Kapitel 4
Die Busfahrt bis zum Tierheim Zur Sonne dauert fünf Minuten und führt am Stadtpark vorbei. Zwischen und in den Bäumen sind Lichterketten gespannt. Die Lichter betupfen die trostlos in den Himmel ragenden Baumskelette mit warm strahlenden, gold gelben Punkten. Ein großes Banner ist am Eingang aufgehängt, das den herannahenden Weihnachtsmarkt bewirbt. Auf dem großen Brunnenplatz werden schon fleißig Kabel verlegt und Holzhütten aufgebaut. Früher bin ich immer mit Mama und Papa über den Markt geschlendert und hab mich an meinem Kinderpunsch festgehalten. Ich bin von einem Stand zum nächsten gezischt, egal ob es eine Fressbude oder ein Glasbläser war – ich konnte mich für alles, was ausgestellt wurde, begeistern. Aber seit Mama und Papa mehr gestritten haben, sind unsere Weihnachtsmarktbesuche in den Hintergrund gerückt. Wenn ich den Markt noch besucht habe, dann mit Ronja, ihrer Familie oder meinem Papa. Mama konnte ich nie wieder dazu bewegen, über den etwas kitschigen Rummel zu spazieren und Baumkuchen zu essen.
Als der Bus an der Haltestelle Stadtpark hält, schüttele ich meine nostalgischen Gedanken ab und steige aus. Vermutlich wird es auch dieses Jahr wieder darauf hinauslaufen, dass ich mit Ronja und ihrer Familie auf dem Markt Zeit verbringen werde. Ronja schießt unheimlich gerne an den Schießständen. Ihr Bett und Schrank sind übervoll mit gewonnen Squischies, auch wenn sie die nach außen hin niemals zeigen würde.
Das Tierheim Zur Sonne steht in einer Seitenstraße. Es ist ein alter Industriebau, der über einen relativ großen Innenhof verfügt, in dem die Tiere während der warmen Tage Auslauf kriegen. Jetzt im Winter liegen sie alle etwas faul in ihren Käfigen und lassen sich die trockene Heizungsluft um die Nase blasen.
Eine kleine Glocke verkündet mein Eintreten und aus dem Büro hinter dem Tresen dringt eine etwas verstopfte weibliche Stimme: „Ich bin sofort da!"
Das Gebäude ist von innen renoviert, hat aber seinen alten Charme als ehemalige Industriehalle behalten. Stahlröhren und offene Kabelage ist an der Decke sichtbar. Die Wände bestehen aus roten Ziegeln und der Boden ist Sichtbeton. Lila beschwert sich im Winter immer über die hohe Stromrechnung, die sie bezahlen muss, um das ganze Gemäuer warm zu halten. Bei den Tieren ist es ein wenig besser. Die Wände sind dank einer Aktion der Freiwilligen, die das Tierheim finanzieren und unterstützen, isoliert und in den meisten Großraumkäfigen steht mindestens eine Wärmelampe.
Aus der Tür hinter dem Empfangsbereich tritt Lila, eine voluminöse Frau in ihren späten Vierzigern, die das Tierheim leitet. Ihre gutmütige Miene erhellt sich, als sie mich sieht. „Flora! Wie schön, dein hübsches Gesicht wieder zu sehen!", ruft sie erfreut, schlängelt sich durch die Hängetür, die den Bereich hinter dem Tresen zum Besuchereingang abgrenzt und zieht mich in eine feste Umarmung. Sie riecht nach Stroh, Katze und Schweiß. Der Geruch hat mich in meiner Kindheit viel begleitet. So riecht eigentlich jeder, der hier im Tierheim hilft, und mein Vater hat mich früher oft mit hierher geschleift. Lila kennt mich also schon, seit ich ein kleiner Stöpsel bin. Und ich sie. Fest drücke ich sie an mich. Solche Umarmungen fehlen mir gerade in meinem Leben, auch wenn ich es nicht gerne zugebe. Klar, Ronja und ich umarmen uns auch, aber Lila ist erwachsen und hat etwas mütterliches.
Mein Herz krampft sich ein bisschen zusammen.
„Du kommst genau richtig!", sagt sie, klopft mir gutherzig auf die Schulter und löst sich von mir. „Die Raubtiere wollen gefüttert werden. Und, na ja... Ich bin immer noch nicht der größte Fan der krallenbesetzten Killermaschinen."
Lila hat Angst vor Katzen. Warum sie dann ausgerechnet ein Tierheim für Kleintiere, Hunde und Katzen leitet, ist mir seit jeher ein Rätsel. Aber für sie funktioniert es irgendwie. Meist findet sich jemand anderes, der das Füttern und Ausmisten der Käfige übernimmt.
Ich nicke. „Klar, die Katzen nehme ich dir gerne ab. Aber ich habe keine Wechselklamotten dabei."
„Seit wann ist das denn ein Problem?", neckt Lila mich lachend. „Wechselklamotten gibt's im Umkleideraum. Wo du den findest, weißt du noch?"
„Klar. Futter und Streu ist immer noch in der Abstellkammer?" Die Abstellkammer ist ein recht großer Raum voller Silos, in denen die verschiedenen Futterarten, Stroh und Streu gelagert wird.
Lila nickt und geht um den Tresen herum. „Wundersam stark bin ich noch nicht über Nacht geworden, dass ich das alleine irgendwohin transportieren könnte." Sie kramt einen Zettel hervor, auf dem das heutige Datum steht. Die Anwesenheitsliste, die geführt werden muss. Dazu reicht sie mir einen Stift.
Während ich mich eintrage, lehnt sich Lila auf den Tresen. „Sag mal, kennst du Sirius schon?"
Fragend blicke ich hoch und schiebe ihr das ausgefüllte Formular zu. „Nein. Ist das ein neuer Kater?"
Lila lacht schallend und deutet auf den Namen, der oberhalb von meinem in der Anwesenheitsliste steht. „Nein, nein. Das ist unser FÖJler. Oder zeitweiser Mitarbeiter? Eins von beidem. Ist ein ganz lieber Kerl in deinem Alter. Ich sag ihm, dass er dir helfen soll, die Schubkarren zu füllen." Sie greift schon zum Telefon.
Toll. Noch ein Junge in meinem Alter. Nach Toni heute Vormittag hält sich meine Bereitschaft, neue Typen kennenzulernen, sehr in Grenzen. „Ich kann die auch alleine schieben, Lila", protestiere ich, weiß aber schon, dass es keinen Sinn hat. Der Mensch, der Lila die Stirn bieten kann, muss erst noch geboren werden.
„Keine Widerrede. Der Kerl kann sich mal nützlich machen", antwortet sie bestimmt und wählt eine Nummer – vermutlich die von diesem Sirius. „Geh du dich schonmal umziehen, ich schick ihn zu dir."
Ergeben biege ich in den Gang nach links ab. Das Tierheim ist als ein Ring aufgebaut. An der kurzen Seite zur Straße hin sind die Verwaltungsräumlichkeiten eingerichtet. Daneben die Umkleide, Duschen und die Abstellkammer. Der Rest des Rings ist mit Käfigen gefüllt. Die Katzen sind am anderen Ende.
Im Umkleideraum finde ich den Haufen mit gespendeten Klamotten, die regelmäßig gewaschen werden, suche mir etwas in meiner Größe und ziehe mich um. Dazu suche ich mir noch ein paar Handschuhe und binde meine Haare zu einem Zopf zusammen, damit sie mir beim Arbeiten nicht in die Augen fallen. Meinen Rucksack, den ich heute morgen als Tarnung mitgenommen habe, schließe ich zusammen mit meinen Klamotten in einen der verbeulten Spinde.
So ausgerüstet führt mein Weg mich in die Abstellkammer. Neben der Eingangstür greife ich mir eine der Schubkarren, die dort bereit stehen und laufe auf das Silo mit Katzenfutter zu. Aber es ist schon in Benutzung. Ein junger Mann ist bereits dabei, Futter in eine Schubkarre abzulassen. Das blecherne Klinken des Trockenfutters, das in die Schubkarre fällt, echot durch den gesamten Raum. Er trägt dunkelgrüne Gummistiefel und ellenbogenhohe Gummihandschuhe in der gleichen Farbe. Seine dunklen Haar sind in einer kleinen süßen Palme aus seinem Gesicht gebunden. Er ist dünn, groß und dreht sich um, als er meine Schritte hört. „Hi", begrüßt er mich, als ich vor ihm zum Stehen komme. „Du musst Flora sein? Ich bin Siri, ich soll dir bei den Katzen helfen."
„Siri?", frage ich belustigt und stelle meine Schubkarre vor mir ab. „Wie die Frauenstimme aus den Apple-Geräten?"
„Genau wie die, ja", stimmt er zu und dreht den Hahn des Silos zu. „Sirius hört sich an wie ein Himmelskörper, und die Dimensionen eines Planeten habe ich einfach nicht", witzelt er und entlockt mir damit ein kleines Lachen. „Oder wie ein Opa in seinen Achtzigern, von dem seine Eltern großes erwartet haben, der aber jetzt in Altersarmut lebt. Da nehm ich doch lieber die Handyfrau."
„Okay. Ich sehe, was du meinst."
„Und du heißt einfach Flora?", fragt er und nimmt mir meine Schubkarre ab. Damit fährt er zum nächsten Silo für das Streu. Mir bleibt nichts anderes übrig, als die volle Schubkarre zu nehmen und sie ihm hinterher zu schieben.
„Ja, ich klinge gerne wie der geblümte Stoff, mit dem jedes Möbelstück im Hause einer Frau in ihren Siebzigern überzogen ist", antworte ich keck.
Siri schiebt meine Schubkarre unter das Silo und öffnet den Hahn. Das Streu staubt ziemlich und ich muss husten.
„Also wenn ich die Wahl zwischen einem Stern und Blumen habe...", fängt er an, stockt aber. „Jetzt wo ich wirklich darüber nachdenke, würde ich mich für den Stern entscheiden."
Empört schaue ich ihn an. „Du findest wirklich Sirius besser als Flora?"
Er zuckt mit den Schultern, während er die sich langsam füllende Schubkarre beobachtet. „Es ist halt doch der Name, den ich jetzt seit meiner Geburt trage."
„Geht mir ja nicht anders."
Es herrscht Stille zwischen uns, nur das leise, staubige Schaben des Katzenstreus erklingt in der weiten Halle. Als die Schubkarre gut voll ist, dreht Sirius den Hahn zu und wir kutschieren unser Gut in den gegenüberliegenden Teil des Tierheims. Wir kommen vorbei an den Kleintierkäfigen, in denen Ratten, Meerschweinchen und Kaninchen vor sich hin mümmeln. Bei dem lauten Holpern unserer Schubkarren verbunden mit dem schweren Tritt Siris Gummistiefel verziehen sie sich schnell in ihren kleinen Holzhäusern oder Baumstämmen, die extra zu diesem Zweck in ihren Käfigen stehen.
Von einem der Käfige kräht es zu uns herunter: „Hallo! Hallo!"
Ich erschrecke mich tierisch bei dem plötzlichen Geräusch und beinahe wären mir die Griffe meiner Schubkarre aus den Händen geglitten.
Von oben kommt eine Farbenpracht aus blauen, grünen und gelben Federn zu uns herab: Ariel, die weibliche Ara-Dame, die das Maskottchen des Tierheims und Lilas persönliche Vertraute ist, lässt sich auf Siris Schulter nieder und knabbert ihm an den Haaren.
„Oh Ariel, hättest du dir nicht einen besseren Zeitpunkt für deine Anhalterpraktiken aussuchen können, als wenn ich gerade eine schwere Schubkarre vor mir herschiebe?", fragt Siri mit belustigtem Unterton, schiebt aber sein Gut ohne jede sichtbare Anstrengung weiter.
Ariel schnalzt beleidigt und ihre schwarze, ledrige Zunge kommt zum Vorschein. Ihr Blick wandert zu mir, woraufhin sie neugierig auf Siris Schulter näher in meine Richtung stakst und den Kopf schieflegt. „Hallo!"
„Hi Ariel", antworte ich freundlich und bin froh, dass sie bei Siri auf der Schulter sitzt. Ich kann aus Erfahrung sagen, dass sie schwer ist. Vor allen Dingen für eine vierzehn-Jährige ist sie riesig und teilweise ein wenig Angst einflößend. Die Angst, die ich damals für die große Vogel-Dame empfunden habe, hat sich in Respekt gewandelt. Großen Respekt. Respekt, der sie lieber aus drei Metern Entfernung anschaut statt sie anzufassen.
Als wir bei den Katzen ankommen, die sich beim Anblick von Ariel in die hinteren Ecken ihrer Käfige zurückziehen, stelle ich erleichtert die Schubkarre ab. Ich habe zu keuchen angefangen und meine Oberarme tun weh. Ich bin solche körperlichen Anstrengungen nicht gewohnt. Schulsport ist nichts dagegen.
Ein wenig neidisch beobachte ich Siri, dem das alles nichts auszumachen scheint. Sein Atem geht gleichmäßig und er wirkt kein bisschen verschwitzt. Er nimmt sich, bevor wir uns um die Katzen kümmern, kurz die Zeit, Ariel zu beschmusen, die sich richtig handzahm gibt.
„Sie lässt sich wirklich von dir streicheln?", frage ich überrascht und beobachte, wie er dem Vogel über das weich aussehende Halsgefieder streicht.
„Manchmal, wenn sie einen guten Tag hat, schon. Aber meistens schaut sie mich mit dem Arsch nicht an", antwortet er. „Nicht wahr, Ariel?"
Ariel krächzt leise aber zustimmend und schmiegt sich an seine Hand.
Siri scheint meinen faszinierten Blick zu bemerken. „Willst du sie auch mal streicheln?"
Schnell schüttele ich den Kopf. „Ich glaube nicht, dass sie mich lässt."
„Wir können sie ja mal fragen", schlägt Siri vor. Ich kann nicht den Hauch eines Scherzes in seiner Stimme hören. Und tatsächlich, als würde er mit einem Menschen sprechen, wendet er sich an Ariel: „Ist es okay, wenn Flora dich streichelt?"
Ariel krächzt wieder, zieht sich aber nicht zurück.
„Zeig ihr deine Hand", weist mich Siri an.
„Ich weiß nicht, ob ich das möchte", gebe ich zurück und schaue Ariel argwöhnisch an. Ihre dunklen klugen Augen schauen ebenso argwöhnisch zurück. ich schnippisch, tue aber wie mir geheißen und hebe meine Hand zu Ariel hoch, die noch immer auf Siris Schulter sitzt.
„Du brauchst keine Angst vor ihr zu haben", beruhigt Siri mich. „Sie beißt nur, wenn sie sich bedroht fühlt."
„Ich hab keine Angst, nur Respekt", antworte ich. Ariel legt den Kopf schief, als würde sie unserem Austausch belustigt zuhören.
„Na gut, wenn du nicht willst." Siri macht einen bedauernden Gesichtsausdruck und streichelt Ariel den Kopf. „Du bist einfach zu furchteinflößend, Ariel", sagt er zu Ariel, die sich gegen seine Hand drückt.
„Nicht furchteinflößend. Sie ist nur so groß und ..." Ich suche nach dem richtigen Wort, „einschüchternd."
„Dann wäre jetzt ein guter Zeitpunkt, um deinen Respekt", er betont das Wort besonders, als würde er mir nicht eine Sekunde lang glauben, dass ich keine Angst vor ihr habe, „vor ihr zu minimieren."
Ich schaue das erste Mal, seit Ariel auf seiner Schulter gelandet ist, Siri an. Sein Blick ist nicht herausfordernd oder herabschauend. Er lächelt aufmunternd.
Zögerlich strecke ich die Hand nach Ariel aus, meine Augen finden ihre. Dann fixiert sie meine Hand, macht aber keine Anstalten näher zu kommen. Abwartend sehe ich zu ihr. Ich habe den ersten Schritt gemacht, jetzt liegt es an ihr, ob sie zu mir kommt.
„Wenn sie Interesse an deiner Hand zeigt, kannst du versuchen, ihren Kopf zu berühren. Keinen anderen Bereich", mahnt Siri mich leise. „An den Flügeln oder sogar den Füßen, kann die Berührung sie so überraschen, dass sie sich bedroht fühlt und zubeißt."
„Beruhigende Aussichten." Mein Arm wird lahm, aber ich halte meine Hand trotzdem eisern ausgestreckt. Es ist eine Einladung. Und tatsächlich, nach einem langen abwägenden Moment, hüpft Ariel auf Siris Arm, meiner Hand damit näher und berührt sie vorsichtig mit dem Schnabel. Er ist schwarz, hart und kühl. Langsam lasse ich meine Hand zu ihrem Kopf gleiten. Die Federn sind noch viel weicher, als sie aussehen. „Weich."
Lange lässt Ariel meine Berührung aber nicht über sich ergehen. Energisch zieht sie ihren Kopf wieder weg, krächzt und schwingt sich nach oben. Ich zucke zusammen. Der Luftstoß lässt meine Haare flattern und löst die Palme, die Siri sich gebunden und die schon viel Schieflage hatte.
„Tschüss, Ariel", ruft er ihr hinterher und sie gibt ein krächzendes „Tschüss!" zurück.
„Wow", flüstere ich, merke, dass ich den Atem angehalten habe und stoße die Luft in meinen Lungen aus. „Das war Furcht einflößend."
Siri lächelt mich ehrlich an. „Ach komm, so schlimm war es doch gar nicht." Man sieht ihm an, dass der Vogel es ihm wirklich angetan hat.
„Nein, du hast recht", gebe ich zu. „Es war noch viel schlimmer."
Als wir anfangen, uns um die Katzen zu kümmern, merke ich schnell, dass nicht Ariel es Siri angetan hat – der Kerl ist von allen Tieren fasziniert. Er behandelt jede einzelne Katze mit einer derartigen Sorgfalt, wie ich es sonst nur von Müttern mit Babies kenne. Und er redet manchmal mit ihnen, wie mit einem Menschen. Wenn ihm eine Katze im Weg steht, bittet er sie höflich darum, dass sie ihm doch bitte Platz machen soll. Und zu meiner Überraschung funktioniert es meistens. Zugegebenermaßen nicht immer, schließlich redet er immer noch mit Katzen. Wenn man sie darum bittet, die Tasse, die sie gerade gefährlich nah an der Tischkante balancieren, nicht in den sicheren Tod zu stürzen, tun sie es gerade deswegen. Aber er erreicht schon mehr, als ich es je erwartet habe.
„Wie hast du es geschafft, dass Ariel so zutraulich mit dir ist?", frage ich, während ich verdrecktes Katzenstreu schippe. Es ist eine Frage, die mir jetzt schon seit ich Ariel gestreichelt habe, unter den Nägeln brennt. Denn normalerweise kenne ich die Ara-Dame nur von unten. Die einzige Person, von der sie sich sonst berühren lässt, ist Lila.
„Nenn mich den Papageienflüsterer", antwortet Sirius, der aus dem anderen Katzenklo des Großraumkäfigs Schätze aushebt. „Es dauert seine Zeit. Meistens kommen die Tiere, wenn es für sie in Ordnung ist, zu dir. Bis dahin heißt es Geduld und dich nicht aufdrängen."
„Geduld ist nicht eine meiner großen Stärken", gebe ich zu, beäuge den Boden des Katzenklos und befinde ihn für von Scheiße befreit. Meine Finger sind rot vom rauen Holz der Schaufel und schmerzen, als ich den Abfallsack mit Katzenkacke zuknote.
„Das kann man lernen", meint Siri und hebt sowohl meinen als auch seinen befüllten Katzenkackesack in eine leere Schubkarre im Flur vor den Großraumkäfig.
„Wie?", frage ich, nicht sonderlich überzeugt. „Ich meine, man kann viele Verhaltensweisen lernen, aber Geduld?"
„Warte kurz", gibt Siri zurück, nimmt die Schubkarre in die Hand und verschwindet in Richtung der Mülltonnen.
„Na toll", brumme ich und laufe ihm hinterher aus dem Käfig heraus. Die Katzen haben wir für den Moment in den danebenliegenden Käfig gelassen. In einem der Einzelkäfige sitzt Ditto. Der alte Kater ist mittlerweile mehr grau als schwarz und auf beiden Augen fast blind. Ich kenne ihn noch von früher, da habe ich oft mit ihm geschmust.
Vorsichtig öffne ich die Käfigtür, damit der alte Bursche sich nicht erschreckt. „Hallo Ditto", flüstere ich leise und nähere meine Finger seinem Näschen.
Er schnüffelt an ihr und reibt sich nach kurzem Zögern an meiner Hand. Er erinnert sich an mich. Mir wird warm ums Herz. „Na, du alter Rabauke", begrüße ich ihn diesmal liebevoller und streiche langsam über sein kratziges Fell. Es ist verfilzt und er stinkt, weil er sich nicht mehr selbst putzen kann. „Dich machen wir direkt nach deinem Käfig wieder sauber", verspreche ich ihm und kraule ihn hinterm Ohr. Ein tiefes Summen lässt den Kater vibrieren, als er bei der Berührung zu schnurren anfängt. „Vielleicht kann ich meinen Vater davon überzeugen, dich zu adoptieren, jetzt wo Mama sich nicht mehr einmischen wird", teile ich dem alten Kater überlegend mit.
„Willst du Ditto adoptieren, Flora?", fragt Siri überrascht, der mit quietschender Schubkarre den Flur entlang kommt.
„Eigentlich schon länger", antworte ich, streiche Ditto zum Abschied über den Kopf und schließe die Käfigtür wieder. „Aber du wolltest mir erklären, wie man Geduld lernen kann."
„Herzlichen Glückwunsch", eröffnet Siri mir, „du bist jetzt ein Stück geduldiger als zuvor."
Unbeeindruckt schaue ich ihn an. „Wow. Ich hätte jetzt mit ein paar mehr Tipps gerechnet als nur ‚Langweile dich mit voller Absicht zu Tode'."
„Ahh, aber gerade da liegst du falsch, mein junger Padawan", antwortet Siri und zieht die Streu Schubkarre in den Großraumkäfig. „Langeweile ist kein Todesurteil. Vielmehr gibt sie deinem Kopf die Zeit, sich mit dem zu beschäftigen, das ihm wirklich nahe geht."
Ich schüttele den Kopf ob so viel warmer Luft. „An dir ist wirklich ein Philosoph verloren gegangen, weißt du das?"
„Danke, danke." Siri verbeugt sich vor dem leeren Großraumkäfig, als wäre er ein bis zum Rand gefülltes Theater und er der Performer auf der Bühne. „Als Philosoph ist ein so wohlklingender Name wie Sirius dann aber wieder von Vorteil."
Ich nicke bedeutsam. „Das stimmt."
Wir schaufeln das Katzenstreu in die Katzenklos und füllen die zwei Futternäpfe mit Trockenfutter. Die Stille ist nicht so schlimm, wie ich sie sonst empfinden würde, und ich merke, dass ich tatsächlich Interesse an Siri habe. Er wirkt wie ein alles in allem sehr korrekter Typ, und ich würde gerne mehr über ihn erfahren. „Wie bist du eigentlich hier gelandet?", frage ich deshalb, während wir die Katzen in ihre ursprüngliche Heimat zurücksetzen.
„Na ja, heute Morgen bin ich aufgestanden", beginnt Siri ernst, „und dann bin ich in den Bus gestiegen, weil es geregnet hat, eine Station weit gefahren und ich war da."
„Haha", äffe ich ein Lachen nach. „Ich meinte jetzt eigentlich hier, ins Tierheim. Was hat dich hergeführt?"
Er hebt eine kleine braun gescheckte Kätzin hoch, gibt ihr einen Stups auf die Nase und trägt sie in den jetzt sauberen Käfig. Ich folge ihm mit einem alten schwarzen Kater auf dem Arm, der nicht Ditto ist. Der sitz in seinem Einzelkäfig. „Ich hab einen Perspektivenwechsel gebraucht."
Bevor ich nachhaken kann, setzt er die Kätzin auf das neue Katzenstreu, das den Käfig auskleidet, und fragt mich: „Und du?"
Auch ich setze den Kater ab und folge ihm zurück in den anderen Käfig. Diesmal nimmt er sogar zwei Katzen auf den Arm. „Wir hatten Merlin von hier." Der Gedanke an den hübschen rot getigerten Kater lässt ihn mich vermissen. Er war nicht sonderlich verschmust und konnte sicher mit einer siebenjährigen Flora nicht viel anfangen, außer vor mir wegrennen, wenn ich ihn versuchte auf den Arm zu nehmen, aber über die Jahre haben wir uns angefreundet, er und ich. Als er vor drei Jahren starb, war das ein ziemlich herber Schlag für mich.
„Wer ist Merlin?", fragt Siri unschuldig und ich erzähle es ihm.
„Deswegend deine Liebe zu Ditto?"
„Nein, Ditto ist einfach ein liebenswerter alter Mann, der keiner Fliege etwas zu leide tun könnte und es verdient, seinen Lebensabend bei einer Familie zu verbringen, umgeben von Menschen, die ihn schätzen statt hier in diesem schrecklichen Käfig zu sterben." In meiner Kehle bildet sich ein Kloß, bei dem Gedanken an all die Tiere, die einsam und allein in Tierheimen sterben. „Ich will nicht, dass er so endet."
Siri sieht mich einen langen Moment an, mit einem besonderen Respekt, der davor nicht in seinen Blicken lag. „Das ist ein sehr nobler Grund", sagt er schließlich.
Ich zucke mit den Schultern und schlucke den Kloß herunter. „Na ja, es zu sagen und es tatsächlich zu machen sind doch zwei sehr unterschiedliche Dinge."
„Der Wille ist immer der erste Schritt, darauf erst können Taten folgen." Er lächelt sachte.
„Fang deinen innereren Philosophen wieder ein", scherze ich.
„Aber ich meine es ernst", sagt er ruhig, und schaut mich dabei intensiv an. „Was hält dich ab?"
„Meine Eltern", antworte ich, besinne mich aber. „Na ja, eher meine Mutter. Mein Vater wäre wahrscheinlich sofort dabei."
„Dann ist es ja leicht", stellt Siri fest. „Du überzeugst deinen Vater und dann mit ihm deine Mutter."
Die Wärme um mein Herz, die ich beim Schmusen mit Ditto verspürt habe, ist lange verflogen. Stattdessen legt sich jetzt ein kalter Ring um mein Herz. „Nein, muss ich nicht. Meine Eltern..." Ich scheue mich davor, es zu sagen. Wenn ich es ausspreche, fühlt es sich real an. Als würde ich es mit meinen Worten heraufbeschwören.
Fragend sieht Siri mich an, drängt mich aber nicht. Wir stehen auf dem Flur des Tierheims und ich komme den Tränen mit jedem Moment näher. „Nein, ist nicht so wichtig", sage ich erstickt und will in den Großraumkäfig voller Katzen laufen, um weitere umzuplatzieren.
Siri stellt sich mir in den Weg. „Hey, was ist los?", fragt er besorgt und versucht, mir ins Gesicht zu sehen.
Ich wende meinen Blick ab und schlucke, in der Hoffnung, dass er das verräterische Schimmern meiner Augen nicht sehen kann. „Nichts."
„Sind sie gestorben?", hakt Siri nach.
Ich schüttele den Kopf. „So schlimm ist es nicht."
Nach einem Moment sagt Siri das Wort, das ich so unbedingt nicht hören will. „Lassen sie sich scheiden?"
Ich schniefe. Der Damm ist gebrochen. Weinend nicke ich. Noch laufen mir nur die Tränen herunter. So ist es immer, wenn ich weine. Zuerst kommen die Tränen und sobald ich Atem hole, kommt das Schluchzen.
Siri nimmt mich bei der Schulter und zieht mich an sich. Meine Wange saugt sich feucht an seine Plastikschürze. Langsam streicht er mir über den Rücken.
Ich stehe da und weine, heule. Das Geräusch wird durch seine Umarmung nur wenig gedämpft.
Wir müssen eine ganze Weile so da stehen, während der ich versuche, alle schmerzhaften Gedanken aus meinem Kopf zu weinen. Ich wünschte, sie würden von der Flut an Rotze und Tränen einfach aus meinem Kopf herausgespült werden. Dann müsste ich mich nie wieder mit ihnen beschäftigen. Erst als mein Kopf beginnt zu pochen und mir Rotze über die Lippe läuft, löse ich mich aus Siris Umarmung. „Hast du ein Taschentuch?", frage ich mit unsicherer Stimme. Er nickt und reicht mir ein zerknülltes Ding. Es ist mir egal. Schnell wische ich mir übers Gesicht und schnäuze mich.
„Besser?", fragt Siri.
Ich lausche in mich. Ja, mir geht es tatsächlich ein bisschen besser. Der Gedanke, dass meine Eltern sich scheiden lassen, macht mir noch immer Angst, aber ich kann ihn denken, ohne dass sich mein Hals zuschnürt. Ich nicke sachte, und schenke ihm ein kleines Lächeln. „Danke. Und entschuldige, dass du mich so sehen musstest."
„Warum entschuldigst du dich? Das ist doch nichts, wofür du dich entschuldigen müsstest. Das ist so, wie wenn ich mich jetzt bei dir entschuldige, weil ich gute Laune habe, obwohl du mir gerade so etwas trauriges erzählt hast."
Ich nicke langsam. „Dann einfach nur danke."
„Siehst du, schon besser. Bitte, Flora." Er lächelt zurück.
Für einen kurzen Moment steigt der Gedanken in mir hoch, dass ich gerade einen Fremden angerotzt habe. Ich werde rot. „Katzen?"
Siri nickt. „Katzen."
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