Kapitel 5

Halb erwarte ich, dass meine Eltern wie gestern am Küchentisch sitzen und auf mich warten. Aber weder Mama noch Papa sind irgendwo im Wohnbereich zu sehen. Auf dem Küchentisch steht auch kein Essen. Ich habe den ganzen Tag noch nichts gegessen und riesigen Hunger. Vielleicht kann ich ja etwas für uns kochen?

Zuerst bringe ich aber meinen Rucksack in mein Zimmer, am anderen Ende der Wohnung. Als ich an der Tür des Schlafzimmers meiner Eltern vorbeilaufe, höre ich laute Schritte und ein unsanftes „UMPHF" von drinnen. Vorsichtig öffne ich Tür.

Bevor ich wirklich ins Zimmer sehen kann, beginne ich bereits zu fragen: „Alles okay?", aber mir purzeln die Worte mehr aus Gewohnheit aus dem Mund, als ich das Zimmer sehen kann.

Mein Vater steht vor dem geöffneten Schrank und zerrt Klamotten heraus und packt sie einen offenen Karton. Neben mir bei der Tür steht schon ein geschlossener Karton, auf dem in Großbuchstaben und der ordentlichen Handschrift meines Vaters „SCHLAFZIMMER" steht.

„Papa? Was machst du?", frage ich mit einem Zittern in der Stimme. Ich weiß, was er tut. Er packt seine Sachen zusammen, in Umzugskartons. Weil er umzieht. Auszieht, verbessere ich mich. Er zieht aus. Meine Augen fühlen sich mit einem Mal richtig geschwollen an, und es drückt auf meine Tränendrüsen, aber es will nichts herauskommen.

Bestürzt dreht mein Vater sich zur Tür. „Oh, Blümchen, du bist ja schon wieder aus der Schule da. Ich dachte, du hattest heute lang Schule?" Er versucht sich vor den Karton zu stellen und ihn mit einem Fuß hinter sich zu schieben.

Ich lache traurig. Als würde ich ihn so nicht sehen. Während ich die Tür schließe, murmele ich: „Hab geschwänzt." Ohne mich um meine Kraft zu scheren, werfe ich die Tür ins Schloss und stürme in mein eigenes.

Ich pfeffere den Rucksack von meinem Rücken auf den Boden neben meinem Schreibtisch. Gesicht voran falle ich auf mein Bett. Mein Vater packt seine Sachen zusammen, während ich nicht zuhause bin, im vollen Wissen darüber, wann ich heute eigentlich wieder daheim sein sollte. Der einzige Schluss, auf den ich komme, tut weh und macht mich wütend: Er wollte still und heimlich seine Sachen aus der Wohnung verschwinden lassen. Mein wütender Schrei wird gedämpft von meinem Kopfkissen.

Hinter mir geht die Tür auf. „Was heißt das, du hast geschwänzt?", fragt mein Vater bestürzt und bleibt in der Tür stehen.

„Ich bin nicht hingegangen", antworte ich trotzig und drehe mich von ihm weg.

„Unentschuldigt?", hakt mein Vater nach.

„Nein, natürlich nicht!", motze ich ihn an. „Ich hab heute morgen dort angerufen, und gesagt, dass ich nicht komme, weil meine Eltern sich scheiden lassen." Wieder pocht es hinter meinen Augen, aber die Tränen wollen nicht fließen.

Mein Vater schweigt für eine Weile, bevor er zu mir ans Bett kommt. Ich fühle, wie die Matratze an einer Seite einsinkt. Dann legt er mir vorsichtig eine Hand auf den Arm. Ich schlage sie weg und rolle mich weiter von ihm weg.

Er seufzt tief. „Ich verstehe, dass es schwer für dich zu akzeptieren ist, dass deine Mutter und ich uns trennen...", beginnt er in einem fürsorglichen Ton, doch ich unterbreche ihn, bevor er irgendetwas erklären kann.

Ich will nicht verstehen, was ihre Gründe waren. Ich will gerade gar nichts erklärt bekommen. Ich will gerade nicht, dass mein Vater auszieht. „Ich kann das super akzeptieren!", protestiere ich und merke selbst, wie hysterisch ich klinge, aber ich kann nicht aufhören zu reden. „Du und Mama, ihr seid einfach egoistisch und denkt nur an euch selbst. Was ist mit mir, wenn ihr euch trennt? Was mach ich dann? Ich will nicht hin- und herpendeln! Ich will kein Trennungskind sein, das von allen mitleidig angeschaut wird! Ich will nicht...!" Ich muss Luft holen und mir entweicht ein Schluchzen. Es ist trocken und einsam. Meine Wut verpufft und ich rolle mich zu einem Ball zusammen.

Mein Vater versucht noch einmal, mich zu berühren und flüstert ein sanftes „Blümchen".

Ich schüttele ihn ab. „Geh weg! Lass mich in Ruhe!", schreie ich gegen meine Knie, und kneife die Augen zusammen.

Mein Vater sagt nichts. Ich höre seinen Atem. Er holt Luft, als wolle er ansetzen, etwas zu sagen, aber dann steht er stattdessen auf und verlässt den Raum.

Sobald die Tür hinter ihm zugeht, schüttelt mich ein trockener Schluchzer nach dem anderen. Meine Tränendrüsen haben irgendwo ein letztes Flüssigkeitsreservoir gefunden. Ich weine unter heftigem Schütteln. Salzige Tränen laufen mir über die Nasenbrücke, in mein Ohr und tropfen auf meine Bettdecke.

Alles, was ich denken kann, ist, dass ich nichts von alldem will.

Es braucht eine ganze Weile, bis ich mich wieder einigermaßen beruhigt habe. Meine Nase ist zu und wenn ich durch den Mund atme, tut mein Hals weh. Der Gedanke, aufzustehen liegt mir ferner als der äußerste Stern des bekannten Universums. Aber irgendwann überredet mich mein knurrender Magen dazu, doch aufzustehen und in die Küche zu tapsen. Küche und Wohnzimmer grenzen so aneinander, dass der kürzeste Weg zur Küche von meinem Zimmer aus durch das Wohn- oder auch Esszimmer führt. An einer Wand stehen zwei Bücherregale, die mit all den Büchern meiner Eltern gefüllt sind, die keinen Platz in ihrem Schlafzimmer gefunden haben. Es wirkt anders, als sonst. Es dauert einen Augenblick, bis ich merke, dass Bücher fehlen.

Mein Herz rutscht mir in die Hose. Zieht Papa auch alle seine Bücher um? Aber Kartons mit den fehlenden Büchern sind nicht zu sehen.

Ich kriege fast meine Hand nicht hoch, um die Küchentür zu öffnen. Von innen brutzelt und zischt es. Kocht Papa?

Ich lasse meine Hand wieder sinken und flüchte in mein Zimmer.

Ich will das nicht!

Es ist eine Kurzschlussreaktion, die mich dazu bringt, meinen kleinen Rollkoffer zu packen, der bei mir oben auf dem Schrank liegt. Ich lege ihn auf mein Bett und stopfe Klamotten für eine Woche hinein. Dann Klamotten für noch eine Woche. Ein paar Schulbücher, die nicht in meinen Rucksack passen, die ich in der Schule aber benötige. Mein Mäppchen und mein Handyladekabel. Waschsachen habe ich schon vor Ewigkeiten bei Ronja deponiert.

Mitten in meinen panischen Vorbereitungen meiner Flucht klopft es an der Tür. „Flora?", dringt die Stimme meines Vaters gedämpft durch die Tür.

Ich erstarre. Schnell packe ich meinen Rucksack und meinen Koffer so hinter das Bett, dass sie von der Tür aus nicht gesehen werden können. Aber zum Verstecken fehlt mir die Zeit.

Leise gegen den Teppich, der in meinem Zimmer verlegt ist, schabend öffnet sich meine Zimmertür. Hilflos stehe ich hinter dem Bett und starre meinen Vater mit sicher verquollenen Augen an.

Aber es passiert nichts. Wie auch Toni sieht er durch mich hindurch. Erst traue ich mich nicht, mich zu bewegen, als würde das den Zauber aufheben, aber dann wedele ich vorsichtig mit meinen Händen.

Er sieht mich immer noch nicht. Leise trete ich näher an ihn heran.

Er seufzt und ich erschrecke mich, so angespannt bin ich. Erst jetzt, wo ich so nah vor ihm stehe, fällt mir auf, wie traurig er aussieht. Unter seinen Augen sind tiefe Schatten und er wirkt zehn Jahre älter. Schläft er schlecht?

„Wo ist sie hin?", murmelt er leise, lässt seinen Blick noch einmal durch das Zimmer schweifen – und sieht dabei direkt durch mich hindurch. Es ist ein seltsames Gefühl, nicht gesehen zu werden. Aber ich bin in diesem Moment sehr froh darüber. Papa wendet sich ab und schließt leise die Tür hinter sich.

Schnell eile ich zur Tür und presse mein Ohr gegen die kühle Spanplatte und lausche seinen sich entfernenden Schritten. Erst als ich mir sicher bin, dass er nicht mehr im Flur steht, hole ich meinen Rucksack und Koffer hinter dem Bett hervor und öffne möglichst leise meine Zimmertür.

Ich fühle mich wie eine Maus, die sich vor einer Katze versteckt, wie ich den Flur hinunter schleiche, auf die Garderobe zu. Meine Jacke raschelt laut, als ich sie vom Haken nehme und ich beeile mich, meine Schuhe anzuziehen. Meine Jacke werfe ich mir über den Arm, verlasse so schnell ich kann die Wohnung und renne zum Aufzug. Zu meiner Erleichterung öffnet er sich direkt und ich steige ein. Als könnte Papa mich verfolgen, hämmere ich panisch auf den „Türe schließen"-Knopf und bin froh, als sie sich tatsächlich schließen. Während der Aufzug in das Erdgeschoss fährt, zücke ich mein Handy und schreibe Papa eine Nachricht, dass ich bei Ronja bin. Ich fische meine In-Ear-Kopfhörer aus meiner Hosentasche und stecke sie mir in die Ohren, allerdings ohne wirklich Musik zu hören. So kann ich die Geräusche von außen besser ausblenden.

Dafür machen mich meine eigenen Gedanken schnell verrückt, während ich zur Bushaltestelle laufe. Sobald ich die Gelegenheit bekomme, stöpsele ich das Kopfhörerkabel in mein Handy und suche mir irgendeinen Song, den ich auf voller Lautstärke durch meine Gehörgänge blasen kann. Das übertönt meine Sorgen und Ängste – zumindest für den Moment.

Die Busfahrt bis zu Ronja dauert zu meinem Glück nicht lange. Sie wohnt im gleichen Vorort wie meine Familie – meine Mutter. Kein Wunder, denn unsere Mütter kennen sich schon seit Kindesbeinen und sind beste Freunde. Sie scherzen oft, dass sie das an Ronja und mich vererbt hätten und dass wir von Geburt an dazu bestimmt waren, beste Freunde zu sein. Im Gegensatz zu meiner Familie verdienen aber beide von Ronjas Eltern gut und können sich eine Doppelhaushälfte leisten. Ich öffne nach dem kurzen Spaziergang von der nahen Bushaltestelle zu Ronjas Haus deren Gartentürchen. Ich weiß seit immer, wo der Haustürschlüssel liegt: Auf dem Fenster neben der Tür unter dem Topf eines kleinen Kaktus, um den sich stiefmütterlich gekümmert wird. So komme ich unbemerkt in das Schwartz-Haus hinein. Zu meinem Glück hört niemand, wie ich eintrete und ich komme unbehelligt die Treppe hoch und in Ronjas Zimmer. Seit zwei Jahren muss sie sich ihr Zimmer nicht mehr mit Leon, ihrem kleinen Bruder, teilen. Der hat sich mit seinem Vater einen Teil des Dachbodens wohnbar gemacht und dort sein eigenes Reich eingerichtet. Nie war ich dankbarer dafür, als gerade. So konnte Ronja ihre Squischie-Sammlung jeden Winkel des Zimmers einnehmen lassen. Die kulleräugigen Stofftiere sitzen überall: auf ihrem Bett, auf ihrem Schrank, auf der Fensterbank, auf dem ausziehbaren Gästesofa. Es gibt sie in pink, türkis, schwarz, grau, weiß, orange, violett. Die auf ihrem Bett sind die, die am mitgenommensten aussehen, weil sie die am häufigsten beschmust. Sie hat mir mal erklärt, dass die, die auf dem Schrank sitzen, Limited Editions sind, und sie mir die Freundschaft kündigt, sollte ich sie anfassen. Seitdem berühre ich immer, wenn sie nicht hinsieht, die kleinen Stummelfüße der Schrank-Squischies.

Zu meiner Verwunderung ist keine Ronja in ihrem Zimmer. Ich gehe zum Schrank, halte mein kleines Squischie-Ritual ab und setze mich dann auf die Couch. Eines der Squischies drücke ich mir dabei vor die Brust. Es tut gut, irgendetwas im Arm zu haben, das nicht meine eigenen Beine sind.

Ich muss ein bisschen warten, bis sich die Zimmertür öffnet. Vor Schreck halte ich die Luft an. Aber es ist nur Ronja, die eintritt. Erleichtert stoße ich sie wieder aus.

Neben mir schleudert es Ronja mindestens einen Meter zurück. „Oh Gott, ist das creepy!", ruft sie und stößt einen langen Schwall Luft aus. Dann deutet sie auf mich. „Mach das nicht nochmal, Flora!"

„Was?", frage ich verwirrt.

„Du hast dich gerade einfach auf der Couch materialisiert. Das ist extrem gruselig. Wie ein Geist, der plötzlich sichtbar wird."

Mit großen Augen starre ich sie an. „Du meinst..."

Sie nickt bestätigend und lässt sich neben mir auf das Sofa plumpsen. „Du, meine liebe Flora, kannst dich tatsächlich unsichtbar machen."

„Verrückt", hauche ich. Aber nach der Situation mit meinem Vater kann ich es nicht mehr abstreiten.

„Jup. Finde ich auch", stimmt Ronja mir zu. „Aber ich hab noch viel verrücktere Neuigkeiten", eröffnet sie mir und ich bin einfach froh, eine andere Stimme zu hören, als meine innere. „Ich war ja nochmal bei Toni."

Bei dem Namen verziehe ich das Gesicht, woraufhin Ronja mir mit dem Ellenbogen in die Seite stupst.

„Kein Grund so ein Gesicht zu machen. Der Typ ist echt voll okay. Ein bisschen übermäßig flirty vielleicht, aber es zieht offensichtlich."

Ich rolle mit den Augen.

„Na, jedenfalls", redet Ronja weiter, „hat er mir das Videomaterial von unserem Escape Room gezeigt, und du bist tatsächlich die ganze Zeit darauf zu sehen! Auch, wie du die Tür öffnest und den Raum verlässt, etwas, was ich definitiv nicht gesehen habe. Und ich war vor Ort!"

„Danke für die Erinnerung, das wäre mir ja sonst total entfallen", antworte ich theatralisch.

„Du hast nicht zwischenzeitlich herausgefunden, wie du dich unsichtbar machst?", fragt Ronja wenig hoffnungsvoll.

„Nicht wirklich." Ich ziehe die Schultern hoch. „Aber ich glaube, ich habe herausgefunden, warum ich unsichtbar werde."

Begeistert schaut Ronja mich an. „Erzähl! Warum?" Als ich nicht sofort antworte, boxt sie mir in die Seite. „Nun sag schon!"

Ich suche nach Worten, die es am besten beschreiben und rücke schließlich raus mit: „Weil ich nicht gesehen werden will."

„No shit, Sherlock!", gibt Ronja zurück. „Wer hätte denn damit rechnen können!"

Ich strecke ihr die Zunge raus und erzähle ihr von der Situation mit meinem Vater und wie ich mir währenddessen, genau wie bei Toni, gewünscht habe, einfach im Erdboden zu verschwinden, oder noch besser nicht gesehen zu werden. Den Teil mit den Kartons und fehlenden Büchern lasse ich dabei aus.

Ronja nickt nachdenklich, nachdem ich fertig erzählt habe. „Mhm, vielleicht Hilflosigkeit? Wut? Panik?"

Ich zucke mit den Schultern. „Fühlt sich alles nicht wirklich richtig an. Ich glaube wirklich, es ist dieses Fluchtgefühl. Ich will mich dieser Situation unbedingt entziehen. Und dann entziehe ich mich, indem ich mich unsichtbar mache."

„Ja, aber wie funktioniert das?", fragt Ronja fasziniert. „Wie machst du dich unsichtbar? Fühlst du dich irgendwie anders, währendher?"

Ich überlege, schüttele dann aber den Kopf. „Eigentlich nicht. Es ist für mich immer ein kurzer Schreckmoment, wenn Leute durch mich durchschauen."

„Vielleicht passt du dich an deinen Hintergrund an? Wie ein Chamäleon? Dann würdest du dich einfach richtig krass tarnen!", überlegt Ronja weiter.

„Wie gesagt, ich habe keine Ahnung." Mit Ronja darüber zu reden, dass Leute durch mich hindurch schauen und mich nicht wahrnehmen, ist skurril aber irgendwie trotzdem das Natürlichste, was ich am heutigen Tag gemacht habe. Einfach mit Ronja zu reden ist etwas, was mich runterbringt und ich spüre, wie entspannt ich bin, seit sie sich zu mir auf das Sofa gesetzt hat. Erst jetzt merke ich, wie hungrig ich mittlerweile bin. Wir haben schon späten Nachmittag und das Stück Blaubeerkuchen mit Ronja heute Mittags ist meine letzte Mahlzeit seit heute morgen gewesen.

Ronja philosophiert gerade darüber, was weitere Erklärungen für meine Unsichtbarkeit sein könnten: „Vielleicht kannst du das Licht um dich herum so brechen, dass dich niemand sieht? Das wäre super cool! Oder du kannst zu Luft werden? Vielleicht löst du dich auch für den Moment auf, deine Moleküle trennen sich voneinander und vermischen sich mit der Luft."

„Ich unterbreche dich, bevor deine Hypothesen noch steiler werden und irgendwann die 90 Grad erreichen. Habt ihr was zu Essen im Haus? Ich hab riesigen Hunger."

Ronja schmollt ein bisschen, lässt mich aber wissen, dass es bald Abendessen gibt.

„Kann ich mir auch etwas im Vorhinein holen?", frage ich und setze an, zu erklären weshalb. „Ich glaube nämlich nicht, dass ich mich erstens so lange noch gedulden kann und zweitens das Genöle von Leon gerade ertrage." Leon, Ronjas kleiner Bruder, findet eigentlich an fast allem, was man ihm gibt, egal ob es Spielzeug, ein Ratschlag oder etwas zu essen ist, etwas auszusetzen. Früher hat es oft nur zu einem „Bäh!" gereicht, aber mittlerweile hält er dann stundenlange Vorträge darüber, was ihm nicht gefällt. Ohne, dass irgendjemand gefragt hätte.

„Leon erträgt keine halbwegs normale Person", pflichtet Ronja mir bei. „Aber immerhin bei Essen ist er toleranter geworden. Er probiert mittlerweile immerhin einen Bissen von allem, bevor er sich aufregt." Auch wenn sie sich über Leons Verhalten echauffiert, weiß ich doch, dass sie ihren kleinen Bruder sehr liebt. Oft genug nimmt sie sein seltsames Verhalten in Schutz. Früher mehr, als er noch klein und süß war, das schleicht sich mittlerweile – seit er mehr redet – auch aus.

„Suuuper", meine ich sarkastisch. „Meinst du denn, ich kann mich mit den Taschen unter meinen Augen zu euch an den Tisch setzen, ohne dass ich einen dummen Kommentar abkriege?", frage ich ehrlich und deute auf meine geschwollenen Augen.

Ronja legt nachdenklich den Kopf schief. „Hmm, vielleicht hat Hannes ja einen guten Tag? Aber wenn er auch nur einen blöden Spruch bringt, kriegt er sowohl von mir als auch von Mom eins auf den Deckel!"

„Auf deine Mom ist Verlass", antworte ich. „Na gut. Dann versuche ich mich zu gedulden."

„Und in der Zwischenzeit", beginnt Ronja, steht auf und geht an ihren Schreibtisch. Während sie redet, wühlt sie in einer der Schubladen und zieht schließlich euphorisch einen Stapel Hanuta hervor, „müssen wir nicht darben!"

Sie reicht mir eines und öffnet selbst ein weiteres. Zusammen krümeln wir das Sofa voll, und Ronja spinnt noch weitere Hypothesen dafür, warum Leute mich nicht sehen können, die von mal zu mal seltsamer werden. Ich höre einfach nur lächelnd zu.

Als sie zu dem Entschluss gekommen ist, dass ich ein Alien bin, gibt es Essen.

Der Küchentisch ist bereits gedeckt, als Ronja und ich die Küche betreten. Es gibt Linsensuppe mit Würstchen. Der leckere Duft zieht mich magisch an und heißhungrig setze ich mich an den Tisch.

„Hallo Kristin", begrüße ich Ronjas Mutter. Ihre roten, lockigen Haare hat Ronja eindeutig nicht von ihrer Mutter, dafür ihre kleine, stämmige Statur und die Stupsnase. Kristin hat auch Locken, aber schwarze und ein so gutmütiges Gesicht, dass man sich kaum vorstellen kann, dass sie ihre Kinder jemals schimpft. Aber das soll nicht über den Fakt hinweg täuschen, dass sie das definitiv und regelmäßig tut. Früher, als Hannes noch hier gewohnt hat, mehr als jetzt, wo er einigermaßen erwachsen ist.

„Ach, Flora! Dich hab ich ja schon eine halbe Ewigkeit nicht mehr gesehen!", grüßt Kristin zurück und drückt mich über die Stuhllehne.

„Sie war letzte Woche schon hier", erinnert Ronja ihre Mutter und lässt sich neben mir auf den Stuhl plumpsen.

„Eine Woche ist eine halbe Ewigkeit, wenn man bedenkt, wie oft ihr als ihr klein wart, hier wart. Flora ist quasi meine Adoptivtochter! Nicht wahr, Liebes?" Sie wuschelt mir durch meine Haare, und steckt einen riesigen Suppenlöffel in den Linseneintopf, bevor sie wieder in der Küche verschwindet, ohne meine Antwort abzuwarten.

„Warst du nicht erst letzte Woche hier?", fragt Hannes, der gerade zur Tür herein trottet. Hannes hat die gleichen roten Haare wie Flora und ihr Vater und dazu einen Flickenteppich im Gesicht. Er nennt ihn liebevoll seinen Bart, aber so viele Löcher und kahle Stellen, wie er darin hat, geht diese doch eher mäßige Haarpracht auf keinen Fall als Bart durch. Früher hatte ich mal einen Crush auf ihn, aber das war, bevor ich wusste, was für ein kindischer Sack er sein kein.

„Ja, und?", entgegne ich, während er sich mir gegenüber auf den Stuhl setzt und sich sofort vom Linseneintopf schöpft.

Erst jetzt schaut er mich an. „Wow, was ist denn mit dir passiert? Hat dein Freund mit dir Schluss gemacht?", fragt er bei meinem Anblick.

„Haha, sehr witzig", werfe ich zurück und schnappe ihm die Suppenkelle aus der vor Staunen erschlafften Hand. Ich brauche etwas zu essen. Sonst beiße ich dem Kerl den Kopf ab.

Wie gerufen kommt Kristin wieder an den Tisch gerauscht und gibt ihrem Ältesten einen Klaps auf den Hinterkopf. „Sei nett zu Flora! Und nimm die Ellenbogen vom Tisch! Das gehört sich nicht." Sie hat seinen Kommentar wohl gehört."

„Aber ist doch wahr...", brummelt Hannes in seinen Flickenteppich, folgt aber den Anweisungen seiner Mutter und nimmt die Ellenbogen vom Tisch.

Hinter Kristin kommt ihr Mann Bert aus der Küche. Eigentlich heißt er Albert, aber er besteht bei jedem darauf, dass dieser ihn Bert nennt. Seine Hände stecken in Topflappen, mit denen er einen heißen Topf Nudeln an den Tisch trägt. „Hallo Flora! Wie geht es dir?", fragt er, während er den Topf auf den dafür vorgesehenen Untersetzer stellt. Meine geschwollenen Augen erwähnt er mit keinem Wort. Sowohl Ronja als auch Hannes haben ihre Haarfarbe von Bert, wobei Hannes nur neidisch auf den Bartwuchs seines Vaters sein kann. In Berts Vollbart finden sich oft Essensreste, wie Ronja und ich früher oft mit Ekel feststellten. Aber sein Bart passt zu seinem verwirrten Professorauftreten.

„Mir geht's gut", antworte ich auf Berts Frage. Tatsächlich stimmt es. Das Gespräch mit Ronja hat mich runtergekühlt und der Hunger überdeckt alle anderen negativen Emotionen, die in mir hochsteigen könnten. „Und dir?"

„Ach, so wie immer", antwortet er, geht zur Tür des Esszimmers und brüllt in den Flur: „Leeeooooooon! Eeeesseeeen!"

Gedämpft dringt die kindliche Stimme von Ronjas jüngstem Bruder die Treppe runter: „Ich muss noch den Boss besiegen, dann komme ich!"

Kristin und Bert werfen sich einen Blick zu. „Lass ihn", besänftigt Kristin ihren Mann. „Er kommt, wenn er Hunger hat."

Bert seufzt, setzt sich aber mit seiner Frau an den Tisch. „Ich glaube, ich sehe dich öfter, als meinen eigenen Sohn", meint Bert an mich gewandt. „Aber Leons Abwesenheit soll uns nicht davon abhalten zu essen. Lasst es euch schmecken!"

Auf den Startschuss habe ich gewartet, und beginne Nudeln auf meinen Teller und dann in mich hinein zu schaufeln. Bei meinem Esstempo habe ich bereits einen Teller verdrückt, bis Leon sich dazu herablässt, zum Essen zu erscheinen.

Leon ist das einzige der drei Schwartz-Kinder, das die Haare von Kristin geerbt hat. Dunkle Locken türmen sich auf seinem Kopf. Mit seinen blauen Augen und Sommersprossen sah er schon als kleines Kind zuckersüß aus. Jetzt, wo er langsam in die Pubertät kommt, verschwindet die Kindlichkeit langsam aus seinem Gesicht. Die Pausbacken, die er noch vor einem Jahr hatte, bauen sich langsam ab. Nur der Stimmbruch und der Wachstumsschub lassen noch auf sich warten, sodass Leon immer wie ein Erwachsener behandelt werden will, aber noch immer so groß ist wie ein Zwölfjähriger. Und so klingt.

„Was gibt es?", fragt er mit seiner Piepsestimme, geht um den Tisch herum und setzt sich auf den letzten freien Platz. Mich würdigt er dabei keines Blickes. Ich bin dankbar dafür. Leon wäre vermutlich nicht so leicht ruhig zu stellen wie Hannes.

„Linseneintopf mit Nudeln", antwortet seine Mutter. Leon hält ihr auffordernd seinen Teller hin, und bekommt von Kristin eine kleine Probierportion geschöpft. Sie gibt den Schöpflöffel an mich weiter, und ich häufe mir eine zweite Portion auf meinen Teller.

Leon steckt sich eine Gabel in den Mund, und verzieht das Gesicht. „Das schmeckt ja nach gar nichts", meckert er.

„Deine Mutter hat sich Mühe beim Kochen gegeben", ermahnt Bert seinen Sohn.

Leon zuckt mit den Schultern und schiebt den Teller von sich. „Ich will das nicht essen."

„Leon, wie alt bist du jetzt?", fragt Hannes.

Leon schaut einen Moment lang auf seine Finger, als würde er nachzählen. „Dreizehn und das weißt du", antwortet er dann trotzig seinem großen Bruder. Dabei schiebt er die Unterlippe nach vorne und schmollt.

„Dreizehn schon?", fragt Hannes scheinbar verwundert. „Solltest du dann nicht langsam mal anfangen, einfach das zu essen, was du kriegst? Kein Wunder, dass du so klein bist."

„Lass das, Hannes", ermahnt Kristin ihren Ältesten.

Der zuckt nur wieder mit den Schultern. „Aber ist doch wahr."

„Und du bist 22 und wohnst immer noch bei deinen Eltern", feuert Kristin zurück, was Hannes das blöde Grinsen vom Gesicht wischt. „Pass bloß auf, dass da nicht 30 draus wird."

Bert hört dem Gespräch zu und isst in Seelenruhe. Er vertraut seiner Frau wohl sehr, dass sie das im Griff hat. Auch ich folge dem Gespräch gespannt.

„Solange werde ich sicher nicht hier wohnen. Davor werde ich verrückt."

„Nein, davor lernst du kochen, Wäsche machen und putzen, damit du überhaupt erfolgreich allein wohnen kannst", stutzt Kristin Hannes zurecht.

Darauf murrt Hannes nur beleidigt und ist plötzlich sehr vertieft in sein Essen.

Ronja und ich werfen uns ein verstohlenes Grinsen zu. Nichts macht mehr Spaß, als Hannes einmal rund gemacht zu sehen.

Kristin wendet sich wieder an ihren Jüngsten, der seinen Bruder noch immer düster anstarrt: „Fehlt dir Salz?"

Leon nickt, sagt aber nichts. Daraufhin angelt Kristin einen Salzstreuer von der Mitte des Tisches und reicht ihn Leon. Der salzt sein Essen nach und redet das Essen über kein Wort mehr.

Danach folgen Fragen, wie es bei mir in der Schule läuft, und Hannes und Kristin diskutieren nochmal, als Kristin Hannes mit meinen Schulleistungen vergleicht.

Sobald er fertig ist, steht Leon auf, bringt seinen Teller mit der Erinnerung seiner Mutter in die Küche und verschwindet dann wieder auf den Dachboden.

„Wenn ich das machen würde, würde ich drei Monate Hausarrest kriegen," murrt Hannes.

„Wenn du das machen würdest, müsstest du drei Monate lang das Bad putzen. Und zwar so, dass ich es als sauber empfinde, nicht du", entgegnet Kristin.

Ronja und ich helfen beim Tisch aufräumen und gehen dann wieder hoch in ihr Zimmer.

„Und jetzt?", frage ich. „Was wollen wir machen?"

„Da du", Ronja deutet auf mich und läuft an ihren Schreibtisch, „immer noch nicht weißt, wie du dich unsichtbar machst, würde ich vorschlagen, wir betreiben ein bisschen Recherche." Sie zieht ihren Laptop aus einem Regal über ihrem Schreibtisch und setzt sich damit auf das Sofa.

„Was willst du da recherchieren?", frage ich unsicher, setze mich aber neben sie. „Hilfe, andere Leute könne mich nicht sehen, was soll ich tun?"

Ronja sieht mich an: „Kein schlechter Start", und tippt genau das in die Suchleiste ihres Browsers.

„Ich glaube nicht, dass du da irgendwelche sinnvollen Informationen rauskriegst", gebe ich ihr zu bedenken.

„Immer diese Buhmänner. Es tut doch nicht weh, es mal zu versuchen", gibt sie zurück und beginnt durch die Suchergebnisse zu scrollen.

„Fühlst du dich einsam?", fragt sie, nachdem sie das erste Suchergbnis gelesen hat.

Ich überlege. „Gerade nicht."

„Ich meine, in den Situationen, während denen du unsichtbar warst", schiebt Ronja hinterher. „Dass du dich gerade nicht einsam fühlst, sollte ja wohl die Norm sein."

Ich denke an heute Morgen im Escape Room. „Nicht immer. Als du heute morgen mit Toni durch die Lautsprecher geflirtet hast..."

„Ich hab doch nicht geflirtet!", empört sich Ronja.

Meine Augenbrauen heben sich unwillkürlich. „Ach wirklich." Es ist keine Frage. „Du fandest ihn nicht hot und bist voll auf seine flirty Masche eingestiegen?"

Ronja wird ein bisschen pink im Gesicht. „Er hat dich angeflirtet, schon vergessen? Ich war deine Wingwoman."

„Als Wingwoman solltest du aber auch das Subjekt, für das du Wingwoman bist – also in dem Fall mich – im Blick behalten", entgegne ich. In mir steigt eine Wut hoch, die ich in dem Moment nicht erklären kann. Sie kommt irgendwo aus meinem Bauch heraus, von dort, wo ich mich seit heute morgen unwohl fühle, immer wenn das Gespräch auf Toni fällt. „Aber du hattest nur Augen – Ohren für Toni", korrigiere ich mich. „Du hast gar nicht gemerkt, wie unwohl ich mich in dem Moment gefühlt habe, als klar wurde, dass er mit vielen Mädchen flirtet und nur auf Äußerlichkeiten geht."

„Oh, Entschuldigung, dass ich versucht habe, dir zu helfen!", spuckt Ronja zurück. „Ich wollte dich ablenken und da kam Toni mit seiner flirty Art genau richtig. Ich dachte, das bringt dich auf andere Gedanken. Und das hat es ja offensichtlich! Also, Mission accomplished."

„Tolle Mission, in der du einen Typen auf deine beste Freundin loslässt, an dem sie nicht interessiert ist", gebe ich wütend zurück.

Ronja lacht ungläubig. „Du? Uninteressiert? Du hast ihm hintergegeiert, als würdest du dich jeden Moment auf ihn stürzen wollen."

Entsetzt starre ich sie an. „Ich wollte mich nicht auf ihn stürzen!"

„Deine Augen haben da eine ganz andere Sprache gesprochen", sagt Ronja trocken, klappt den Laptop zu und steht auf.

Als sie aufsteht, verpufft meine Wut so schnell, wie sie gekommen ist wieder. Und mir fallen Ronjas rote Ohren auf. „Bist du eifersüchtig?", frage ich nach einem kurzen Moment der Stille, in dem sich Ronja auf ihr Bett gesetzt hat.

Sie schweigt für einen Moment. „Nicht mehr. Ich war", gibt sie zu. „Die meisten Jungs sehen immer dich an, wenn wir zusammen irgendwo hinlaufen."

„Tun sie nicht", versuche ich sie zu beschwichtigen, aber es geht nach hinten los.

„Tun sie wohl! Ich bin doch nicht blind, Flora. Und ich verstehe es ja. Du bist hübsch. Aber... Es fühlt sich nicht besonders gut an, nicht mal mit dem Hintern angeguckt zu werden." Sie sinkt ein bisschen in sich zusammen und es zerbricht mir das Herz, sie so zu sehen.

„Ronja, ich wusste nicht, dass du so denkst", stottere ich herum und weiß nicht so recht, was ich sagen soll.

Sie zuckt mit den Schultern und schaut in ihren Schoß. „Natürlich nicht. Dir fällt es nicht auf, wenn dich jemand anschaut. Entweder du bist verdammt dämlich, oder du willst es nicht wahrhaben. So wie ich dich kenne, eher zweiteres." Sie seufzt tief. „Ja, okay. Ich hab mit Toni geflirtet. Als er meinte, er flirtet einfach generell viel, hatte ich Hoffnungen, dass ich eine Chance bei ihm habe." Sie hört auf zu reden und sieht mich an, als würde sie um mein Verständnis bitten.

Darum muss sie nicht bitten. Ich laufe zu ihrem Bett und setze mich neben sie. „Und?", frage ich.

„Wir treffen uns am Wochenende", flüstert sie und beginnt zu grinsen.

Vorsichtig lege ich ihr eine Hand auf den Arm. „Meinst du, das ist eine gute Idee?", frage ich vorsichtig nach.

„Ich habe keine Gefühle für ihn, Flo", versichert mir Ronja und drückt meinen Schenkel. „Ich habe ihn heute das erste Mal gesehen. Plus: Er ist ein Fuckboy."

„Ja, oder?!", rufe ich ein bisschen zu laut.

Ronja lacht. „Ja! Sobald du weg warst – aber wirklich in der genauen Sekunde – hat er angefangen mit mir zu flirten." Sie kichert. „In sowas vergucke ich mich doch nicht."

Erleichtert schaue ich meine beste Freundin an. Meine schöne, starke beste Freundin. Aus einer Laune heraus, ziehe ich Ronja in eine feste Umarmung. „Du weißt, dass ich dich liebe, genau so wie du bist?", frage ich sie ehrlich.

„Wie könntest du auch nicht?", fragt sie, schnickt ihre Haare zurück und fängt an zu lachen.

Ich steige ein. „Toni muss sich echt ins Zeug legen, sich nicht in dich zu vergucken!", witzele ich.

Ronja grinst. „Denk mal, wie lustig das wäre."

Ich verziehe das Gesicht. „Lieber nicht. Dann muss ich ihn viel öfter sehen, als mir lieb ist."

Wir strecken uns gegenseitig die Zunge raus und einigen uns dann darauf, einen Film zu schauen. Wir machen einfach den erstbesten Film von der Streaming-Plattform unserer Wahl an, und schlafen während der ersten halben Stunde aneinandergelehnt in Ronjas Bett ein.

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