl. Und in Anbetracht dessen, wie voll sein Tiefkühlfach ist, ist Tiefkühlkost nicht wirklich im Bereich des Möglichen.

Wir müssen doch eine zweite Papiertüte kaufen, um alle Dosen, Gemüse und Nudelsäcke zu transportieren, die ich Siri aufschwatze. Zuerst versucht er sich noch zu wehren, aber irgendwann gibt er auf, mit mir zu diskutieren und nimmt brav alles, was ich ihm in die Arme stopfe.

Wieder bei ihm daheim stehe ich vor dem nächsten Problem: Wohin mit dem ganzen Zeug? In allen Schränken in der Einbauküche stehen Töpfe, Teller und Schüsseln, und es sind auch nicht viele.

„Du hast nicht zufällig eine Vorratskammer irgendwo?", frage ich ihn, und stelle die Tüte, die ich in die Küche geschleppt habe, auf dem Boden ab, nachdem ich ergebnislos einen freien Platz auf der Theke gesucht habe.

„Ich hab einen Schrank, in dem es noch Platz hat", überlegt Siri und läuft zurück in den Flur. Ich folge ihm und, sehr zu meinem Erstaunen, lässt sich eine Wand öffnen. Dahinter kommt ein Einbauschrank zum Vorschein, der aussieht, als stamme er aus dem letzten Jahrhundert, aber seine Regalbretter sind tief genug, dass wir alle Konserven verstaut kriegen. Das Gemüse wandert in den Kühlschrank, zusammen mit dem Brot und der Milch.

„Jetzt spülen wir, und dann kochen wir was leckeres und essen das von sauberem Geschirr", ordne ich an und Siri nickt zustimmend.

Ich lasse warmes Wasser in das Spülbecken ein, während Siri sich den Bon anschaut. „Ich glaube, so viel habe ich noch nie auf einmal für Essen ausgegeben", brummelt er. „Sechzig Euro für so ein paar läppische Konserven, ein bisschen Gemüse und Nudeln? Wucher ist das!", schimpft er.

„Ich will gar nicht wissen, was du sonst immer isst", sage ich leidend und füge dem Wasserstrahl Spüli bei, wodurch es anfängt zu schäumen. „Aber leider weiß ich es, weil du dein Tiefkühlfach damit bis obenhin voll gefüllt hast."

„Und ich will nie wieder jemandem, den ich kaum kenne, ein Schlafplatz sein", murrt er zurück und greift nach einem wirklich dreckigen Küchenhandtuch.

Ich suche mir die Gläser und anderes Glasgeschirr, das herumsteht und lege sie vorsichtig ins Becken. „Willst du wirklich damit abtrocknen?", frage ich Siri skeptisch.

„Wieso, was hast du gegen das Spültuch?", fragt er zurück.

„Nichts, außer dass du mein Spülen damit vollkommen hinfällig machst", antworte ich, stelle das Wasser aus und wische das erste Glas mit einem Lappen aus. „Allein durch das Abtrocknen werden die Spülstücke danach doch wieder so dreckig, dass ich sie direkt nochmal sauber machen müsste."

„Dann nehm ich mir halt ein neues", antwortet Siri augenverdrehend und bückt sich nach dem Schrank unter der Spüle. Zu meiner positiven Überraschung holt er tatsächlich ein gefaltetes Küchentuch, das sauber aussieht, dort heraus. „Zufrieden?", fragt er.

„Sehr", antworte ich und halte ihm das Glas hin.

Stille senkt sich über uns, und sofort beginnt mein gesunder Menschenverstand das, was ich hier tue, stark anzuzweifeln. Was habe ich mir dabei gedacht, mit einem fremden Mann mitzugehen? Auch wenn er sich bislang nicht irgendwie seltsam verhalten hat, weiß ich doch nicht genug über ihn, um eine wirklich gute Beurteilung seiner Person abzugeben. Und hier will ich tatsächlich schlafen? Auf einmal habe ich sehr großes Heimweh. Ich will zu Mama und Papa zurück, zu ihren glücklichen Tagen, als sie sich noch geküsst und in den Armen gehalten haben. Ich will nach Hause kommen können und ihnen von meinem Tag erzählen. Und ich will mich nicht mit Ronja zerstritten haben. Ich will ihr nicht die schrecklichen Dinge an den Kopf geworfen haben, die ich gesagt habe.

Meine Augen füllen sich mit Tränen und ich beginne zu zittern. Schnell wende ich mich von Siri ab und starre tief ins Spülbecken. Es riecht nach Spüli und Schaumblasen und alten Essensresten. So ganz anders als der warme Geruch zuhause, oder der holzige Geruch des Schwartz-Hauses mit seinen Echtholz-Dielen. Stattdessen bin ich hier, in einer Wohnung inmitten der Stadt in einem hässlichen Wohnblock ohne Fenster oder natürliches Licht. Wobei das zu dieser Uhrzeit im Winter sowieso schwer zu finden ist.

Ich versuche das Schluchzen, das in mir aufsteigt, nicht herauszulassen, aber Siri scheint es dennoch irgendwie wahrzunehmen. „Bei dir alles okay, Flora?", fragt er besorgt und ich fühle die Wärme, die sein Körper ausstrahlt, näher kommen.

Ich beiße mir auf die Lippe, die Hände noch immer im Spülwasser, den Lappen fest umklammert. Langsam schüttele ich den Kopf. Ich bin nicht okay. Ich will hier nicht sein. Ich will hier weg.

Ich wage es nicht, Siri anzuschauen und lasse langsam den Lappen los. „Ich – ich glaube, ich sollte hier nicht sein", flüstere ich leise.

„Das... Wo... Flora?", stottert Siri unsicher neben mir, was mich doch zu ihm schauen lässt. Es dauert eine Sekunde, bis ich realisiere, wohin er schaut – durch mich hindurch. Für einen kurzen Augenblick fliegt mein Blick zur Tür hinter ihm. Jetzt wäre der perfekte Augenblick, um von hier abzuhauen. Und es hält mich nichts davon ab. Nichts, außer ich mich selbst. Ronja hat mich angesteckt, mit ihrem Drang zu wissen, wie meine Unsichtbarkeit funktioniert. Nur deshalb bleibe ich.

„K-kannst du mich sehen?", frage ich vorsichtig und mustere Siri genau. Er sieht erschreckt aus, die feinen Härchen auf seinen Armen stehen in die Höhe und er hat die Augen weit aufgerissen, als würde er mich dadurch besser sehen können.

„Nein! Wo-wo bist du?"

„Ich stehe genau vor dir", antworte ich wahrheitsgemäß.

„Aber das... Das kann nicht sein. Da stehst du nicht. Aber ich höre dich von da", erklärt Siri. Er ist wie erfroren, wie er da steht. Zum Glück hält er die Schüssel, die er gerade abgetrocknet hat, noch in den Händen.

Vorsichtig nehme ich sie ihm ab. „Nicht dass du die noch runterschmeißt", erkläre ich und stelle sie auf die Theke.

Als ich wieder zu Siri blicke, blinzelt er rapide und fokussiert mein Gesicht wieder. „Das. Wie hast du das gemacht? Du bist auf einmal wieder dagewesen, aber unscharf, als hätte ich etwas im Auge gehabt, dort wo du warst und ich musste es wegblinzeln, damit ich dich wieder scharf sehen konnte."

Ich zucke mit den Schultern und lehne mich an die Arbeitsfläche hinter mir. „Ich mache gar nichts", antworte ich wahrheitsgemäß. „Es passiert einfach."

„Du wirst einfach", er ringt nach Worten und fuchtelt dabei mit dem Spülhandtuch herum, „unsichtbar?"

Ich nicke bestätigend. „Aber immer in unangenehmen Situationen, in denen ich eigentlich ganz weit weg sein möchte."

Es braucht Siri nicht lange, bis er eins und eins zusammengezählt hat. „Das heißt, du wolltest nicht hier sein, richtig?"

Wieder nicke ich. Ich versuche mir eine Erklärung aus den Fingern zu saugen, die ihm verständlich machen kann, was ich gerade gefühlt habe, aber es will keine kommen.

„Ich meine, es ist auch ziemlich dämlich, sich selbst zu einem Fremden nach Hause einzuladen, nur weil man die eigenen Eltern gerade nicht sehen will."

Erneut ein Nicken meinerseits. „Ja, das ist es, oder?", frage ich ihn.

„Willst du nach Hause gehen?", fragt Siri verständnisvoll.

Irgendwie hat sich der Heulklumpen in meinen Hals geschlichen und sich da festgesetzt. „Ja", sage ich und nicke wie wild.

„Dann bring ich dich zur Bushaltestelle", bietet Siri an. „Ich glaube, dich jetzt ganz allein zu lassen, wäre fatal."

„Ja, bitte", stimme ich zu.

Der Himmel draußen ist klar, und an den dunklen Stellen zwischen den gelben Straßenlaternen kann ich ein paar helle Sterne ausmachen.

Siri läuft neben mir, die Hände in den Taschen seiner Jacke vergraben und kickt einen Stein vor sich her. Plötzlich fängt er an zu reden. „Habe ich dir eigentlich erzählt, dass meine Eltern auch geschieden sind?", fragt er, ohne mich anzusehen.

Ich schüttele den Kopf. „Ich glaube, du hast es kurz erwähnt."

„Es war nicht schön", fängt er an. „Ich war sieben, und meine Eltern haben sich oft gestritten. Ich dachte, das wäre normal. Erst als ich in die Schule kam und Freunde hatte, bei denen das nicht so war, wurde mir bewusst, dass es nicht normal ist. Es ging oft um Geld. Meine Mutter ist Tierarzthelferin und verdient nicht so wahnsinnig viel Geld. Für uns gesorgt hat eigentlich immer mein Vater, der Studienrat war... ist." Er lässt sich Zeit, bevor er weiterspricht. Sein Atem raucht ihm als Dampfwolke aus dem Mund und in die kalte Nacht. „Er hat mich geschlagen. Wenn ich was falsch gemacht habe, meine ich. Er kam aus einer religiös verklärten Familie, und war nichts anderes gewohnt."

„Das macht es nicht weniger schlimm", werfe ich ein.

Er nickt. „Ich weiß, aber ein Teil von mir hat ihm verziehen, als ich das gehört habe. Es hat mehr Sinn gemacht, weißt du? Es steckte einfach in seiner Erziehung, wurde im wortwörtlich eingeprügelt." Er lacht hohl. „Schon krass, wie viel ein Mensch vergeben kann, wenn er nur die Beweggründe hinter etwas versteht. Sobald es Sinn ergibt, ist es nichts mehr, woran man sich aufhängt." Er schüttelt den Kopf. „Aber darum geht es gerade gar nicht. Meine Eltern haben eine Gerichtsverhandlung dafür gebraucht, zu bestimmen, wer das Sorgerecht über mich bekommt. Meine Mutter hat Recht bekommen, mein Vater musste Unterhalt zahlen. Aber meine Mutter hat ein paar Probleme mit Geld." Er legt den Kopf in den Nacken und blickt zum schwarzen Himmel auf. „Sie... sie kauft viel Zeug, das sie nicht braucht, auch wenn wir wenig Geld haben. Ich glaube, es ist ihre Art, mit Stress fertig zu werden. Nach dem Motto, das funkelnde neue Ding wird das Loch in meinem Herzen schon füllen. Aber sie will immer nur mehr. Dafür ging der Unterhalt meines Vaters meistens drauf. Seit ich mich erinnern kann, waren wir immer knapp bei Kasse. Und meine Mutter musste arbeiten, das heißt, meine Oma war oft da und hat gekocht, sich um mich gekümmert. Seit ich sechs war, war sie quasi jeden Tag da. Und sie war auch noch jeden Tag da, als ich siebzehn war, und hat mir genau das gekocht, was ich wollte. Deswegen auch die ganzen Convinience Produkte. Ich kann nicht kochen. Meine Oma hat das immer gemacht. Selbst wenn ich ihr gesagt habe, dass sie mich nicht bemuttern braucht und ich das allein machen kann. Versteh mich nicht falsch, ich liebe meine Oma, aber sie ... sie kann sehr bevormundend sein."

Ich nicke, schweige aber. Es fühlt sich an, als müsste Siri das einfach mal loswerden.

„Als ich meine Ausbildung angefangen habe, gab es Probleme mit meinem Vater. Ich hatte bis dato nicht besonders viel Kontakt mit ihm, weil Mama und er sich aufs Blut gehasst haben. Meine Mutter hat ihn immer als den schlimmsten Menschen dieser Welt darstehen lassen. Und er ist definitiv ein Arschloch. Als ich meine Ausbildung angefangen habe, habe ich Geld verdient. Dabei ändert sich der Unterhaltssatz und er hat es an mich direkt bezahlt. Ich war damals fünfzehn. Meiner Mutter ging es nicht gut. Ich habe das Geld natürlich an sie weitergeleitet, aber allein der Kontakt mit meinem Vater hat sie gestresst. Und jetzt gibt es das gleiche Drama wieder, weil ich meine Ausbildung abgeschlossen habe und jetzt ein FÖJ mache, damit also kein eigenes Geld verdiene, und der Unterhaltssatz dementsprechend steigt. Mittlerweile weigert mein Vater sich, über Geldsachen mit meiner Mutter zu sprechen und nutzt mich als Mittelsmann." Mit Schwung kickt er einen Stein weg. Er donnert gegen die nahe Hauswand und prallt davon ab. „Was ich eigentlich nur sagen will: So schlimm wie bei mir kann es bei dir schonmal nicht werden." Er lächelt mich halbherzig an.

Ich versuche sein Gesicht zu lesen, aber das Licht der Straßenlaterne steht in seinem Rücken und lässt nur die Schatten länger werden. Ich bleibe stehen und nach zwei Schritten tut Siri es mir gleich. „Brauchst du eine Umarmung?", frage ich ernst.

Er zuckt mit den Schultern. „Das geht jetzt schon mein ganzes Leben, oder zumindest mein gesamtes Leben, an das ich mich erinnern kann, so. Ich glaube nicht, dass eine einzelne Umarmung dagegen hilft."

Ich laufe auf ihn zu und umarme ihn. „Dagegen wahrscheinlich nicht, aber beim damit klarkommen vielleicht schon", murmele ich in seinen Arm hinein.

Es dauert einen Augenblick, aber schließlich schließt er doch die Arme um mich. Anders als die Umarmung im Tierheim fühlt sich diese an, als würde ich ihn halten.

Meine Jacke ist immer noch klamm, als ich vor der Haustür der Wohnung meiner Mutter stehe. Allein bei dem Gedanken kommen mir fast die Tränen. Ich will nicht, dass das hier nur die Wohnung meiner Mutter ist. Ich will, dass das hier mein Zuhause ist.

Mein Herz tut weh, während ich den Schlüssel aus meinem Rucksack fische und die Tür aufschließe. Nur einen Moment später öffnet meine Mutter die Tür zum Wohnzimmer, sieht mich und schließt mich in ihre Arme. „Wo warst du, Flora? Wir haben uns solche Sorgen gemacht!" Dann schiebt sie mich von sich. „Das war nicht okay. Du hättest uns anrufen sollen!"

Ich ziehe sie wieder zu mir. „Ich brauch eine Umarmung, Mama", nuschele ich in den Stoff ihres dünnen Pullis.

„Ist sie es?", fragt Papa von der Tür aus, sieht uns und kommt zu uns gelaufen.

„Sag uns das nächste Mal Bescheid, wo du hingehst, okay, Blümchen?"

Ich ziehe ihn auch in den Umarmungshaufen und nicke. Ihre vertrauten Gerüche sauge ich tief in mich ein.

„Warum müsst ihr euch trennen?", platzt es aus mir heraus.

Meine Mama lässt von mir ab. „Aber Blümchen, das haben wir dir doch schon erklärt. Dein Vater und ich, wir lieben uns nicht mehr auf die Art und Weise, wie wir es früher getan haben."

„Aber das macht doch keinen Sinn", gebe ich zurück. „Davor habt ihr euch doch geliebt. Warum jetzt nicht mehr?"

„Das... ist kompliziert, Flora", sagt Mama, ohne irgendetwas zu erklären.

„Aber ich will es verstehen", beharre ich und sehe Papa an. „Bitte, Papa? Ich bin Teil von unserem Familienhaufen. Das hier ist auch mein Zuhause. Und jetzt verändert sich hier etwas, von dem ich nicht verstehe, warum es das tut. Von dem ich dachte, dass es selbstverständlich ist und für immer so bleibt."

Mama und Papa werfen sich über meinen Kopf einen Blick zu. Schließlich seufzt Papa. „Okay, Blümchen, wir erklären es dir. Aber hier im Flur mache ich das nur ungern. Lass es uns auf die Couch verschieben."

„Aber ihr erklärt es mir?", hake ich nach. Papa nickt, Mama sagt nichts. Na, immerhin besser als nichts.

Ich entledige mich, hoffentlich zum letzten Mal heute Abend, meiner nassen Jacke und stelle meine Schuhe unter die Heizung, bevor ich meinen Eltern ins Wohnzimmer folge. Die beiden setzen sich auf die Couch und Papa bedeutet mir, mich zu ihnen zu setzen. Zögerlich setze ich mich dazu. „Also, warum...?" ‚trennt ihr euch' bringe ich nicht über die Lippen.

„Die kurze Antwort ist, wir haben uns auseinandergelebt", antwortet meine Mutter nach einem Augenblick der Stille. „Die ganze Antwort ist, ich habe jemanden kennengelernt", gibt er zu.

Ich muss sehr entsetzt geguckt haben, denn sie redet schnell weiter: „Ich bin deinem Vater nicht fremd gegangen, oder so. Es hat mich Überwindung gekostet, aber ich habe mit ihm darüber geredet. Und weil wir uns auseinandergelebt haben und uns nicht mehr auf die Art und Weise lieben, wie wir es früher getan haben, haben wir die Entscheidung getroffen, uns zu trennen. Verstehe mich nicht falsch, ich schätze deinen Vater immer noch sehr und er ist die Person, der ich am meisten in meinem Leben vertraue. Aber er fühlt sich mehr wie mein Mann an. Dein Vater und ich sind zu der Übereinstimmung gekommen, dass es uns beiden so geht und wir bereit sind, unsere Beziehung anders zu leben als zuvor. Dazu gehört, dass dein Vater von hier auszieht."

"Ich komme schon noch zu Besuch, Blümchen", schaltet Papa sich ein und drückt mich enger an sich.

Ich schlucke. Das ist viel. Das muss ich erst irgendwie verdauen. „Und du bist damit okay?", frage ich meinen Vater.

Er sieht müde aus, als er mir antwortet: „Ich kann nicht sagen, dass es ein schönes Gespräch war, als deiner Mutter mir eröffnet hat, dass sie sich in jemand anderen verliebt hat. Aber wir haben lange darüber gesprochen. Und ja, wir haben uns auseinandergelebt. Mittlerweile sehe ich es als Chance, wieder zu einer besseren Beziehung mit deiner Mutter zurückzukehren, in der wir uns gegenseitig nicht so verpflichtet sind, wie wir es davor waren. Deshalb ja, ich denke auch, dass das die beste Entscheidung ist."

„Und ich bin ja nicht aus der Welt", hängt Papa an. „Ich werde noch oft zu Besuch kommen, und für dich kochen, Flora. Oder du besuchst mich mal in meiner neuen Wohnung", schlägt er vor.

„Heißt das, dein Freund ... zieht hier ein?," frage ich Mama.

Sehr zu meiner Erleichterung schüttelt sie den Kopf. "Nein, er hat seine eigene Wohnung. Ich werde zwischen hier und ihm pendeln. So hast du die Möglichkeit hier wohnen zu bleiben und Zeit mit uns zu verbringen", beruhigt sie mich.

Der Gedanke an diese Wohnung, leer, nur mit Papa oder Mama fühlt sich seltsam an. "Ich weiß nicht, ob ich das will", antworte ich nach einer Denkpause. „Ich... Das ist viel."

Meine beiden Elternteile schauen mich an. In mir ist die Angst nicht so groß wie zuvor. Meine Eltern hassen sich nicht. Sie trennen sich im Guten. Aber da ist ein seltsames Gefühl der Melancholie und Nostalgie. Es klingt so kompliziert und ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll.

„Ihr habt mich aber trotzdem lieb, oder?", frage ich eine Frage, von der ich nicht wusste, dass sie mir unter den Nägeln brennt, aber das tut sie und mir steigen Tränen in die Augen in der Erwartung der Antwort.

Bestürzung rückt in die Blicke von sowohl Mama als auch Papa. Ihre Stimmen überschlagen sich, als sie mir versichern, dass sie mich lieben: „Aber natürlich, mein Schatz!"

„Du bist doch unsere Tochter! Wie könnten wir dich nicht lieben?"

„Nur weil ich nicht mehr immer hier bin, heißt das nicht, dass ich dich nicht mehr liebe, Flora", sagt mein Vater eindringlich und zieht mich in eine Umarmung. „Ich liebe dich sogar sehr. Bis zum Mond und wieder zurück."

Ich lächle unter Tränen ob der unbequemen Position, in die er mich gezogen hat und unter der Bestätigung, dass sich vielleicht doch nicht so viel ändert. „Bis zum Mond und wieder zurück haben wir uns lieb", zitiere ich das Kinderbuch, das Papa mir früher immer vorgelesen hat, von dem kleinen und dem großen Hasen, die sich genau zeigen, wie lieb sie sich gegenseitig haben.

Die Vorstellung, mich jetzt von meinen Eltern zurückzuziehen, lässt mich ganz einsam werden. „Können wir einen Film gucken?", frage ich deswegen.

„Aber natürlich", antwortet Mama und angelt die Fernbedienung vom Wohnzimmertisch.

„Und kann ich heute Nacht bei euch schlafen?", hänge ich hinterher und fühle mich dabei zehn Jahre jünger.

„Wenn wir zu dritt in unser Bett passen", scherzt Papa.

Mit einem tiefen Ausatmen entweichen all die schlechten Emotionen aus meiner Brust und ich schmiege mich näher und bequemer an den Oberkörper meines Papas.

Ich habe noch eine Familie. Sie wird sich verändern, aber sie ist noch da. In diesem Moment habe ich das Gefühl, dass ich lernen kann, damit umzugehen.

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